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Das Construction Integration Modell englisch Konstruktions Integrations Modell ist ein psychologisches Prozessmodell des Textverstehens das auf Walter Kintsch und Teun van Dijk zuruckgeht Das Modell ist damit in den Schnittbereich der Psycholinguistik und der Kognitionswissenschaft einzuordnen Alle folgenden Aussagen beziehen sich sowohl auf das Lesen und Verstehen eines geschriebenen Textes wie auch auf das Horen und Verstehen eines Diskurses Inhaltsverzeichnis 1 Propositionale Bedeutungsreprasentation 2 Das Construction Integration Modell des Textverstehens 2 1 Konstruktionsphase 2 2 Integrationsprozess 2 3 Anmerkung 2 4 Textbasis und Situationsmodell 2 5 Mikro und Makrostruktur 3 Empirische Studien 4 Siehe auch 5 LiteraturPropositionale Bedeutungsreprasentation BearbeitenEine Grundlage des Modells ist der Begriff der Proposition als Bedeutungsreprasentation Propositionen bestehen aus einem Pradikat und einem oder mehreren Argumenten die durch das Pradikat in Beziehung gesetzt werden Propositionen werden folgendermassen notiert P1 LIEBEN HANS INGE Vor dem Doppelpunkt wird angegeben um welche Proposition es sich handelt damit in der spateren Analyse einfacher darauf Bezug genommen werden kann Das Pradikat hier LIEBEN bringt die Argumente HANS und INGE in Beziehung zueinander P1 druckt also folgenden naturlichsprachlichen Satz aus S1 Hans liebt Inge Zu beachten ist dass Pradikate und Argumente Konzepte sind also Bedeutungen Referenten oder Denotate von Wortern Aus diesem Grund werden sie meist in Grossbuchstaben oder auch Kapitalchen notiert Ausser Konzepten konnen auch andere Propositionen Argumente sein Der naturlichsprachliche Satz Weil Peter eine Reifenpanne hat muss er warten wird somit folgendermassen propositional gefasst P2 WEIL P3 P4 P3 HABEN PETER REIFENPANNE P4 MUSSEN PETER P5 P5 WARTEN PETER oder P6 WEIL HABEN PETER REIFENPANNE MUSSEN PETER WARTEN PETER P2 verknupft hier die Proposition P3 und P4 kausal und P5 ist in P4 eingebettet Es herrscht hier also eine Argumentuberlappung P6 ist lediglich eine kompaktere und unubersichtlichere Darstellungsweise fur P2 bis P5 Das Construction Integration Modell des Textverstehens BearbeitenEs wird davon ausgegangen dass der die Leser beim Lesen eines Textes diesen in eine propositionale Reprasentation uberfuhrt Hierbei unterscheidet man die Phase der Konstruktion von der Phase der Integration Konstruktionsphase Bearbeiten In der Konstruktionsphase wird der Bedeutungsgehalt des Textes in propositionaler Form extrahiert Es entsteht ein propositionales Netzwerk in dem die Propositionen miteinander uber Argumentuberlappung s o verbunden sind Dieses Netzwerk muss zunachst nicht vollstandig verbunden sein Das heisst es kann mehrere kleine voneinander unabhangige Netzwerke geben Der Leser wird nun versuchen ein koharentes also ein einheitliches voll verbundenes Netzwerk herzustellen Hierzu bedarf es in den meisten Fallen einer Vielzahl an Assoziationen und Inferenzen Schlussfolgerungen aus dem Wissen des Lesers Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen Der Mini Text Peter hatte eine Reifenpanne Nachdem er das Rad gewechselt hatte konnte er weiterfahren enthalt explizit folgende Propositionen P7 HABEN PETER REIFENPANNE P8 NACHDEM P9 P10 P9 WECHSELN PETER RAD P10 KONNEN PETER P11 P11 WEITERFAHREN PETER Diese Propositionen wurden jedoch nicht genugen um eine koharente Reprasentation dieses Textes zu erstellen Hierzu mussten Inferenzen und Assoziationen hervorgebracht werden wie beispielsweise Nicht Peter hat eine Reifenpanne sondern das Gefahrt in dem Peter sitzt und Ein Gefahrt kann nicht mehr fahren wenn es eine Reifenpanne hat Die Assoziationen und Inferenzen die wahrend der Konstruktionsphase hervorgebracht werden sind ungeleitet zum Teil chaotisch und idiosynkratisch also nur fur den verstehenden Menschen selbst verstandlich Der Konstruktionsprozess ist somit ein klassischer Bottom up Prozess Nachdem diese Inferenzen alle gezogen wurden und die entsprechenden Propositionen ebenfalls in das propositionale Netzwerk integriert sind ubernimmt der Integrationsprozess Integrationsprozess Bearbeiten Der Integrationsprozess ubernimmt aus der Konstruktionsphase salopp ausgedruckt ein chaotisches Propositionennetzwerk in dem Wichtiges Unwichtiges und zum Teil auch Widerspruchliches miteinander verbunden ist Nun beginnt ein Constraint Satisfaction Prozess der die Aktivationswerte fur die verschiedenen Knoten im Netzwerk also die Propositionen so anpasst dass allen Constraints Beschrankungen Widerspruche usw Rechnung getragen wird das Netz wird integriert Dabei konnen unwichtige Propositionen wegfallen widerspruchliche Informationen bereinigt werden und kontextuelle Einflusse eine von mehreren Top down Komponenten im Modell zur Geltung kommen Der Constraint Satisfaction Prozess lauft uber mehrere Zyklen in denen nach dem Prinzip der Aktivationsausbreitung spreading activation die Aktivationswerte fur die Knoten angepasst werden Anmerkung Bearbeiten Konstruktion und Integration laufen nicht nacheinander sondern simultan ab Das heisst wahrend ein Wort verarbeitet wird wird die bis zu diesem Punkt bereits aufgebaute Bedeutungsreprasentation integriert Das neue Wort wird in das Netz eingebaut und der Integrationsprozess geht weiter wahrend bereits wieder das nachste Wort verarbeitet wird Textbasis und Situationsmodell Bearbeiten Es lasst sich bei den Reprasentationsstrukturen theoretisch unterscheiden zwischen Textbasis und Situationsmodell Es ist zu beachten dass dies eine theoretische Unterscheidung ist da diese Konstrukte keine unabhangigen Strukturen darstellen Zum Zwecke der Analyse lassen sie sich jedoch trennen Die Textbasis reprasentiert alle im Text explizit genannten Propositionen Diese Textbasis kann somit fast niemals vollstandig koharent sein da ein Text in dem wirklich alle Informationen explizit genannt sind nicht vorstellbar ist vgl auch den Minitext oben Es wird immer Assoziationen und Wissenselaborationen benotigen um eine koharente Reprasentation eines Textes im Geist des Verstehenden herzustellen Jede Anreicherung der Textbasis mit Wissenselementen des Lesers fuhrt zu einem Situationsmodell Diese theoretische Ebene wurde 1983 in das Construction Integration Modell aufgenommen was wie Kintsch explizit schreibt auf den grossen Einfluss der Theorie der Mentalen Modelle von Johnson Laird zuruckzufuhren ist Situationsmodelle bestehen also aus der Textbasis sowie den Anreicherungen aus dem Wissen des Lesers Dabei ist anzumerken dass Situationsmodelle nicht mehr rein propositional reprasentiert sein mussen Auch bildhafte oder prozessartige Situationsmodelle sind denkbar dies hangt unter anderem vom Ziel des Lesers ab Will der Leser bspw eine Textaufgabe losen wird er zusatzlich ein sogenanntes Problemmodell hervorbringen das die arithmetischen Operationen reprasentiert die zur Losung der Aufgabe fuhren konnen Eine Textaufgabe kann somit inhaltlich auf der Ebene der Textbasis verstanden sein der Leser kann auch eine Vorstellung davon haben was in der Aufgabe beschrieben wird Situationsmodell Das heisst aber nicht dass er auch weiss was rechnerisch zu tun ist um zur Losung des Problems zu gelangen Problemmodell Mikro und Makrostruktur Bearbeiten Eine Unterscheidung die orthogonal zu jener zwischen Textbasis und Situationsmodell vorgenommen wird ist jene zwischen Mikro und Makrostruktur Dabei besteht die Mikrostruktur aus den Mikropropositionen Das sind jene Propositionen die aus dem Text extrahiert werden konnen und die Assoziationen die aus dem Wissen des Lesers hinzutreten Diese sind in keiner Weise hierarchisch organisiert Genau das geschieht in der Makrostruktur die der Mikrostruktur eine hierarchische Gliederung oder Organisation verleiht Dazu werden sogenannte Makropropositionen anhand von drei Makroregeln konstruiert Selektion Loschung Jede Proposition die keine Interpretationsbedingung einer anderen Proposition darstellt kann geloscht werden Generalisierung Kann jede Proposition P1 P2 P3 einer Menge an Propositionen durch eine andere Proposition MP1 ausgedruckt werden kann P1 P2 P3 jeweils durch MP1 ersetzt werden Beispiel P12 MOGEN PETER DALMATINER P13 MOGEN PETER BERHARDINER P14 MOGEN PETER LANGHAARDACKEL P15 MOGEN PETER SCHAFERHUNDE P12 P13 P14 und P15 konnen jeweils ausgetauscht werden mitMP1 MOGEN PETER HUNDE Dies ist eine Generalisierung auf dem Wissenshintergrund dass Dalmatiner Bernhardiner Langhaardackel und Schaferhunde alles Hunde sind und so verschieden dass Peter wohl tatsachlich alle Hunde mag Wie hier gut zu sehen ist mussen Makropropositionen nicht formal logisch korrekt sein Konstruktion Kann die Sequenz der Propositionen P1 P2 P3 durch eine andere Proposition MP1 ausgedruckt werden kann die Sequenz P1 P2 P3 durch MP1 ersetzt werden Beispiel P16 AUSDEHNEN HERZMUSKEL P17 ZUSAMMENZIEHEN HERZMUSKEL P16 und P17 konnen beide gemeinsam ersetzt werden von MP2 PUMPEN HERZ Auch diese Konstruktion einer vollig neuen Proposition genauer einer Makroproposition geschieht vor dem Hintergrund des Wissens des lesenden Menschen Welche Makropropositionen und welche Makrostruktur wann herausgebildet werden wird ist hoch kontextabhangig Es hangt von der Art des Textes den Erwartungen und Zielen des Lesers den ausseren Umstanden und naturlich vom Wissen des Lesers ab welche hierarchische Organisation die Reprasentation der Textbedeutung im Geist des Lesers annimmt Es kann jedoch klare Hinweise auf die Herausbildung einer ganz bestimmten Makrostruktur im Text geben Dazu gehoren Zwischenuberschriften Gliederungshinweise als besonders wichtig herausgestellte Aussagen usw Auch uber diese kann sich ein einzelner Leser jedoch hinwegsetzen Stellen wir uns folgendes Szenario vor Wir lesen einen Text uber die Wirtschaft die Regierung die Umwelt und die Bevolkerungsstruktur Brasiliens und Argentiniens Der Text ist so aufgebaut dass zu jedem der einzelnen Bereiche immer erst Brasilien und dann Argentinien besprochen wird Folgende Makrostruktur legt der Text also nahe nbsp Wenn wir uns nun aber sehr fur Brasilien und uberhaupt nicht fur Argentinien interessieren werden wir eine andere Makrostruktur herausbilden obwohl wir denselben Text lesen Diese konnte eventuell so aussehen nbsp Wenn wir uns fur Brasilien mehr interessieren ist ausserdem davon auszugehen dass in der linken Halfte des Schaubilds eine viel reichhaltigere Reprasentation d h mehr Assoziationen und Elaborationen vorliegt als in der rechten Empirische Studien BearbeitenIm Folgenden werden Literaturverweise auf empirische Studien zum Construction Integration Modell mit einem kurzen Kommentar genannt Diese stellen nur eine kleine Auswahl dar W Kintsch J Keenan Reading Rate and Retention as a Function of the Number of Propositions in the Base Structure of Sentences In Cognitive Psychology 5 1973 S 257 274 Eine klassische empirische Studie zu Lesezeiten und Behaltensleistung in Abhangigkeit zur Anzahl der Propositionen in einem Satz Diese Studie muss als Vorlaufer des Construction Integration Modells gesehen werden W Kintsch Learning from Text In Cognition and Instruction 3 2 1986 S 87 108 Eine Studie mit zwei interessanten Studien zu Situationsmodell und Textbasis die in Experiment 2 gar einen interessanten Gender Aspekt aufwirft Till et al Time course of priming for associate and inference words in a discourse context In Memory amp Cognition 16 1988 S 283 298 Uberaus interessante Studie zum zeitlichen Ablauf des Construction Integration Prozesses hier wird der sogenannte activation selection elaboration Ansatz vorgestellt F Schmalhofer M A McDaniel D Keefe A Unified Model for Predictive and Bridging Inferences In Discourse Processes 33 2 2002 S 105 132 Eine interessante Studie zu Inferenzen aus dem Wissen des Lesers S Mehl Fiktion und Identitat im Fall Esra Mehrdisziplinare Bearbeitung eines Gerichtsverfahrens LIT Verlag Berlin u a 2014 Kap 4 Eine umfassende empirische Anwendung des Modells auf den Fall Esra Roman Siehe auch BearbeitenTextlinguistikLiteratur BearbeitenI Barshi Message length and misunderstandings in aviation communication Linguistic properties and cognitive constraints University of Colorado Boulder 1997 W Kintsch The representation of meaning in memory Erlbaum Hillsdale 1974 W Kintsch The Role of Knowledge in Discourse Comprehension A Construction Integration Model In Psychological Review 95 2 1988 S 163 182 W Kintsch Comprehension A Paradigm for Cognition Cambridge University Press Cambridge 1998 W Kintsch An Overview of Top Down and Bottom Up Effects in Comprehension The CI Perspective In Discourse Processes 39 2 amp 3 2005 S 125 128 doi 10 1080 0163853X 2005 9651676 W Kintsch J G Greeno Understanding and solving word arithmetic problems In Psychological Review 92 1 1985 S 109 129 W Kintsch V L Patel K A Ericsson The role of long term working memory in text comprehension In Psychologia 42 1999 S 186 198 W Kintsch T Van Dijk Toward a model of text comprehension and production In Psychological Review 85 1978 S 363 394 W Kintsch J J Yarborough Role of rhetorical structure in text comprehension In Journal of Educational Psychology 74 1982 S 828 834 T Van Dijk W Kintsch Strategies of discourse comprehension Academic Press New York 1983 Ilka Hanne Unsold Die Bildung von Inferenzen bei der kognitiven Verarbeitung medialer Texte Eine Untersuchung an Kindern und Erwachsenen Verlag Dr Kovac Hamburg 2008 ISBN 978 3 8300 3852 8 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Construction Integration Modell amp oldid 191264310