www.wikidata.de-de.nina.az
Georg Gerhard Wendt bzw Gerhard Wendt 10 April 1921 in Rostock 22 Oktober 1987 in Marburg war ein deutscher Humangenetiker und Eugeniker Er initiierte die Einrichtung von genetischen Beratungsstellen in der Bundesrepublik Deutschland Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Begrunder der genetischen Beratung in Deutschland 3 Reformeugeniker 4 Veroffentlichungen 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseLeben BearbeitenGerhard Wendt besuchte die Grosse Stadtschule Rostock und studierte ab 1940 Medizin an den Universitaten Rostock 1 Wurzburg Berlin und Prag Wahrend des Zweiten Weltkriegs war er Sanitatsoffizier der Luftwaffe Kurz vor Kriegsende absolvierte er Staatsexamen und Promotionsverfahren an der Deutschen Universitat in Prag bei dem Gerichtsmediziner und SS Obersturmfuhrer Gunther Weyrich 2 Anschliessend arbeitete Wendt zunachst einige Zeit in den v Bodelschwinghschen Anstalten Bethel und ein Jahr am Gerichtsmedizinischen Institut von Munster bei Albert Ponsold 1948 erhielt er eine Assistentenstelle in Marburg wo er sich 1952 als Anatom habilitierte und Privatdozent wurde Er hatte 1951 gemeinsam mit Willi Zell eine Untersuchung von 474 Schizophrenen aus Bethel und 500 erwachsenen rassisch ahnlichen Vergleichspersonen vorgelegt mit der er die Behauptung widerlegte die Gruppe der Schizophrenen sei auf Grund ihrer Papillarleistenmuster von der Gruppe der Gesunden zu unterscheiden Wahrend verschiedener Gastaufenthalte bei dem Vererbungswissenschaftler Hans Nachtsheim in Berlin und Tage Kemp in Kopenhagen orientierte er sich von der Anthropologie zur Humangenetik und erhielt 1957 die Venia legendi fur dieses Fach 1959 erhielt Wendt einen Ruf als Professor an die Philipps Universitat Marburg wo er 1963 Ordinarius und Direktor eines neu eingerichteten Instituts fur Humangenetik wurde 1965 wurde Wendt Schriftfuhrer im Marburger Universitatsbund Er entwickelte Mitte der 1970er Jahre eine zweijahrige arztliche Fortbildung zur Medizinischen Genetik und wurde Ende der 1970er Jahre Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesarztekammer Begrunder der genetischen Beratung in Deutschland Bearbeiten1969 organisierte und leitete Wendt ein wegweisendes Symposium im Rahmen des Forum Philippinum unter dem Motto Genetik und Gesellschaft bei dem es um die Erbgesundheit und Leistungsfahigkeit kunftiger Generationen ging Auf diesem Symposion wurde die genetische Beratung neu legitimiert indem das Wohl der Familie betont und die genetische Beratung der praventiven Medizin zugeordnet wurde Gerade Wendt betonte aber auch den Wert der Beratung fur die Gesamtbevolkerung Gemeinsam mit Peter Emil Becker und Hans Wilhelm Jurgens entwickelte er ein Forschungsprogramm zur Sozialgenetik das den Ausbau der humangenetischen Beratungs und Untersuchungsstellen forderte als auch die Legalisierung von Sterilisationen aus eugenischer Indikation 3 Auf dieser Tagung wurde zugleich das Modell der genetischen Beratungsstelle vorgestellt 4 Wendt gilt als geistiger Vater der genetischen Beratung die in der ersten Halfte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ausgebaut wurde 5 6 Er selbst eroffnete am 10 August 1972 als Leiter die erste Genetische Beratungsstelle der Bundesrepublik Deutschland in Marburg Diese Beratungsstelle war zunachst als zweijahriger Modellversuch vorgesehen und wurde vom Bundesministerium fur Gesundheit und der Volkswagen Stiftung finanziert Die Beratungsstelle sollte in Zusammenarbeit mit den Kassenarzten einen grosseren Bevolkerungskreis systematisch in Fragen der Erbkrankheiten beraten Zielgruppe waren Eltern in deren Familien schon einmal Erbkrankheiten beobachtet wurden Vor dem Hintergrund statistischer Untersuchungen die bei Frauen im Alter zwischen 40 und 44 Jahren eine erhohte Wahrscheinlichkeit feststellten ein Kind mit Down Syndrom zu gebaren wandte sich die Beratungsstelle auch an Frauen um die 40 mit Kinderwunsch Wendt liess eine Aufklarungsbroschure an 3500 hessische praktische Arzte versenden damit diese Patienten zur kostenlosen Beratung nach Marburg schickten 7 Zudem wurden mehr als hunderttausend Exemplare eines Beratungsfaltblatts verteilt Uber die Wirkung der Offentlichkeitsarbeit wurde eine Studie durchgefuhrt die 1975 mit dem Hufeland Preis fur die beste wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Praventivmedizin ausgezeichnet wurde 8 Mit dem Auslaufen der Modellphase wahrend der 2 173 Familien beraten wurden 9 beschlossen das Marburger Universitatsklinikum und die Medizinische Fakultat Ende 1974 die genetische Beratungsstelle als genetische Poliklinik in das Klinikum zu ubernehmen Mit dem Marburger Modell wurde ein niedrigschwelliges Angebot geschaffen das die Beratung einer grossen Zahl an Patienten ermoglichte 1977 existierten in der Bundesrepublik Deutschland bereits 41 solcher Beratungsstellen die aber nicht alle Wendts Modell folgten 4 Reformeugeniker BearbeitenWie auch Widukind Lenz sah Wendt Schwierigkeiten in der Praxis bei Antragen auf Sterilisation zwischen sozialer und genetischer Indikation zu unterscheiden Fur ein typisches Beispiel hielt er ein leicht schwachsinniges 17jahriges Madchen aus einer asozialen Familie das sexuell triebhaft und haltlos bereits ein uneheliches Kind hat In manchen derartigen Fallen stellt sich dann drangend die Frage ob nicht aus sozialer oder aus gemischt genetisch sozialer Indikation sterilisiert werden sollte 10 Wendt forderte deshalb 1974 die genetische Beratung allen Familien zuganglich zu machen Denn die genetische Situation der Gegenwart sei durch die Ausschaltung der naturlichen Auslese und die Erhohung der Mutationsrate gekennzeichnet Deshalb sollte es bei der genetischen Beratung nicht nur um Erbkrankheiten gehen sondern es sollte auch an diejenigen herangetreten werden die mit ihrer korperlichen oder geistigen Leistungsfahigkeit an der unteren Grenze der Norm lagen also auch sozial schlecht angepasste oder asoziale Grossfamilien 11 Wenn nicht sofort ausreichend Beratungsstellen eingerichtet wurden so Wendt 1975 dann konnten diejenigen letztlich Recht behalten die wie Hans Nachtsheim meinen ein Zwang zur Erbgesundheit musse in wenigen Generationen genauso selbstverstandlich sein wie heute der Impfzwang 12 Zwischen 1974 und 1979 amtierte Wendt als Vorsitzender der Stiftung fur das behinderte Kind nachmalig die Stiftung fur das behinderte Kind zur Forderung von Vorsorge und Fruherkennung In dieser Funktion bemerkte er Das Dilemma der Behindertenhilfe besteht hauptsachlich darin dass eine bessere Behandlung und Betreuung der Behinderten die Lebenserwartung dieser Mitmenschen erhoht und so die Zahl der Behinderten ansteigen lasst 13 Er formulierte Wir verhalten uns wie ein Mensch der sich verzweifelt bemuht das Wasser aus seiner Wohnung zu schopfen der aber nicht daran denkt den defekten Wasserhahn zu verstopfen Das Ziel der Stiftung sei es den Zustrom an Behinderten zu verringern 14 Gerade am Marburger Institut wurde stets der Kosten Nutzen Aspekt der genetischen Beratung betont Wendt betreute etwa die Dissertation Probleme der Erfolgskontrolle praventivmedizinischer Programme dargestellt am Beispiel einer Effektivitats und Effizienzanalyse genetischer Beratung von Hans Heinrich von Stackelberg 1980 Darin stellte Stackelberg eine Kosten Nutzen Rechnung auf die davon ausging dass behinderte Menschen nicht nur in offentlichen Einrichtungen sondern auch innerhalb der Familie Kapital binden wurden Stackelberg kam zu dem Schluss dass die humangenetische Beratung als Investition in produktives Humanvermogen Kosten im Verhaltnis 1 51 einspare Bei der Gegenuberstellung der Kosten der genetischen Beratung und der Kosten die jedes behinderte Kind verursache kam er auf einen Nutzenuberschuss in Hohe von 3 9 Millionen DM fur jedes auf Grund der Beratung nicht geborene behinderte Kind Seine Arbeit wurde 1981 mit dem Gesundheitsokonomiepreis der Bundesministerin fur Arbeit und Sozialordnung ausgezeichnet 15 Wendts propagandistischer Ansatz gilt als in der westdeutschen Humangenetik als singular gleichwohl war Wendt in seiner Wissenschaftsdisziplin nicht isoliert Fachkollegen lobten im Gegenteil Wendts Verdienste um den Aufbau der genetischen Beratung so dass seine Positionen wahrend der 1970er Jahre unumstritten waren In den 1980er Jahren nahm die Kritik jedoch rapide zu 16 Kritiker warfen Wendt und anderen Befurwortern der genetischen Beratung vor die nationalsozialistische Rassenhygiene weiterzufuhren Ernst Klee etwa rechnete Wendt zur Nachwuchsgeneration der Rassenhygieniker 17 Andere ordnen Wendt der Reformeugenik zu 11 Innerhalb der genetischen Beratung wurde Wendts Praventionsparadigma allmahlich durch ein nichtdirektives Beratungsmodell abgelost und sein Konzept als unzeitgemass abgelehnt 16 Die von ihm entworfenen institutionellen Strukturen wurden gleichwohl ausgebaut und weiterentwickelt Veroffentlichungen Bearbeitenmit W Zell Schizophrenie und Fingerleistenmuster In Archiv fur Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 186 1951 S 456 463 mit Helmut Baitsch Hrsg Genetik und Gesellschaft Marburger Forum Philippinum Wiss Verlags Ges Stuttgart 1970 mit Dorothea Drohm Die Huntingtonsche Chorea Eine populationsgenetische Studie In P E Ecker u a Hrsg Fortschritte der allgemeinen und klinischen Humangenetik Band 4 Thieme Stuttgart 1972 ISBN 3 13 224401 5 Vererbung und Erbkrankheiten Ihre gesellschaftliche Bedeutung Herder amp Herder Frankfurt 1974 ISBN 3 585 32108 9 mit Ursel Theile Humangenetik und genetische Beratung Einfuhrung fur das klinische Studium In Klinik der Gegenwart Band 11 S 283 356 Studienausg des Beitr Humangenetik und prophylaktische Medizin 1974 mit Peter E Becker Hrsg Erbkrankheiten Risiko und Verhutung Bericht uber d Tagung am 17 u 18 Febr 1975 in Marburg a d Lahn Veranstalter Inst f Humangenetik d Univ Marburg Lahn Dt Grunes Kreuz Marburg Lahn Akad f Arztl Fortbildungen d Landesarztekammer Hessen Medizinische Verlagsgesellschaft Marburg 1975 mit Ursel Theile Hrsg Genetische Beratung fur die Praxis 70 Erbkrankheiten Klinik Haufigkeit Genetik Beratung Bearb von Heiner Cramer Fischer Stuttgart 1975 ISBN 3 437 00163 9 mit Peter E Becker Hrsg Genetische geburtshilfliche und padiatrische Pravention Vortrage im Rahmen d 1 Fortbildungsveranst d Stiftung fur d Behinderte Kind zur Forderung von Vorsorge u Fruherkennung Medizinische Verlagsgesellschaft Marburg Lahn 1977 als Hrsg Praxis der Vorsorge Ein Leitfaden der Stiftung fur das Behinderte Kind zur Forderung von Fruherkennung und Vorsorge Medizinische Verlagsgesellschaft Marburg 1984 ISBN 3 921320 05 4 Literatur BearbeitenUdo Sierck Nati Radtke Die WohlTATER Mafia Vom Erbgesundheitsgericht zur humangenetischen Beratung 4 Auflage Mabuse Verlag Giessen 1988 ISBN 3 925499 30 X Anne Waldschmidt Das Subjekt in der Humangenetik Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945 1990 Dampfboot Munster 1996 ISBN 3 929586 80 0 Ernst Klee Deutsche Medizin im Dritten Reich Karrieren vor und nach 1945 S Fischer Frankfurt am Main 2001 ISBN 3 10 039310 4 S 271 274 Weblinks BearbeitenLiteratur von und uber Georg Gerhard Wendt im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek WDR ZeitZeichen 10 August 2017 Erste genetische Beratungsstelle eroffnet am 10 08 1972 Audio Wendt Georg Gerhard Hessische Biografie Stand 30 Juli 2020 In Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen LAGIS Einzelnachweise Bearbeiten Siehe dazu den Eintrag der Immatrikulation von Gerhard Wendt im Rostocker Matrikelportal Ernst Klee Deutsche Medizin im Dritten Reich Karrieren vor und nach 1945 2001 S 272 Benoit Massin Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte In Christian Saller Heidrun Kaupen Haas Hrsg Wissenschaftlicher Rassismus Analysen einer Kontinuitat in den Human Naturwissenschaften Campus Verlag Frankfurt am Main 1999 S 46 a b Daphne Hahn Modernisierung und Biopolitik Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945 Campus Verlag Frankfurt New York 2000 S 163 Waldschmidt Subjekt S 149 https www br de nachrichten bayern als behinderte zum kostenfaktor wurden RV0wSTI Tabu Gesprochen In Der Spiegel 34 1972 14 August 1972 Daphne Hahn Modernisierung und Biopolitik Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945 Campus Verlag Frankfurt New York 2000 S 167 f Vgl Theo Lobsack Genetische Beratung Vorbildlicher Versuch in Marburg In Die Zeit 7 Marz 1975 Genetik und Gesellschaft Stuttgart 1970 S 137f a b Jurgen Reyer Eugenik und Padagogik Erziehungswissenschaft in einer eugenisierten Gesellschaft Juventa Weinheim 2003 S 180f Zit nach Jennifer Hartog Das genetische Beratungsgesprach Institutionalisierte Kommunikation zwischen Experten und Nicht Experten Gunter Narr Verlag Tubingen 1996 S 18 Ernst Klee Deutsche Medizin im Dritten Reich Karrieren vor und nach 1945 S Fischer Frankfurt am Main 2001 S 274 Zit nach Walburga Freitag Contergan Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen Waxmann Munster 2005 ISBN 3 8309 1503 9 S 115 Peter Weingart Jurgen Kroll Kurt Bayertz Rasse Blut und Gene Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland Suhrkamp Frankfurt am Main 1988 S 676 a b Anne Waldschmidt Das Subjekt in der Humangenetik Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945 1990 Dampfboot Munster 1996 S 154 156 Ernst Klee Deutsche Medizin im Dritten Reich Karrieren vor und nach 1945 S Fischer Frankfurt am Main 2001 S 272 Normdaten Person GND 135733138 lobid OGND AKS LCCN n50004961 VIAF 277860034 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Wendt Georg GerhardALTERNATIVNAMEN Wendt Gerhard Wendt Gerhard G KURZBESCHREIBUNG deutscher HumangenetikerGEBURTSDATUM 10 April 1921GEBURTSORT RostockSTERBEDATUM 22 Oktober 1987STERBEORT Marburg Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Georg Gerhard Wendt amp oldid 229225183