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Furcht Das Gesprach der Tanzerinnen auch Furcht Ein Dialog ist der Titel eines 1907 in der Neuen Rundschau veroffentlichten Dialogs des osterreichischen Dichters Hugo von Hofmannsthal Die erste Buchausgabe erfolgte 1911 in Grete Wiesenthals Szenen von Hugo von Hofmannsthal Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid Zwei Hetaren unterhalten sich uber den Tanz und seine Bedeutung fur ihr Leben Dabei treffen unterschiedliche Bewertungen und Selbstbilder in einer Weise aufeinander die uber das Personliche hinausgeht und gesellschaftliche Fragen beruhrt Wahrend Laidion von einem ganzlich selbstvergessenen Tanz als hochstem Ausdruck der Angstlosigkeit und des Schopferischen traumt ist Hymnis zufrieden mit dessen klassischer zeitgemasser Form und vermag die Traume ihrer Gesprachspartnerin nicht zu verstehen In dem Dialog dessen Atmosphare auf Lukians Hetarengesprache zuruckgeht verarbeitete Hofmannsthal auch Motive aus Kleists Essay Uber das Marionettentheater Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Entstehung und Hintergrund 2 1 Hetarengesprache 2 2 Tanz und die Asthetik des Schopferischen 3 Deutung 4 Textausgaben 5 Sekundarliteratur 6 EinzelnachweiseInhalt Bearbeiten nbsp Eine Hetare tanzt fur einen Symposianten Innenbild einer Rotfigurigen Trinkschale des Brygos Malers um 480 v Chr Ein Matrose und Freier hat Laidion soeben von einer fernen Insel mit seltsamen Tanzritualen erzahlt als Hymnis ihr Gemach betritt Laidion bittet den Seemann zu bleiben und mit seiner Darstellung fortzufahren doch unwillig verlasst er die beiden und kehrt zuruck auf sein Schiff Hymnis berichtet ihr vom Auftritt zweier Tanzerinnen Zwar hatten sie sich schon bewegt ihre Pantomimen seien indes von Dichtern erfunden die den Menschen nichts Neues mitteilen und Sand in die Augen streuen wurden In ihrer Schilderung kommen einige klassische Motive griechischer Darstellung zum Vorschein so die Verwandlung einer Nymphe in einen Baum oder die Versteinerung beim Anblick der Medusa Fur Laidion noch ganz versunken in der Erzahlung des Seemannes ist die Welt des Tanzes schal und nichtswurdig Sie erzahlt wie sie fur viele Manner getanzt und sich von ihnen und dem Larm bedrangt gefuhlt habe Sie wunscht sich in die Ferne um ihrer Welt zu entfliehen Wie gierige Vogelschnabel hackt alles mir ins Gesicht und ich mochte lieber sterben als mit ihnen liegen und trinken und ihr Geschrei anhoren Da wunsch ich mich so weit weg als ein Vogel fliegen kann 1 Hymnis fest verwurzelt in dieser Welt kann Laidions Begeisterung fur das ferne Land nicht verstehen Was hast du von den fremden Landern Man mochte doch nicht hin Was tut man unter den farbigen Barbaren 1 Ladion bezweifelt dass Hymnis beim Tanzen glucklich ist da sie sich nicht vergessen und ihre Furcht loswerden konne Hymnis widerspricht Ihr Tanz und die begeisterten Reaktionen der Zuschauer die ihr die Kranze hinwerfen freue sie Wenn sie tanze habe sie keine Furcht Fur Laidion hingegen sind Hymnis Wunsche Ausdruck von Furcht Wahrend sie mit ihrem Tanz erfolglos versuche vor sich selbst zu fliehen verloren jene fernen glucklichen Inselbewohner ihre Furcht und hatten keine Scham wenn sie im Freien unter den heiligen Baumen tanzen In dieser ersehnten Welt mit ihren hohen von Gottern bewohnten Baumen deren blauschwarzer Schatten wie etwas Lebendiges ist das man wie eine Frucht beruhren kann vollziehen die Menschen einmal im Jahr einem wilden Fruchtbarkeitstanz und geben sich am Ende von den Gottern gesegnet den Junglingen hin Als junges Madchen habe sie sich voller Angst und Schuldgefuhle haufig aus sich selbst herausgesehnt was ware es das uns tanzen macht wenn nicht die Furcht Die halt oben die Faden die mitten in unserm Leibe befestigt sind und reisst uns hierhin und dorthin und macht unsre Glieder fliegen Auch Hoffnung sei eine Maske dieser besonderen Form der Angst die ein Glucklicher nicht habe Die Hoffnung lasse einen ausgehohlt daliegen und laugt einem die Seele aus dem Leibe 2 Erneut malt sie als Gegenbild das Leben der tanzenden Madchen und lasst sich in eine ekstatische Vision fallen bei der sie selbst zunachst langsam dann immer wilder zu tanzen beginnt und dabei in der ertraumten Gemeinschaft der anderen aufgeht und alle zugleich unter den Augen der Gotter tanzen wahrend sich von den Baumen die Schatten losen und in das Gewuhl der Tanzenden sinken Am Ende gleitet sie zuruck auf ihr Bett und ihre Augen sind angefullt mit einer kaum ertraglichen Spannung inneren Glucks In der Wirklichkeit angekommen von Hymnis mit einer roten Decke geschutzt klagt sie uber den gluhenden Schmerz von dieser Insel zu wissen sie aber nicht zu haben eine Insel auf der die Menschen ohne den Stachel der Hoffnung glucklich sind 3 Entstehung und Hintergrund BearbeitenHetarengesprache Bearbeiten nbsp Junge Hetare und ein Jungling beim Liebesspiel auf einer attisch rotfigurigen Oinochoe des Schuwalow Malers und des S Topfers um 430 v Chr Antikensammlung BerlinHofmannsthal schrieb den Dialog im Sommer 1907 Wahrend dieser Zeit die von Reflexionen uber die Bedingungen kunstlerischen Schaffens begleitet war entstanden die Briefe des Zuruckgekehrten und erste Aufzeichnungen des unvollendeten Andreas Romans Hofmannsthal charakterisierte sie als Phase eines intensiven schopferischen Zustands einer fast qualende n Lust sowohl zu schreiben als Kunftiges zu notieren eine von den jahen doch sehr schonen Zeiten die alle paar Jahre einmal kommen 4 In einem Brief an Harry Graf Kessler bezeichnete er dieses erfundene Gesprach als das kleine griechische Hetarenstuck In vielen Publikationsplanen erscheint es an hervorgehobener Stelle und 1909 uberlegte er das Schopferische als Aufsatz an erste Stelle der Prosa Schriften III zu stellen neben den Dialog Furcht 5 Zwar orientierte Hofmannsthal sich an den Hetarengesprachen des Satirikers Lukian allerdings ist das antike Vorbild weder formal noch inhaltlich pragend und nur an zwei Elementen erkennbar Der Eingangsszene in welcher der Matrose sich mit den beiden Tanzerinnen in einem Raum befindet und der tandelnden Art mit der Hynmis uber das Geld und den Schmuck den Status und die Eifersuchteleien der Freier spricht Diese oberflachliche Plauderei fungiert indes als Mittel des Kontrasts um die tiefsinnige ja kulturkritische Position Laidions noch deutlicher hervortreten zu lassen 6 In Hymnis naiven Fragen parodiert Hofmannsthal die Haltung des wilhelminischen Burgers So fragt Hymnis ob die Leute auf einem Fuss hupfen und sich mit den Lappen ihrer Ohren bedecken Laidion hingegen antwortet wie aus der Tiefe der Poesie Goldfarben sind sie und ihr Mund ist stark wie eines Raubtiers Mund Ihre Huften sind stark und schlank zugleich 7 Tanz und die Asthetik des Schopferischen Bearbeiten Fur Hofmannsthal ist der Tanz Ausdruck intensiv erhohten Lebensgefuhls faunisch und burlesk wie im zweiten Akt des Rosenkavalier in dem der ungehobelte Ochs auf Lerchenau nach den Klangen des Walzers zu tanzen beginnt in Arabella als Zeichen der noch unbeschwerten Jugend in der Elektra schliesslich als Ekstase und Wahnsinn In der Kammeroper Ariadne auf Naxos lasst Hofmannsthal in Gestalt des Bacchus den Gott auftreten der seit Nietzsche Inbegriff zeitverlorener rauschhaft lebendiger Daseinserhaltung ist 8 nbsp Ruth St Denis und ihr Ehemann Ted Shawn nbsp Nijinsky als Windgott Vayou in Marius Petipas Ballett Der Talisman um 1910Als dionysisch rauschafter Zustand und Uberwindung der Schwere ist er Teil der Gedankenwelt Hofmannsthals der sich auch in den Zarathustra vertieft hatte Im Tanzlied des zweiten Teils bittet und ermuntert Zarathustra die Madchen die seinetwegen zogern weiter zu tanzen Wie sollte er der kein Spielverderber mit bosem Blick sei dem gottlichen Tanzen feind sein So hebt er selbst zu einem Tanz und Spottlied auf den Geist der Schwere an 9 Hofmannsthal bestimmte die Asthetik des Schopferischen als eine damonische Kraft und magische Unbesiegbarkeit treibende Energien bei denen weibliche Bewegungskunst und Korperbeherrschung eine zentrale Rolle spielten So wollte er in dem Sammelband neben einem Essay uber die legendare Eleonora Duse auch einen uber die Tanzerin Ruth St Denis aufnehmen deren Tanz er als vollkommene Darstellung eines unpersonlichen mythischen Rituals auffasste 10 Uber einen langen Zeitraum beschaftigte sich Hofmannsthal mit Fragen der Schauspielkunst des Tanzes und der Pantomime was sich in zahlreichen Aufsatzen niederschlug So schrieb er den kurzen Essay Eleonora Duse Eine Wiener Theaterwoche nachdem die Schauspielerin vom 20 bis 27 Februar 1892 in Wien gastiert und Hofmannsthal sie in den Rollen der Fedora und Kameliendame gesehen hatte und verfasste spater noch weitere Texte uber sie ebenso wie uber die Die unvergleichliche Tanzerein Ruth St Denis mit der er freundschaftlich verbunden war oder den Tanzer Nijinsky den er als das grosste Genie der Mimik das die heutige Buhne kennt bezeichnete 11 Hofmannsthal entwarf ein gleichsam psychoanalytisches Modell eine Figur mit der die Last der abendlandischen Bildungstradition abgeworfen wird um an ihre Stelle das ins Vergessen gesunkene ursprungliche Wissen emporsteigen zu lassen als das eigentlich Schopferische Im selbstvergessenen Tanz als Blick auf das Fremde kann sich so das ganz Andere erschliessen eine Welt die jenseits der Bildungssphare liegt und diese transzendiert Deutung BearbeitenFur Gabriele Brandstetter bilden zwei einander zugeordnete Mythenpaare den Hintergrund des Gesprachs und werden durch das Prinzip des distanzierenden Blickes verbunden der von aussen den Korper trifft und ihm die Merkmale der Zivilisation Selbstkontrolle und Strafdrohung aufpragt Dieser Blick werde in vier im Dialog anklingenden Mythen sinnfallig In Narziss und Medusa Argus und dem Sundenfall der in ubertragener Form in Kleists vielschichtigem Aufsatz uber das Marionettentheater suggestiv dargestellt worden sei dem Thema des durch angstvolle Reflexion verlorenen Gleichgewichts In dem erfundenen Gesprach verkorpert Hymnis mit ihrem Tanz ihrer Rede und dem Selbstverstandnis als Hetare das Prinzip der klassischen Kunst wahrend Laidion diese Pragung als Selbstentfremdung empfindet und sich uber ihre Phantasie aus den Zwangen der Kulturordnung befreien will 6 Hymnis verharrt in affirmativer Position gegenuber ihrer Kultur und den Wertvorstellungen Laidion hingegen entwickelt sich in einem Prozess kritischer Selbsterkenntnis und Innenschau distanziert sich von allem und uberwindet kulturelle Schranken in einem visionaren Traum des anderen barbarischen Tanzes Die Sexualitat ist sowohl in der klassischen von Hymnis vertretenen Form als auch im entfesselten von Laidion vorgestellten Tanz eine bestimmende Triebfeder Wahrend der pantomimische Tanz der Hetaren erotisch ist und auf den sinnengetrubten Blick der mannlichen Zuschauer hin konzipiert wurde zeigt der Tanz uber den Laidion phantasiert und in den sie sich schliesslich fallen lasst den sexuellen Korper als Bestandteil eines uberindividuellen Fruchtbarkeits oder Initiations Rituals Kein stilisierter raffiniert verfuhrerischer Tanz sondern primitiver urwuchsiger Ausdruck unverhullter Sexualitat 6 Fur Gabriele Brandstetter erscheint der Tanz als Vision purer Gegenwart ein Zustand des mit sich selbst identischen Leibes wenn auch nur fur den erfullten Moment der spater den Schmerz des Wissens umso tiefer treibt In der mystischen Vision der phantasmatischen und ekstatischen Korpererfahrung uberwindet die Tanzerin die hemmende Grenze zwischen Traum und Realitat und verwandelt das Fremde ins Eigene 12 Textausgaben BearbeitenHugo von Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Band 7 Erzahlungen Erfundene Gesprache und Briefe Fischer Frankfurt 1986 ISBN 359622165XSekundarliteratur BearbeitenGabriele Brandstetter Der Traum vom anderen Tanz Hofmannsthals Asthetik des Schopferischen im Dialog Furcht in Hugo von Hofmannsthal Neue Wege der Forschung Hrsg Elsbeth Dangel Pelloquin Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007 S 41 61 ISBN 978 3 534 19032 4Einzelnachweise Bearbeiten a b Hugo von Hofmannsthal Furcht Ein Dialog Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Erzahlungen Erfundene Gesprache und Briefe Fischer Frankfurt 1986 S 574 Hugo von Hofmannsthal Furcht Ein Dialog Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Band 7 Erzahlungen Erfundene Gesprache und Briefe Fischer Frankfurt 1986 S 576 Hugo von Hofmannsthal Furcht Ein Dialog Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Band 7 Erzahlungen Erfundene Gesprache und Briefe Fischer Frankfurt 1986 S 579 Zit nach Gabriele Brandstetter Der Traum vom anderen Tanz Hofmannsthals Asthetik des Schopferischen im Dialog Furcht in Hugo von Hofmannsthal Neue Wege der Forschung Hrsg Elsbeth Dangel Pelloquin Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007 S 41 Zit nach Gabriele Brandstetter Der Traum vom anderen Tanz Hofmannsthals Asthetik des Schopferischen im Dialog Furcht in Hugo von Hofmannsthal Neue Wege der Forschung Hrsg Elsbeth Dangel Pelloquin Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007 S 42 a b c Gabriele Brandstetter Der Traum vom anderen Tanz Hofmannsthals Asthetik des Schopferischen im Dialog Furcht in Hugo von Hofmannsthal Neue Wege der Forschung Hrsg Elsbeth Dangel Pelloquin Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007 S 45 Hugo von Hofmannsthal Furcht Ein Dialog Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Band 7 Erzahlungen Erfundene Gesprache und Briefe Fischer Frankfurt 1986 S 575 Peter Christoph Kern Zur Gedankenwelt des spaten Hofmannsthal Die geistesgeschichtliche Stellung Hofmannsthals Carl Winter Universitatsverlag Heidelberg 1969 S 107 Friedrich Nietzsche Also sprach Zarathustra Teil II Das Tanzlied Kritische Studienausgabe Bd 4 Hrsg Giorgio Colli und Mazzino Montinari dtv Munchen 1988 S 139 Gabriele Brandstetter Der Traum vom anderen Tanz Hofmannsthals Asthetik des Schopferischen im Dialog Furcht in Hugo von Hofmannsthal Neue Wege der Forschung Hrsg Elsbeth Dangel Pelloquin Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007 S 43 Zit nach Hugo von Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Band 8 Reden und Aufsatze Bibliographie Fischer Frankfurt 1986 S 666 Gabriele Brandstetter Der Traum vom anderen Tanz Hofmannsthals Asthetik des Schopferischen im Dialog Furcht in Hugo von Hofmannsthal Neue Wege der Forschung Hrsg Elsbeth Dangel Pelloquin Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007 S 57 58 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Furcht Das Gesprach der Tanzerinnen amp oldid 198588555