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Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Turkei wurde am 30 Oktober 1961 in Bad Godesberg unterzeichnet Kabinett Adenauer III und fuhrte trotz anderslautender vertraglicher Ausgestaltung Befristung der Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre sogenanntes Rotationsprinzip zu einer verstarkten Einwanderung aus der Turkei in die Bundesrepublik Deutschland Die angeworbenen Arbeiter wurden in Deutschland als Gastarbeiter bezeichnet Bis zur Anwerbesperre 1973 reisten insgesamt 867 000 turkische Gastarbeiter in die Bundesrepublik Deutschland rund 500 000 kehrten in die Turkei zuruck 1 Gedenktafel fur das Anwerbeabkommen im Hauptbahnhof MunchenDie Bundesrepublik Deutschland schloss ahnliche Anwerbeabkommen auch mit anderen Staaten Italien 1955 Griechenland 1960 Spanien 1960 Marokko 1963 Sudkorea 1963 Portugal 1964 Tunesien 1965 und Jugoslawien 1968 Inhaltsverzeichnis 1 Motivation 1 1 Wirtschaftspolitische Motive 1 2 Innenpolitische Motive 1 3 Aussenpolitische Motive 2 Verlauf und Folgen 3 Historische Einschatzung des Anwerbeabkommens 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseMotivation BearbeitenBeim Zustandekommen des Anwerbeabkommens spielten diverse politische Motive eine Rolle Wirtschaftspolitische Motive Bearbeiten Durch den starken wirtschaftlichen Aufschwung herrschte seit etwa 1955 in Teilbereichen der deutschen Wirtschaft Arbeitskraftemangel so in der Landwirtschaft und im Bergbau Angesichts nahezu erreichter Vollbeschaftigung und drohenden Arbeitskraftemangels plante die Bundesregierung 1955 durch die Anwerbung auslandischer Arbeitskrafte dem Arbeitskraftemangel zu begegnen und dadurch zugleich auf kunftige Lohnforderungen dampfend zu wirken 2 Trotz der Anwerbeabkommen mit Italien 1955 sowie mit Spanien und Griechenland 1960 verscharfte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiter So schrieb der Spiegel im Sommer 1959 Der Kampf um die Arbeiter ist zu einer aufreibenden Dauerbeschaftigung geworden in die sich Personalverwaltungen grosser Industrieunternehmen verstrickt sehen wie kleinere Betriebe mit wenigen Beschaftigten 3 Arbeitsminister Theodor Blank sah 1959 keine Alternative zur Auslanderbeschaftigung weil trotz fortschreitender Rationalisierung und Mechanisierung der Produktionsverfahren in der Bundesrepublik weiterhin ein steigender Kraftebedarf zu erwarten sei 4 Ab 1960 machten sich zudem die geburtenschwachen Jahrgange der Kriegsgeneration bemerkbar und auch die Senkung des Renteneintrittsalters verscharfte den Arbeitskraftemangel Seit spatestens Ende der 1950er Jahre herrschte Vollbeschaftigung im Jahr 1960 standen 153 161 Arbeitslosen 487 746 offene Stellen gegenuber Zudem waren die Gewerkschaften erstarkt und hatten hohe Lohnsteigerungen erkampft Die Reallohnsteigerung zwischen 1950 und 1960 betrug 67 5 Ab 1956 begann die schrittweise Einfuhrung der 40 Stunden Woche vorher 48 Stunden auch dies trocknete den Arbeitsmarkt weiter aus Die Situation des Mangels anderte sich bis 1973 nicht Die Arbeitslosenquote lag seit 1961 trotz Zuwanderung auf einem historisch niedrigen Stand jeweils unter 1 abgesehen vom Jahr der kleinen Rezession 1967 Siehe auch Arbeitslosenstatistik Historische Zahlen zur Arbeitslosigkeit in Deutschland Helmut Schmidt sah das Anwerbeabkommen ruckblickend kritisch Es war ja Ludwig Erhard der das Ganze in Gang brachte zunachst als Wirtschaftsminister spater als Bundeskanzler Deutschland hatte einen Bedarf an Arbeitskraften was die Lohne ansteigen liess Das wollte er verhindern 6 2004 befand er es war ein Fehler dass wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten 7 Innenpolitische Motive Bearbeiten Auch der Aufbau der Bundeswehr und die Einfuhrung der Wehrpflicht 1956 verknappten die Arbeitskrafte Ressourcen Ein Zeitungsartikel schrieb im November 1954 Erhard gehe es um eine vorausschauende Regelung fur den Fall dass durch die Aufstellung deutscher Streitkrafte und den Aufbau einer eigenen Rustungsindustrie ein Mangel an Arbeitskraften entstehen konnte Es besteht die Moglichkeit dass aus der Bundesrepublik in absehbarer Zeit wieder ein Einwandererland fur auslandische Arbeiter wird 8 Aussenpolitische Motive Bearbeiten Die Turkei galt wahrend des Kalten Krieges als wichtiges NATO Mitglied an der Sudostflanke zur damaligen Sowjetunion Die Turkei litt seit Jahrzehnten unter hohen Arbeitslosenzahlen verursacht durch ein Bevolkerungswachstum das seit langem hoher war als das Wirtschaftswachstum Die Initiative fur das deutsch turkische Anwerbeabkommen ging was wenig bekannt ist von der Turkei aus Die Turkei hatte ein erhebliches Interesse daran einen Teil der rasch anwachsenden Bevolkerung befristet als Gastarbeiter ins Ausland zu schicken 9 Durch Gelduberweisungen turkischer Gastarbeiter in die Turkei sollte das Handelsbilanzdefizit der Turkei im Handel mit Deutschland durch Uberschusse in der Ubertragungsbilanz kompensiert werden um die turkische Leistungsbilanz der Bundesrepublik Deutschland gegenuber auszugleichen 10 Die wirtschaftliche und politische Stabilitat der Turkei lag im Interesse der NATO Staaten und anderer westlicher Lander Verlauf und Folgen BearbeitenDer Unterzeichnung des Abkommens gingen lange Verhandlungen und zahlreiche teils private Initiativen unterschiedlichster Institutionen voraus Bereits 1956 gab es ein Fortbildungsprojekt fur turkische Handwerker 1957 machte der damalige Bundesprasident Theodor Heuss Ankara das Angebot 150 turkische Berufschulabsolventen zur Ausbildung einzuladen Turkische Arbeitskrafte gelangten auch aus eigener Initiative nach Deutschland 1960 waren es bereits 2500 Diese Aktivitaten fuhrten sowohl auf deutscher als auch auf turkischer Seite dazu uber eine staatliche Regulierung der Zuwanderung nachzudenken 11 Die Bundesregierung reagierte zunachst zuruckhaltend auf das Angebot Arbeitsminister Theodor Blank lehnte ein Abkommen ab und ausserte er befurchte Konflikte zwischen turkischen Gastarbeitern und Einheimischen wegen der religios kulturellen Distanz zwischen diesen 12 Im September 1960 erklarte Anton Sabel Prasident der Bundesanstalt fur Arbeitsvermittlung gegenuber dem Arbeitsministerium arbeitsmarktpolitisch sei keine Vereinbarung mit der Turkei notwendig 13 Kurz zuvor waren die Abkommen mit Spanien und Griechenland abgeschlossen worden Im August 1961 beendete der Mauerbau den bis dahin anhaltenden Zustrom von Arbeitskraften aus der DDR Zwei Monate spater gab die Bundesregierung dem Drangen der turkischen Regierung nach da diese eine Absage ansonsten als eine Diskriminierung betrachten 12 gemusst hatte In der Folge schloss die Turkei Anwerbeabkommen mit weiteren europaischen Staaten darunter Osterreich Belgien und Frankreich 14 In den ersten Jahren nach dem Abkommen spielten die turkischen Gastarbeiter in der Gesamtzuwanderung eine eher marginale Rolle Das anderte sich nach der Wirtschaftskrise 1967 als insbesondere Stahlindustrie und Automobilindustrie eine hohe Zahl an ungelernten Arbeitern benotigten um Einsparpotentiale zu erreichen und teure Rationalisierungen zu vermeiden 15 Die Aufenthaltserlaubnis fur die turkischen Gastarbeiter war zunachst auf 2 Jahre beschrankt Danach sollten sie unbedingt in die Heimat zuruckkehren und durch neue Arbeiter ersetzt werden Rotationsprinzip Ein Familiennachzug war im Gegensatz zu den anderen Anwerbeabkommen nicht vorgesehen In der Praxis war das Rotationsprinzip auf Dauer allerdings nicht zu realisieren Deutsche Unternehmen sprachen sich dagegen aus einmal angelernte Arbeitskrafte nach zwei Jahren wieder gehen zu lassen In einer Neufassung des Abkommens am 19 Mai 1964 wurde das Rotationsprinzip ausser Kraft gesetzt auch das Verbot des Familiennachzugs wurde aufgehoben 11 Kurz nach dem Beginn der Olkrise 1973 verfugte die damalige Bundesregierung eine Anwerbesperre fur samtliche Anwerbelander Damals befanden sich nach 12 Jahren Anwerbeabkommen ca 600 000 Turken in Deutschland 1 Vor die Wahl gestellt entweder dauerhaft in die Turkei zuruckzukehren oder aber in Deutschland zu bleiben entschieden sich die meisten von ihnen fur letzteres Dies war der Beginn der dauerhaften turkischen Einwanderung in die Bundesrepublik Siehe auch Einwanderung aus der Turkei in die Bundesrepublik Deutschland Beschreibung des AnwerbungsprozessesHistorische Einschatzung des Anwerbeabkommens BearbeitenViele Forscher weisen auf die Bedeutung des Abkommens fur die Fortfuhrung des deutschen Wirtschaftswunders und den Aufbau der Sozialsysteme hin Das Bundesarbeitsministerium erklarte 1976 die Zuwanderung habe unter Beibehaltung eines hohen Wirtschaftswachstums zu einer starken Verringerung der Arbeitszeit der Deutschen gefuhrt Nach Berechnungen des Migrationsforschers Friedrich Heckmann ermoglichte die Zuwanderung zwischen 1960 und 1970 ca 2 3 Millionen Deutschen den sozialen Aufstieg von Arbeiter in Angestelltenpositionen Nach Karl Heinz Meier Braun hatten ohne die Zuwanderung bereits 1971 die Rentenversicherungsbeitrage erhoht werden mussen ja die Rentenversicherung sei geradezu von den auslandischen Arbeitnehmern subventioniert worden da den eingezahlten Beitragen nur rund ein Zehntel an Leistungen gegenuberstand 16 Einen abweichenden Standpunkt vertritt die Historikerin Heike Knortz Sie sieht gegenuber den wirtschafts und innenpolitischen Ursachen einen Primat der Aussenpolitik und in der Zuwanderung eine okonomische Fehlentwicklung der fruhen Bundesrepublik Es seien nur veraltete Industrien wie der Kohlebergbau durch den Import von billigen Arbeitskraften kunstlich am Leben gehalten und der Strukturwandel verhindert worden Die Anwerbeabkommen hatten sich nicht an den arbeitsmarktpolitischen Bedurfnissen der BRD orientiert 17 18 Literatur BearbeitenSara Marie Demiriz K eine schlichte Verbalnote das deutsch turkische Anwerbeabkommen vom 30 Oktober 1961 und seine Folgen In Forum Geschichtskultur Ruhr 12 2021 Heft 2 Karin Hunn Asymmetrische Beziehungen Turkische Gastarbeiter zwischen Heimat und Fremde Vom deutsch turkischen Anwerbeabkommen mit zum Anwerbestopp 1961 1973 Archiv fur Sozialgeschichte 42 Friedrich Ebert Stiftung 2002 S 145 172 online Weblinks BearbeitenDeutsch turkische Vereinbarung vom 30 Oktober 1961 Bekanntgabe in Bundesarbeitsblatt 13 Jahrgang Nr 3 10 Februar 1962 S 69 71 50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Turkei Artikelsammlung der Bundeszentrale fur politische Bildung Geschichte der turkischen Minderheit in Deutschland Bundeszentrale fur politische Bildung 60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Turkei Clip des ZDF Terra X Necla Kelek in der FAZ uber das Anwerbeabkommen Uta Rasche in der FAZ vom 26 Oktober 2011 PDF 151 kB Lebenswege das Online Migrationsmuseum Rheinland Pfalz Sonderausstellung 50 Jahre Anwerbeabkommen Deutschland TurkeiEinzelnachweise Bearbeiten a b Stefan Luft Die Anwerbung turkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen bpb de abgerufen am 18 Februar 2019 Kabinettsprotokolle Online im Bundesarchiv Die dritte Garnitur Spiegel 34 1959 vom 19 August 1959 S 26 Rheinland Pfalz Ministerium fur Integration Familie Kinder und Frauen 50 Jahre Anwerbeabkommen Memento vom 17 Mai 2013 im Internet Archive Zahlen und Daten 1960 50 Jahre Migration Zehn Millionen Turken Die Furcht des Helmut Schmidt In Die Zeit 20 Oktober 2011 zeit de Altkanzler Schmidt Anwerbung von Gastarbeitern war falsch In Frankfurter Allgemeine Zeitung 24 November 2004 faz net Arbeiter fur das Wirtschaftswunder Zeitungsausschnitt 30 November 1954 Bundesarchiv Koblenz B119 Nr 3050 Bd 1 S 67 angekommen com Stefan Luft Abschied von Multikulti Wege aus der Integrationskrise Resch Verlag Grafelfing 2006 S 101 Heike Knortz Diplomatische Tauschgeschafte Gastarbeiter in der westdeutschen Diplomatie und Beschaftigungspolitik 1953 1973 Bohlau Wien Koln 2008 S 177 books google de Ahnlich auch Faruk Sen Die Turkei war darauf angewiesen Arbeitskrafte ins Ausland zu schicken da sie nur auf diese Weise die Arbeitslosigkeit im Land reduzieren und mithilfe der regelmassigen Gastarbeiteruberweisungen ihr hohes Aussenhandelsdefizit ausgleichen konnte Faruk Sen Turkische Arbeitnehmergesellschaften Grundung Struktur und wirtschaftliche Funktion der turkischen Arbeitnehmergesellschaften fur die soziookonomische Lage der Turkei Peter Lang Frankfurt am Main 1980 S 38 zit nach Stefan Luft Abschied von Multikulti Wege aus der Integrationskrise Resch Verlag Grafelfing 2006 S 101 a b Rheinland Pfalz Ministerium fur Integration Familie Kinder und Frauen 50 Jahre Anwerbeabkommen Memento vom 11 Juli 2015 im Internet Archive a b Heike Knortz Diplomatische Tauschgeschafte Gastarbeiter in der westdeutschen Diplomatie und Beschaftigungspolitik 1953 1973 Bohlau Verlag Koln 2008 books google de Johannes Dieter Steinert Migration und Politik Westdeutschland Europa Ubersee 1945 1961 Osnabruck 1995 S 307 Asli Topal Cevahir Migration Gesundheit Gender Eine Oral History Studie zur Entwicklung der Gesundheitsverhaltnisse turkischer Migrantinnen erster und zweiter Generation Cuvillier Verlag S 108 Uberarbeitete Version der in der Philosophischen Fakultat der Heinreich Heine Universitat Dusseldorf im Jahr 2015 unter dem Titel Die historische Entwicklung der Gesundheitsverhaltnisse von Migrantinnen aus der Turkei in der BRD im Spiegel interdisziplinarer Diskurse angenommenen Dissertation Deutschlandradio Kultur Historiker Ulrich Herbert im Gesprach mit Marietta Schwarz 1 Sehepunkte Rezensionsjournal fur Geschichtswissenschaften uber Heike Knortz Diplomatische Tauschgeschafte Martin Kroger Initiative der Entsendelander In FAZ net vom 23 Juni 2008 Initiative der Entsendelander Auswartiges Amt und Auslanderbeschaftigung 1953 1973 FAZ Archiv Rezension des Buchs Diplomatische Tauschgeschafte von Heike Knortz Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Turkei amp oldid 236673113