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Sexualitatsdispositiv ist ein von Michel Foucault gepragtes Konzept das einen strategischen Komplex aus diskursiven Praktiken und Techniken sowie Handlungen Gegenstanden und Klassifikationen beschreibt mit denen sich Menschen uber Sexualitat definieren Subjektbildung oder definiert werden Das Sexualitatsdispositiv lasst nachvollziehen wie das Individuum von vornherein seine sexuellen Neigungen Verhaltensweisen bzw seine Luste als Subjekt bestimmten Normen unterwirft seine Sexualitat kontrolliert in bestimmten Formen klassifiziert z B Heterosexualitat Homosexualitat Selbstbefriedigung diese als gegeben akzeptiert oder andere Formen entsprechend ausgrenzt und wie in gleicher Weise Subjekte und ihre Sexualitaten Gegenstand entsprechender Diskurse Zuschreibungen und Einordnungen d h machtvoller Verhaltnisse werden Innerhalb Foucaults Theorie gesellschaftlicher Macht nimmt die Sexualitat eine zentrale Position ein Das Sexualitatsdispositiv wirkt laut Foucault zudem nicht nur auf den Einzelnen sondern steuert zugleich die Bevolkerung Bio Macht Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung des Begriffs Sexualitatsdispositiv 2 Theoretisches Vorverstandnis 2 1 Der Begriff Dispositiv 2 2 Foucaults Machtverstandnis 2 3 Die zentrale Bedeutung der Sexualitat 3 Das Konzept Sexualitatsdispositiv 3 1 Sprechen uber den Sex Diskurs und Diskursstrategien 3 2 Macht Wissen und Sexualitat 3 3 Fragestellungen 3 4 Sexualitat als pathologisches Gebiet 4 Rezeption und Wirkung 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseEntstehung des Begriffs Sexualitatsdispositiv BearbeitenFoucault entwickelt das Konzept des Sexualitatsdispositivs in seinem Werk Der Wille zum Wissen 1977 Damit wollte er sein Instrumentarium zur Analyse von Machtbeziehungen gegenuber herkommlichen Modellen erweitern und verfeinern um bestimmte Techniken Praktiken Verfahren und Beziehungen einer strategisch produktiven Form der Macht mitdenken zu konnen Somit bestehe die Moglichkeit den Formen des politische n Denken s seiner Zeit zu entkommen 1 die sich auf das System von Souveran und Gesetz beziehen und davon fasziniert seien 1 Foucault erhebt Einwande gegen die Repressionshypothese die er nicht als falsch bewerten mochte diese sei vielmehr in einer allgemeinen Okonomie der Diskurse uber den Sex anzusiedeln 2 Er mochte dagegen das Regime von Macht Wissen Lust in seinem Funktionieren und in seinen Grunden 2 untersuchen die nicht durch einfache Ursache Wirkungs Ketten oder auf die Ruckfuhrung auf eine grosse Macht 3 erklarbar sind Anstatt all die infinitesimalen Gewaltsamkeiten gegen den Sex alle wirren Blicke auf ihn und alle Hullen hinter denen man ihn unkenntlich macht der einen grossen Macht zuzuschreiben soll die krebsartig wuchernde Produktion von Diskursen uber den Sex in das Feld vielfaltiger und beweglicher Machtbeziehungen getaucht werden 3 Theoretisches Vorverstandnis BearbeitenDer Begriff Dispositiv Bearbeiten Ein Dispositiv besteht nach Foucault aus vielfaltigen Regeln Aussagen Praktiken und Institutionen es organisiert und steuert Machtbeziehungen indem es Diskurse anregt die ein bestimmtes Wissen hervorbringen welches das Denken und Verhalten des Menschen zu sich selbst und zur Welt beeinflusst Dieses Wissen fliesst in das Dispositiv zuruck z B in der Beichte was dafur sorgt dass Macht in Wissen und Wissen in Macht umschlagen kann Ein Dispositiv lasst sich so als Komplex von Bedingungen beschreiben die dazu fuhren dass bestimmte Aussagen als falsch oder wahr akzeptiert werden 4 Foucaults Machtverstandnis Bearbeiten Gegenuber den ausseren Wirkungsweisen der Macht stellt Foucault die innere Durchdringung der Machtverhaltnisse die den Einzelnen zu einem Subjekt konstituiert in den Vordergrund Gegenuber der Vorstellung einer repressiven das Individuum und seine Sexualitat einschrankenden Macht die das was sie unterdruckt immer schon als gegeben voraussetzen muss entwickelt Foucault ein polyzentrisches Modell einer das moderne Individuum und seinen Korper durchziehenden und konstituierenden produktiven Macht Die Analyse der Macht ist folglich kein Selbstzweck sondern zielt darauf ab die Art und Weise zu untersuchen in der und durch die das Individuum sich selbst in ein Subjekt verwandelt und als Subjekt einer Sexualitat erkennt und konstituiert 5 Die zentrale Bedeutung der Sexualitat Bearbeiten Die Sexualitat dient nach Foucault in den gesellschaftlichen Machtverhaltnissen zum einen der Disziplinierung der Korper und zum anderen der Regulierung der Bevolkerung Bio Macht Sexualitat besitzt hier die Funktion eines Scharniers bei der sich diese beiden Formen der Macht Disziplinierung des Korpers des Einzelnen und Regulierung der Bevolkerung koppeln Somit wird die Sexualitat als korperliches Verhalten konstituiert das Disziplinierungstechniken zuganglich ist anderseits werden ihr aufgrund der mit ihr in Verbindung gebrachten Zeugung biologische Prozesse der Bevolkerung zugeschrieben 6 Das Dispositiv bildet dabei ein produktives Zusammenspiel aus diskursiven und institutionellen nicht diskursiven Elementen Das Konzept Sexualitatsdispositiv BearbeitenSprechen uber den Sex Diskurs und Diskursstrategien Bearbeiten Fur seine Analyse von Machtbeziehungen reichen Foucault die an der Okonomie ausgerichteten Methoden etwa die des historischen Materialismus nicht aus Die Rede uber den Sex berge nicht nur okonomische Effekte Prostitution Therapie Klinik sondern einen Diskurs in dem der Sex die Enthullung der Wahrheit die Umkehrung des Weltlaufs die Ankundigung eines kunftigen Tages und das Versprechen einer Gluckseligkeit miteinander liiert sind 7 Dieser Diskurs stutze die abendlandische Form der Predigt Eine grosse sexuelle Predigt die ihre scharfsinnigen Theologen und ihre popularen Kanzelredner hat durchzieht seit einigen Jahrzehnten unsere Gesellschaften geisselt die alte Ordnung denunziert die Heucheleien und besingt das Recht des Unmittelbaren und des Wirklichen sie lasst uns von einem neuen Jerusalem traumen 7 Sexualitat werde durch moderne Machtbeziehungen nicht unterdruckt unterliege zugleich dennoch Verboten Foucault betrachtet diese als taktischen Bestandteil einer Diskursstrategie den Sex moralisch akzeptierbar und technisch nutzlich zu machen 6 Die Verbote beeinflussen somit das Sprechen uber Sex und verleihen ihm einen Hauch von Revolte vom Versprechen der Freiheit und vom nahen Zeitalter eines anderen Gesetzes Foucault 1979 6 Der Wunsch uber den Sex zu sprechen wird nach Foucault durch das Suggerieren von Befreiung beeinflusst 6 8 Insofern steht das Sprechen uber den Sex im Mittelpunkt von Foucaults Machtanalyse Um die dabei erzeugten Macht Wissens Beziehungen und Krafte zu verstehen steht fur ihn nicht im Mittelpunkt was uber den Sex gesagt wird sondern dass uber den Sex gesprochen wird wer und wo uber den Sex spricht und wie das Gesagte gesammelt archiviert und verbreitet wird Damit legt er seine Blickrichtung auf die Diskursivierung und nicht auf die Positionen und Meinungen uber den Sex wie herkommliche Machttheorien sie im Blick hatten 9 Macht Wissen und Sexualitat Bearbeiten Macht definiert Foucault sehr weit und engverbunden mit dem Wissen als Wissens Macht Sie bildet sich aus den verschiedenen Diskursen uber den Sex Sprechen uber den Sex Beichte wissenschaftliche Beschaftigung mit Fragen der menschlichen Reproduktion Diskurse uber Fortpflanzung und Vererbung Familie Sexualitat aber auch psychoanalytische Verfahren und bildet zusammen mit Institutionen Universitat Kirche Medizin Psychiatrie das Kontroll und Steuerungsinstrument eines Wahrheitsdispositivs Sexualitatsdispositiv 10 Eine zentrale Bedeutung fur die Entstehung dieser Wissen Macht Diskurse uber den Sex hat dabei die scientia sexualis unter der Foucault die wissenschaftliche Beschaftigung innerhalb der europaischen Zivilisation mit dem Themenfeld Sexualitat fasst Fragestellungen Bearbeiten Mit Hilfe des Sexualitatsdispositivs wollte Foucault ein Instrumentarium zur Analyse gesellschaftlicher Machtverhaltnisse entwickeln Es gehe nicht darum weshalb ein bestimmtes System oder eine staatliche Struktur es notig habe ein Wissen uber den Sex einzurichten oder wahre Diskurse uber den Sex zu produzieren 1 Es gehe auch nicht um die Frage welches Gesetz der Regelmassigkeit des sexuellen Verhaltens und der Einheitlichkeit des Sprechens daruber zugrunde lag 1 Stattdessen geht es ihm fur diese neue Analyseform um die Fragen Welches sind die ganz unmittelbaren die ganz lokalen Machtbeziehungen die in einer bestimmten historischen Form der Wahrheitserzwingung um den Korper des Kindes am Sex der Frau bei den Praktiken der Geburtenbeschrankung usw am Werk sind 1 Wie machen sie diese Arten von Diskursen moglich und wie dienen ihnen umgekehrt diese Diskurse als Basis 1 Wie wird das Spiel dieser Machtbeziehungen miteinander zur Logik einer globalen Strategie die sich im Ruckblick wie eine einheitlich gewollte Politik annimmt 11 Sexualitat als pathologisches Gebiet Bearbeiten Als eine besondere Ausformung mittels Diskursivierung entsteht ferner ein pathologisches Gebiet der Sexualitat Dadurch wird diese zuganglich fur Kontrolle und Regulierung sowie fur eine Unterscheidung von normaler und abweichender Sexualitat Damit ist es moglich Sexualitat fur Institutionen wie Wissenschaft und Medizin sowie deren Experten zuganglich zu machen Zwischen dem Experten und dem Individuum besteht eine Machtbeziehung Die Differenzierung in abweichend bietet die Moglichkeit des Eingriffs z B durch Therapie in die Sexualitat Die Pathologie begrundet erstens eine standige Kontrolle und Regulierung der Sexualitat und zweitens eine Differenzierung der Sexualitat in eine normale und eine abweichende Sexualitat Die abweichende Sexualitat wird u a dem Bereich der Medizin uberantwortet dort von Experten untersucht und schliesslich therapeutischen und normalisierenden Interventionen unterzogen 8 Interventionen werden dabei vom Individuum als Selbstfindungsprozess d h identitatsstiftend wahrgenommen insofern die Sexualitat nicht nur als Verhalten angesehen wird sondern auch als Wesenskern des Individuums Diese Interventionen wirken umso effektiver je mehr sie mit Selbstfindungsprozessen des Individuums verbunden werden Diese Verbindung setzt voraus dass die Sexualitat innerhalb der Machtbeziehungen nicht nur als Verhalten des Individuums sondern insbesondere als dessen Wesenskern betrachtet wird 8 Das Sexualitatsdispositiv als Netz von Machtbeziehungen zeigt sich beispielsweise im Gesprach mit den medizinischen Experten Die Gesprache mit den medizinischen Experten sind zum einen Bestandteil der medizinischen Diagnostik und Therapie zum anderen eine Art Selbstfindungsprozess des Individuums Wesentlicher Bestandteil dieses Selbstfindungsprozesses ist die Praxis des Gestandnisses in dem es zunachst uberwiegend um die sexuellen Begehren der Individuen ging Dem medizinischen Experten eroffnet sich in der Praxis des Gestandnisses ein bis dahin verborgenes Wissen uber die sexuellen Begehrlichkeiten in denen fortan die Ursache fur Abweichungen und Krankheiten gesehen werden Die Individuen meinen weiterhin sich durch ihr Gestandnis selbst zu erkennen Dabei konstituieren sie sich im Prozess des Gestehens eine Identitat 12 Das Gestandnis ist vergleichbar mit dem Mechanismus der Beichte So wie durch den Akt des Sprechens mit einem Experten eine Art Lauterung suggeriert wird die zu ihrer Heilung beitragen soll Durch die Praxis des Gestandnisses werden die Technologien der Regulierung und Normierung mit den Machtwirkungen auf die Individuen verbunden sie dringen quasi in die Individuen ein 8 Rezeption und Wirkung BearbeitenDer Wille zum Wissen frz La volonte de savoir der erste Band von Foucaults Sexualitat und Wahrheit in dem Foucault das Sexualitatsdispositiv entwickelt gilt als einer der Grundungstexte der Gender und Queer Theory 5 um Judith Butler Literatur BearbeitenMichel Foucault Dispositive der Macht Uber Sexualitat Wissen und Wahrheit Merve Berlin 1978 ISBN 3 920986 96 2 Michel Foucault Der Wille zum Wissen Sexualitat und Wahrheit 1 Aus dem Franzosischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter Frankfurt 1987 ISBN 978 3 518 28316 5 Originaltitel Histoire de la sexualite Vol 1 La volonte de savoir Gallimard Paris 1976 Kathrin Braun Menschenwurde und Biomedizin Zum philosophischen Diskurs der Bioethik Frankfurt New York 2000 ISBN 3 593 36503 0 insbesondere zur Bedeutung des Gestandnis im Sexualitatsdispositiv Dorothe Obermann Jeschke Sexualitat und Normalitatsgebot In dieselbe Eugenik im Wandel Kontinuitaten Bruche und Transformationen Eine diskursgeschichtliche Analyse Duisburger Institut fur Sprach und Sozialforschung Hrsg Edition DISS Band 19 Unrast Munster 2008 ISBN 978 3 89771 748 0 Dissertation Universitat Duisburg Essen 2007 277 Seiten Weblinks BearbeitenDispositiv Memento vom 25 Mai 2010 im Internet Archive Matthias Rothe und Wojtek Nowak Europa Universitat Viadrina in Frankfurt Oder Einzelnachweise Bearbeiten a b c d e f Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 97 a b Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 18 a b Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 98 Dispositiv Memento vom 25 Mai 2010 im Internet Archive Matthias Rothe und Wojtek Nowak a b Gerald Posselt produktive differenzen forum fur differenz und genderforschung Wien 6 Oktober 2003 a b c d Obermann Jeschke 2008 S 40 a b Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 17 a b c d Obermann Jeschke 2008 S 41 Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 22 f Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 29 Michel Foucault Der Wille zum Wissen Frankfurt 1987 S 97 f Obermann Jeschke 2008 S 41 Zur Praxis des Gestandnisses verweist Obermann Jeschke auf Kathrin Braun 2000 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sexualitatsdispositiv amp oldid 230064822