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Eingedenken bezeichnet ein geschichtliches Bewusstsein und eine Form des Erinnerns in der die Vergangenheit nicht als etwas Abgeschlossenes begriffen und verklart sondern im Gegenteil ihre Gegenwartigkeit betont wird Der zuvor selten verwendete Begriff ist im 20 Jahrhundert durch Ernst Bloch Walter Benjamin Theodor W Adorno und Max Horkheimer aufgegriffen und neu gefasst worden Eingedenken als theologisches und ritualisiertes Erinnern BearbeitenIm Judentum begrundet sich im Gedenken an den Bundesschluss ein durch Wechselseitigkeit gekennzeichnetes Erinnerungsgebot Ebenso wie Gott des Volkes Israel gedenkt hat auch das Volk Israel seiner zu gedenken Jes 44 21 EU daraus bildet sich die innere Substanz des Bundes zwischen Gott und seinem Volk Diese Form theologischen Erinnerns ist von Walter Benjamin und in seiner Tradition auch von anderen vornehmlich judischen Autoren als Eingedenken bezeichnet worden 1 Bekanntlich war es den Juden untersagt der Zukunft nachzuforschen Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken Dieses entzauberte ihnen die Zukunft der die verfallen sind die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte durch die der Messias treten konnte Walter Benjamin Geschichtsphilosophische Thesen Anhang B In Gesammelte Schriften Frankfurt am Main 1980 S 676 Anstelle des konkreten historischen Ereignisses tritt die durch Ritual und Gebet standig erneuerte und vergegenwartigte Erinnerungsfigur Im Christentum findet sich etwa in dem Gedenken an das Abendmahl und in seiner ritualisierten Vergegenwartigung im Rahmen der Eucharistiefeier ein vergleichbares Konzept Eingedenken bei Walter Benjamin und in der Frankfurter Schule BearbeitenEingedenken wird im Spatwerk Benjamins insbesondere auch abschliessend in seiner letzten Schrift Uber den Begriff der Geschichte zum zentralen Begriff und spielt eine wesentliche Rolle in seiner Geschichtsphilosophie und Literaturkritik in seinen Studien zum Materialismus und in seiner Soziologie der Moderne Wahrscheinlich ist er durch Ernst Blochs Geist der Utopie auf den Begriff aufmerksam geworden und entwickelte ihn im Laufe seiner Ubersetzung der Schriften von Marcel Proust weiter wo er ihn fur dessen Konzept des memoire involontaire verwendete 2 Benjamin setzt den Terminus des Eingedenkens dem der verklarten Erinnerung entgegen wie er in der Hegelschen Geschichtsphilosophie Verwendung findet Im Unterschied zur Erinnerung ist das Eingedenken gekennzeichnet durch eine generelle Unversohnlichkeit gegenuber der Vergangenheit die nie abgeschlossen ist sondern in die Jetztzeit weiterwirkt und in ihr zur permanenten Katastrophe wird Geschichte ist fur Benjamin Natur und Leidensgeschichte zugleich aber verbindet das Eingedenken einen historischen Materialismus mit einem mystischen jedem einzelnen Menschen innewohnendem Messianismus indem es dem Gedanken eines unversehrten Lebens zum Uberleben verhilft Stephane Moses stellt hierzu fest dass Benjamin mit seinem Begriff des Eingedenkens die judische Kategorie des Zekher aufgreift Damit werde die Reaktualisierung von Begebenheiten der Vergangenheit in der gegenwartigen Erfahrung bezeichnet Benjamin sehe die Aufgabe des Eingedenkens darin zu retten was gescheitert sei in dem Sinne dass allem was in der Vergangenheit unterdruckt und vergessen worden ist oder um das sich niemand gekummert hat eine neue Chance gegeben wird so formuliert es Moses in seiner Studie von 1993 3 Das Konzept des Eingedenkens als aktives gegenwarts und zukunftsgewandtes Erinnern lasst sich auch auf Benjamins umfangreiche Holderlin Lekture zuruckfuhren 4 so etwa zitiert er aus dessen Gedicht Der Herbst Die Sagen die der Erde sich entfernen Vom Geiste der gewesen ist und wiederkehret Sie kehren zu der Menschheit sich und vieles lernenWir aus der Zeit die eilends sich verzehret Friedrich Holderlin Der Herbst 1837 Verse 1 4 Die umfangreiche Rezeption von Benjamin durch Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklarung schliesst auch den Begriff des Eingedenkens ein den sie als Eingedenken der Natur im Subjekt aufgreifen Man konne sich von der Natur ebenso wenig befreien wie von der Vergangenheit daher bestehe die einzige Alternative in der Befreiung der Natur vor einem selbstzerstorerischen Vernunftbegriff Literatur BearbeitenPrimarquellen Ernst Bloch 1918 Durch die Wuste Fruhe kritische Aufsatze 3 Auflage Frankfurt am Main Suhrkamp 1981 ISBN 3 518 10074 2 Walter Benjamin Anhang B letzter Teil von Geschichtsphilosophische Thesen in Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsatze 1965 3 Auflage Nachwort von Herbert Marcuse 1 Auflage Nachdruck der Ausgabe von 1965 Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 ISBN 978 3 518 10103 2 S 78 94 S 94 Auch enthalten in Walter Benjamin Gesammelte Schriften Band I 2 Frankfurt am Main 1980 Max Horkheimer Theodor W Adorno Dialektik der Aufklarung S Fischer Frankfurt 1969 Nachdruck als Taschenbuch 1988 ISBN 978 3 596 27404 8 Forschungsliteraturin der Reihenfolge des Erscheinens Gerd Theissen Tradition und Entscheidung Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedachtnis In Jan Assmann und Tonio Holscher Hrsg Kultur und Gedachtnis Frankfurt am Main 1988 ISBN 3 518 28324 3 S 170 196 Gunzelin Schmid Noerr Das Eingedenken der Natur im Subjekt Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers Adornos und Marcuses Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1990 ISBN 3 534 10694 6 Stephane Moses Eingedenken und Jetztzeit Geschichtliches Bewusstsein im Spatwerk Walter Benjamins In Anselm Haverkamp Renate Lachmann Hrsg Memoria Vergessen und Erinnern Munchen 1993 ISBN 3 7705 2736 4 S 385 405 Chaim Schatzker Eingedenken das Gedachtnis der oder in der judischen Tradition In Kristin Platt Mihran Dabag Generation und Gedachtnis Erinnerungen und kollektive Identitaten Verlag fur Sozialwissenschaften Wiesbaden 1995 ISBN 3 8100 1233 5 S 107 114 Helmut Thielen Eingedenken und Erlosung Walter Benjamin Konigshausen und Neumann Wurzburg 2005 ISBN 3 8260 2992 5 Stefano Marchesoni Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens Uber Genese und Semantik einer Denkfigur Kadmos Verlag Berlin 2016 ISBN 978 3 86599 328 1 Einzelnachweise Bearbeiten Gershom Scholem Walter Benjamin und sein Engel Suhrkamp Frankfurt am Main 1983 S 214 Zur Geschichte des Begriffs vor und bei Bloch vgl die ausfuhrliche Abhandlung in Stefano Marchesoni Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens Uber Genese Stellung und Bedeutung eines ungebrauchlichen Begriffs in Benjamins Schriften Dissertation 2013 insbesondere S 9 44 Am haufigsten begegnet der Begriff im 5 Kapitel der fruhen Auflagen von Blochs Werk Geist der Utopie 1918 Im Rahmen der Aufsatzsammlung Durch die Wuste sind diese Passagen uberarbeitet wiederveroffentlicht worden Siehe Ernst Bloch Durch die Wuste Fruhe kritische Aufsatze 3 Auflage Frankfurt am Main Suhrkamp 1981 ISBN 3 518 10074 2 Stephane Moses Eingedenken und Jetztzeit Geschichtliches Bewusstsein im Spatwerk Walter Benjamins In Anselm Haverkamp Renate Lachmann Hrsg Memoria Vergessen und Erinnern Munchen 1993 S 385 405 S 392 Johann Kreuzer Gut auch sind und geschickt zu einem etwas wir Walter Benjamins Holderlin Lekture In Waltraud Meints Michael Daxner Gerhard Kraiker Hrsg Raum der Freiheit Reflexionen uber Idee und Wirklichkeit Transcript Bielefeld 2009 S 99 122 S 119 f Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Eingedenken amp oldid 216350919