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Die geographische Risikoforschung analysiert Effekte von antizipierten Gefahrdungen im Schnittfeld von Gesellschaft und Umwelt Sie ist damit dem interdisziplinaren Bereich der Geographie zuzurechnen der Mensch Umwelt Beziehungen zum Gegenstand hat Im Begriff des Risikos findet der Forschungsansatz Ausdruck dass Gefahrdungen nicht isoliert von gesellschaftlichen Prozessen betrachtet werden konnen Er steht somit fur den Versuch einer integrierten Betrachtung von externer Gefahrdung Hazard einerseits und gesellschaftlicher Verwundbarkeit Vulnerabilitat bzw Widerstandsfahigkeit Resilienz andererseits die daruber hinaus die gesellschaftlich bedingte Ermoglichung und Herstellung von Gefahrdung berucksichtigt Die Forschung verfolgt zwei unterschiedliche Zielsetzungen Bei einem Teil der geographischen Risikoforschung geht es darum objektive Risikofaktoren in der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt zu bestimmen Ein anderer Teil untersucht in Anlehnung an die konstruktivistischen Sozialwissenschaften welche gesellschaftlichen Effekte mit der Zuschreibung Risiko verbunden sind Spezifische Merkmale der geographischen Risikoforschung ist das Augenmerk fur die Verraumlichung von Risiken und der hohe interdisziplinare und integrale Anspruch als Vermittler zwischen verschiedenen Risikokonzeptionen Inhaltsverzeichnis 1 Forschungsgegenstand 2 Disziplingeschichte 2 1 International 2 2 Deutschsprachiger Raum 3 Forschungsansatze 3 1 Objektivistischer Ansatz 3 2 Konstruktivistischer Ansatz 3 3 Integrierte Ansatze 4 Methoden und Anwendung 5 Probleme der geographischen Risikoforschung 6 Siehe auch 7 Einzelnachweise 8 Quellen 9 Weiterfuhrende Literatur 10 WeblinksForschungsgegenstand BearbeitenDer Begriff Risiko als zentraler Gegenstand einer Unterdisziplin der Geographie fand in englischsprachigen Veroffentlichungen erst etwa seit Anfang der 1990er Jahre zunehmend Verwendung im deutschen Sprachraum noch spater 1 Damit trat Risiko in Konkurrenz zum bereits Jahrzehnte zuvor aufkommenden Forschungsgegenstand Hazard Diese Verschiebung reflektiert die von Ulrich Beck ausgeloste auch offentlich gefuhrte Diskussion um die Risikogesellschaft 2 Unter Hazard wird gemass der Hazardforschung eine Interaktion zwischen dem System Umwelt und dem System Mensch Gesellschaft verstanden die sich zum subjektiv wahrgenommenen Nachteil des gesellschaftlichen Systems auswirkt und bei der fur beide Systeme ein Einfluss durch den Menschen moglich ist 3 Der Begriff umfasst sowohl den Zustand einer Gefahrdung als auch die Wahrscheinlichkeit mit der ein Schaden verursachendes Ereignis eintritt 4 Er ist damit bereits wesentlich umfassender als etwa der der Katastrophe teilt mit diesem aber die Unbestimmtheit nach dem genauen Zusammenhang zwischen den beiden Systemen Erst die Vulnerabilitat einer Gesellschaft gegenuber einem Hazard bestimmt die Wahrscheinlichkeit und die Hohe eines moglichen Schadens und macht aus dem Hazard ein Risiko 5 Die in diesem schematischen Modell verwendete Auffassung von Vulnerabilitat als passives Ausgesetztsein Exposure Modell gegenuber einer Gefahr wird etwa im Pressure and Release Modell von Piers Blaikie et al 6 und im Hazards of Place Modell von Susan L Cutter 7 erweitert indem Vulnerabilitat jeweils als mehrstufige Entwicklung statt als Zustand aufgefasst wird In diesem Zusammenhang ebenfalls bedeutsam ist der Livelihood Ansatz in dessen Mittelpunkt die Sicherung der Existenzgrundlagen einer Gesellschaft und so deren Fahigkeit zur Resilienz gegenuber Gefahrdungen steht 8 In der Forschungspraxis befasst sich die Hazard bzw Risikoforschung vor allem mit dem Umgang mit abiotischen Naturkatastrophen wie Erdbeben Bergsturzen und Flutkatastrophen Plotzlich auftretende Epidemien technisch bedingte Katastrophen sowie die Folgen gesellschaftlicher Konflikte Kriege Terrorismus rucken jedoch zunehmend ins Blickfeld des Fachs Keith Smith fasst diese Gefahrdungen unter dem Begriff environmental hazard zusammen 9 Disziplingeschichte BearbeitenInternational Bearbeiten Als Begrunder der geographischen Hazardforschung gilt Gilbert F White 10 In seiner 1945 veroffentlichten Dissertation Human Adjustment to Floods 11 stellte er fest dass nach der Errichtung von Dammen am Mississippi die Schadenssummen durch Fluten immer weiter anstiegen da gleichzeitig vormals als Uberflutungsgebiete ausgewiesene Gebiete besiedelt worden waren In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich die Hazardforschung zur wohl bedeutendsten Disziplin an der Schnittstelle von physischer Geographie und Humangeographie die sich in dieser Zeit in ihren Forschungsbereichen ansonsten voneinander fort bewegten Ihren humanokologisch gepragten Ansatz 12 legten Ian Burton Robert W Kates und White schliesslich 1978 in The environment as hazard 13 systematisch dar Die dem zugrunde liegende Ansicht die bei Naturkatastrophen auftretenden Schaden seien das Resultat fehlerhafter Anpassung des Menschen an die Natur wurde jedoch spatestens in den 1980er Jahren als gesellschaftspolitisch naiv und damit unzureichend kritisiert 14 Die politokologische Perspektive vertreten von u a Piers Blaikie Harold Brookfield und Michael J Watts legte daher den Forschungsschwerpunkt auf die weiteren politischen und okonomischen Umstande die etwa zur Entwicklung von landwirtschaftlichen Monokulturen und in der Folge von Hungersnoten wahrend Durrezeiten beitragen Von einigen Ausnahmen wie den Werken von Susan L Cutter abgesehen blieben jedoch Fragen nach Umweltgerechtigkeit und Umweltrassismus die sich aus der raumlichen Segregation von Bevolkerungsgruppen ergeben weitgehend unbeachtet 15 Angesichts des zu dieser Zeit allgemein wachsenden Bewusstseins fur Naturkatastrophen erklarten die Vereinten Nationen die 1990er Jahre zur Dekade zur Reduzierung von Naturkatastrophen In den folgenden Jahren erschienen neben einer Neuauflage von The environment as hazard zahlreiche weitere wichtige Publikationen in denen versucht wurde der komplexen geographischen Verflechtung von Mensch und Umwelt verstarkt Rechnung zu tragen 16 Zudem ruckten Stadte starker in den Fokus der geographischen Risikoforschung 17 Deutschsprachiger Raum Bearbeiten Im deutschen Sprachraum wo grossere Naturkatastrophen selten sind wurde der Hazard bzw Risikoforschung vergleichsweise geringes Forschungsinteresse gewidmet In der Humangeographie bildeten die Werke von Robert Geipel 18 und einigen anderen Vertretern der humanokologisch ausgerichteten Munchner Schule der Sozialgeographie lange eine Ausnahme 19 Hans Georg Bohle der auch international zu den Hauptbegrundern des Vulnerabilitatsansatzes zahlte brachte Perspektiven der geographischen Entwicklungsforschung in die deutschsprachige Risikoforschung ein Forschungsansatze BearbeitenObjektivistischer Ansatz Bearbeiten Der naturwissenschaftlich objektivistische Ansatz wird vor allem in der physischen Geographie bei der Auseinandersetzung mit Risiken angewandt Es wird dabei davon ausgegangen dass objektive Sachverhalte der Natur berechenbar sind und somit technisch kontrollierbar werden konnen Der Mensch wird aus dieser Sichtweise nur so weit berucksichtigt als dass der an ihm geschehene Effekt als Schaden betrachtet wird Dieser theoretischen Grundhaltung liegen auch verwandte Risikoforschungsdisziplinen wie die ingenieurswissenschaftlich und die wirtschaftswissenschaftliche Risikoforschung v a der Versicherungswirtschaft zu Grunde Aus geographischer Sichtweise ist vor allem die Moglichkeit der geographischen Verortung von Risiken innerhalb dieses Ansatzes von Bedeutung Konstruktivistischer Ansatz Bearbeiten Der sozialwissenschaftlich konstruktivistische Ansatz wird insbesondere in der Humangeographie fur die Risikoforschung angewendet Dabei wird das Risiko als von Menschen konstruiertes Phanomen erforscht Wichtigste Mechanismen der Risikokonstruktion sind das Handeln Bewerten und Wahrnehmen der Akteure Somit geht die Perspektive davon aus dass der Mensch eher Risiken eingeht als dass er ihnen ausgesetzt ist Daraus ergibt sich dass fur das Bestehen eines Risikos allein der Mensch verantwortlich ist Das Interesse dieses Ansatzes gilt also hauptsachlichen den Akteuren der Risikokonstruktion Integrierte Ansatze Bearbeiten Trotz der beiden gegensatzlichen Ansatze wird innerhalb der geographischen Risikoforschung auch nach integrativen Forschungsansatzen gesucht Dies entsteht vor allem aus der Uberzeugung dass die anderen beiden epistemologischen Grundpositionen komplementar sind und nur durch deren Integration eine holistische Umsetzung der Forschungskenntnisse moglich ist Das gelingt etwa dadurch dass Risiken zwar als sozial konstruiert gelten Gefahren aber der Natur zugeschrieben werden Methoden und Anwendung BearbeitenDie fachspezifischste Methode der geographischen Risikoforschung ist die Kartierung von Risiken Es wird unterschieden zwischen Gefahren Risiko und Vulnerabilitatskarten Anwendungsbeispiele fur diese Methode sind das Alpine Risikomanagement und die Raumplanung Hierbei werden nicht nur Risikofaktoren berucksichtigt sondern auch anthropogene Faktoren wie die Anfalligkeit der gewahlten Flachennutzung Probleme der geographischen Risikoforschung BearbeitenEin Problem ist dass sich die beiden unterschiedlichen Perspektiven der Risikoforschung haufig nicht vereinen lassen und somit ein Mangel an integrierten Perspektiven besteht 20 Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar dass neue Erkenntnisse zu einer veranderten Wahrnehmung von Risiken beitragen und somit zu einer gesellschaftlichen Selbstverstarkung des Risikodenkens fuhren Siehe auch BearbeitenAngewandte Geographie Katastrophenschutz TechnikfolgenabschatzungEinzelnachweise Bearbeiten Egner und Pott 2010 S 15 Weichhart 2007 S 201 Beck 1986 Pohl 1998 Geipel 1992 S 3 Pohl und Geipel 2002 S 5 vgl etwa das Modell von Mitchell et al 1989 S 404 in deutscher Ubersetzung bei Geipel 1992 S 7 bzw Pohl 2008 S 56 Blaikie et al 1994 S 23 Cutter 1996 S 535 537 Bohle 2001 vgl auch Blaikie et al 1994 S 50 Smith 2001 S 15 Pohl 2008 S 48 50 White 1945 Kates 1971 Burton et al 1978 Watts 1983 Pulido 2002 S 44 Smith 2001 1991 Blaikie et al 1994 Kasperson et al 1995 Hewitt 1997 Mitchell 1999 Pelling 2003 v a Geipel 1977 Pohl 2008 S 56 Pohl und Geipel 2002 Quellen BearbeitenUlrich Beck Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Moderne Suhrkamp Frankfurt Main 1986 ISBN 3 518 11365 8 Piers Blaikie Terry Cannon Ian Davis und Ben Wisner At Risk Natural Hazards People s Vulnerability and Disasters Routledge London u a 1994 ISBN 0 415 08477 6 Hans Georg Bohle Neue Ansatze der geographischen Risikoforschung Ein Analyserahmen zur Bestimmung nachhaltiger Lebenssicherung von Armutsgruppen In Die Erde Band 132 Nr 2 2001 S 119 140 Ian Burton Robert W Kates und Gilbert F White The environment as hazard Oxford Univ Press New York 1978 ISBN 0 19 502221 1 Susan L Cutter Vulnerability to environmental hazards In Progress in Human Geography Band 20 Nr 4 1996 S 529 539 Heike Egner und Andreas Pott Risiko und Raum In Heike Egner und Andreas Pott Hrsg Geographische Risikoforschung Zur Konstruktion verraumlichter Risiken und Sicherheiten Erdkundliches Wissen Band 147 Franz Steiner Stuttgart 2010 ISBN 978 3 515 09427 6 S 9 31 Robert Geipel Friaul Sozialgeographische Aspekte einer Erdbebenkatastrophe Munchener geographische Hefte Band 40 Lassleben Kallmunz Regensburg 1977 ISBN 3 7847 6040 6 Robert Geipel Naturrisiken Katastrophenbewaltigung im sozialen Umfeld Wiss Buchges Darmstadt 1992 ISBN 3 534 11170 2 Kenneth Hewitt Regions of Risk A Geographical Introduction to Disasters Longman Harlow 1997 ISBN 0 582 21005 4 Jeanne X Kasperson Roger E Kasperson und Billie Lee Turner II Regions at Risk Comparisons of Threatened Environments United Nations Univ Press Tokio New York 1995 ISBN 92 808 0848 6 Robert W Kates Natural Hazard in Human Ecological Perspective Hypotheses and Models In Economic Geography Band 47 Nr 3 1971 S 438 451 James K Mitchell Hrsg Crucibles of Hazard Mega Cities and Disasters in Transition United Nations Univ Press Tokio New York 1999 ISBN 92 808 0987 3 James K Mitchell Neal Devine und Kathleen Jagger A Contextual Model of Natural Hazard In Geographical Review Band 79 Nr 4 1989 S 391 409 Mark Pelling The Vulnerability of Cities Natural Disasters and Social Resilience Earthscan Publications Harlow 2003 ISBN 1 85383 829 2 Jurgen Pohl Die Wahrnehmung von Naturrisiken in der Risikogesellschaft In Gunter Heinritz Reinhard Wiessner und Matthias Winiger Hrsg Nachhaltigkeit als Leitbild der Umwelt und Raumentwicklung in Europa Deutscher Geographentag 1997 Bonn F Steiner Stuttgart 1998 ISBN 3 515 07186 5 S 153 163 Jurgen Pohl Die Entstehung der geographischen Hazardforschung In Carsten Felgentreff und Thomas Glade Hrsg Naturrisiken und Sozialkatastrophen Spektrum Heidelberg 2008 ISBN 978 3 8274 1571 4 S 47 62 Jurgen Pohl und Robert Geipel Naturgefahren und Naturrisiken In Geographische Rundschau Band 54 Nr 1 2002 S 4 8 Laura Pulido Reflections on a White Discipline In The Professional Geographer Band 54 Nr 1 2002 S 42 49 doi 10 1111 0033 0124 00313 Keith Smith Environmental Hazards Assessing Risk and Reducing Disaster 3 Auflage Routledge London u a 2001 ISBN 0 415 22464 0 1 Auflage 1991 Michael J Watts On the Poverty of Theory Natural Hazards Research in Context In Kenneth Hewitt Hrsg Interpretations of Calamity from the Viewpoint of Human Ecology The Risks amp Hazards Series Band 1 Allen amp Unwin Winchester 1983 ISBN 0 04 301160 8 S 231 262 Peter Weichhart Risiko Vorschlage zum Umgang mit einem schillernden Begriff In Berichte zur deutschen Landeskunde Band 81 Nr 3 2007 S 201 214 Gilbert F White Human Adjustment to Floods A Geographical Approach to the Flood Problem in the United States Geography Research Paper Band 29 Univ Press Chicago 1945 Weiterfuhrende Literatur BearbeitenHans Georg Bohle Geographien von Verwundbarkeit In Geographische Rundschau Band 59 Nr 10 2007 S 20 25 Richard Dikau und Juergen Weichselgartner Der unruhige Planet Der Mensch und die Naturgewalten Wiss Buchges Darmstadt 2005 ISBN 3 534 17245 0 Heike Egner und Andreas Pott Hrsg Geographische Risikoforschung Zur Konstruktion verraumlichter Risiken und Sicherheiten Erdkundliches Wissen Band 147 Franz Steiner Stuttgart 2010 ISBN 978 3 515 09427 6 Carsten Felgentreff und Thomas Glade Hrsg Naturrisiken und Sozialkatastrophen Spektrum Heidelberg 2008 ISBN 978 3 8274 1571 4 Elmar Kulke und Herbert Popp Hrsg Umgang mit Risiken Katastrophen Destabilisierung Sicherheit Deutscher Geographentag 2007 Bayreuth Dt Gesellschaft fur Geographie Bayreuth u a 2008 ISBN 978 3 9808754 3 1 Detlef Muller Mahn Perspektiven der Geographischen Risikoforschung In Geographische Rundschau Band 59 Nr 10 2007 S 4 11 Detlef Muller Mahn Hrsg The Spatial Dimension of Risk How Geography Shapes the Emergence of Riskscapes Earthscan risk in society series Band 27 Routledge London New York 2012 ISBN 978 1 84971 085 5 Juergen Weichselgartner Naturgefahren als soziale Konstruktion Eine geographische Beobachtung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Naturrisiken Shaker Verlag Aachen 2002 ISBN 3 8265 9860 1 Dissertation Weblinks BearbeitenHazardforschung Spektrum Lexikon der Geographie Natural Hazards Center at the University of Colorado at Boulder englisch von Gilbert F White gegrundet inzwischen vor allem von Soziologen gefuhrt Understanding Katrina Perspectives from the Social Sciences englisch Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Geographische Risikoforschung amp oldid 238080757