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Als Risikotheorie auch Risikostrategie werden die auf Admiral Alfred von Tirpitz zuruckgehenden theoretischen Leitgedanken hinter dem Bau der deutschen Hochseeflotte Risikoflotte zwischen 1897 und 1918 bezeichnet Admiral Alfred von Tirpitz Inhaltsverzeichnis 1 Begriffshintergrund 2 Die Theorie 3 Politische Rezeption im In und Ausland 4 Literatur 4 1 Politische Memoiren und Selbstzeugnisse 4 2 Wissenschaftliche WerkeBegriffshintergrund BearbeitenDer Name Risiko zur Bezeichnung des tirpitzschen Konzepts ist in doppelter Weise zu verstehen Zum einen sei der deutsche Flottenbau nach Tirpitz Auffassung in seinen ersten Jahren einem gewissen Risiko ausgesetzt Dieser ergabe sich daher dass die deutschen Aufrustungsanstrengungen einen gewissen zeitlichen Gefahrenkorridor von mehreren Jahren uberstehen mussten bis die deutsche Flotte stark genug sei um sich auch und gerade gegen einen britischen Angriff behaupten zu konnen Die Moglichkeit eines britischen Angriffes ergab sich nach Tirpitz aus der Befahigung und der Neigung der britischen Verantwortlichen einen in der Zukunft potentiell gefahrlichen Gegner fruhzeitig durch Praventivaktionen auszuschalten so lange dieser noch relativ schwach und angreifbar sei Als historische Erfahrung die eine solche Risikoannahme rechtfertigen wurde verwies er insbesondere auf den Angriff der Royal Navy auf die im Aufbau befindliche danische Flotte im Jahr 1805 Diese hegte auch ehrgeizige Aufrustungsplane die zum fraglichen Zeitpunkt jedoch noch nicht weit fortgeschritten waren Wenn der Risiko Zeitraum relativer maritimer Schwache jedoch durchschritten sei so das Tirpitzsche Kalkul wurde sich das Attribut Risiko nicht mehr auf Deutschland beziehen sei die Flotte nicht mehr das Objekt das einem Risiko ausgesetzt sei sondern wurde sie vielmehr zu dem Subjekt werden das fur andere namentlich Grossbritannien ein Risiko darstellte Tirpitz argumentierte dass die deutsche Hochseeflotte deren Aufbau freilich eine riskante Angelegenheit sei nach ihrer Fertigstellung fur Grossbritannien ein derart grosses marinepolitisches und da Grossbritanniens Grossmachtstellung auf seiner Flotte beruhte gesamtpolitisches Risiko darstellen wurde dass dieses durch die Existenz der Risikoflotte zu einer deutschlandfreundlichen Politik veranlasst wurde Die Theorie BearbeitenAlfred von Tirpitz wurde 1897 von Kaiser Wilhelm II als Staatssekretar ins Reichsmarine Ministerium berufen um den von dem deutschen Monarchen angestrebten Aufbau einer starken Flotte die dem nach einem Platz an der Sonne Bernhard von Bulow strebenden Deutschen Reich zu Macht und Geltung als Kolonial und Seemacht verhelfen sollte In der Uberzeugung dass der Bau einer Flotte die stark genug ware um die britische Marine besiegen zu konnen eine Sache der Unmoglichkeit sei entwickelte Tirpitz den Gedanken einer so genannten Risikoflotte Tirpitz Grundannahme war dass eine deutsche Flotte nicht notwendigerweise stark genug sein musse um die Royal Navy zu besiegen um das Vereinigte Konigreich zu einer deutschfreundlichen Marine und Gesamtpolitik zu bewegen sondern dass es bereits hinreichen wurde eine Flotte aufzubauen die stark genug ware um ihre Zerstorung durch Grossbritannien zu einem Pyrrhussieg zu machen Grossbritannien so Tirpitz Uberlegung konne es sich nicht leisten sich auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit einer anderen Seemacht einzulassen wenn diese trotz numerischer und qualitativer Unterlegenheit ihrer Flotte stark genug sei um bei ihrer Zerstorung durch die Royal Navy ihrerseits grosse Teile derselben zu zerstoren Ein derartiger Sieg der Briten ware nach Tirpitz in den Augen der Inselmacht derart teuer erkauft dass er sinnlos ware da er unweigerlich den Verlust der britischen marinepolitischen Dominanz an eine dritte Seemacht bedeuten wurde die nach dem Verlust grosser Teile der britischen Flotte im Zuge von deren Sieg uber die deutsche Flotte plotzlich starker dastunde als diese Demnach konne Grossbritannien sobald erst einmal eine deutsche Flotte von einer bestimmten Grosse im Verhaltnis zur britischen Flotte erreicht sei gar nicht umhin Deutschlands Freundschaft zu suchen wenn es seine maritime Grossmachtstellung bewahren wolle Die Risikoflotte werde demnach wahrscheinlich zu einem bundniserzwingenden Instrument Orth in den Handen der kaiserlichen Aussenpolitik werden zumindest werde sie aber die Briten zu einer wohlwollenden Neutralitat gegenuber Deutschland in zukunftigen europaischen Krisen veranlassen Politische Rezeption im In und Ausland BearbeitenKaiser Wilhelm und Bernhard von Bulow als Aussenminister und Reichskanzler der entscheidende Mann der deutschen zivilen Regierung in den fraglichen Jahren liessen sich von Tirpitz Rustungs Theorie und ihren vermeintlichen politischen Konsequenzen uberzeugen und erhoben diese zur heimlichen Leitlinie der deutschen Flottenpolitik in den Jahren von 1899 bis zum Ersten Weltkrieg Offiziell wurden die geheimen Risiko Uberlegungen nicht als Hintergrund der Entscheidung zum Bau der Hochseeflotte angegeben Insbesondere die britische Politik und Presse welche die selbstverstandlich geheim gehaltenen tirpitzschen Denkschriften zwar nicht kannte die Absichten hinter dem deutschen Flottenbau jedoch auf Grundlage der ausseren Geschehnisse Schiffs und Stutzpunktbauten erahnen konnte versuchte man zu beschwichtigen und uber die marinepolitischen Absichten des Deutschen Reiches zu tauschen Die Flottengesetze von 1899 1902 und 1912 die die Rustungsanstrengungen des deutschen Reiches koordinierten sowie die manifesten Ergebnisse des Flottenbaus imposante Schiffsbauten insbesondere so genannte Dreadnoughts losten in der britischen Offentlichkeit zunehmende Unruhe bis hin zu Besturzung aus am deutlichsten sichtbar im Naval Scare von 1909 Tirpitz britische Gegenspieler die Marineminister Tweedmouth 1905 1908 McKenna 1908 1911 und Churchill 1911 1915 sowie die Flottenchefs Fisher Wilson und Battenberg gingen schliesslich dazu uber der in ihren Grundgedanken durchschauten Risikostrategie ihrerseits durch gewaltige britische Rustungsanstrengungen entgegenzusteuern Deutsch Britisches Wettrusten Der Kerngedanke ihrer Massnahmen u a Dreadnought Programm war einen genugend grossen Vorsprung der britischen Marine in Qualitat und Quantitat gegenuber der deutschen zu sichern um das Risikokonzept scheitern zu lassen d h es sollten im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der Hochseeflotte derart grosse Reserven an Mannschaften und vor allem modernen Schiffen zur Verfugung stehen dass selbst nach einem teuer erkauften Sieg uber die deutsche Flotte die britische Flotte der nachstgrosseren Seemacht noch derart uberlegen ware dass die britische Suprematie auf dem Meere gegen diese unangefochten bliebe Das Risikokonzept beziehungsweise dessen praktische Vergegenstandlichung der Bau zahlreicher deutscher Schlachtschiffe trug in erheblicher Weise zu Verschlechterung der deutsch britischen bilateralen Beziehungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bei Das aussenpolitische Klima des Misstrauens das schliesslich zum Weltkrieg fuhrte sowie insbesondere die britische Neigung und schliesslich die praktische Entscheidung der Briten zum Eintritt in den Krieg auf Seiten des franzosisch russischen Bundnisses wurde durch die deutsche Risikoflotte nach Auffassung zahlreicher Historiker Marder Mommsen Hildebrand Hillgruber in erheblichem Masse gefordert Eine ausdruckliche Bestatigung fur diese Auffassung durch britische politische Entscheidungstrager der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg findet sich unter anderem in den Kriegserinnerungen David Lloyd Georges und Winston Churchills In erheblichem Masse trug die dem Gedanken der Risikotheorie verpflichtete deutsche Flottenpolitik auch nach nahezu einhelliger Auffassung der Forschung dazu bei die von Edward Grey ministeriell geleitete britische Aussenpolitik gegen Deutschland aufzubringen So wird unter anderem die Entscheidung die Entente cordiale mit Frankreich zu suchen auf die Erwagung der britischen Fuhrung zuruckgefuhrt aufgrund der immer deutlicher werdenderen Gefahr durch die stetig anwachsende deutsche Flotte aussenpolitische Differenzen mit anderen Machten schnellstmoglich ausraumen zu mussen Das Kalkul der Risikotheorie die Briten durch den Flottenbau nach einer Phase der Verstimmung zu einer prodeutschen Politik zu veranlassen scheiterte letztlich Wichtigster Grund hierfur ist unbestrittenermassen dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in dem Deutschland und Grossbritannien sich als Feinde gegenuberstanden in jene Phase der Verstimmung fiel und sich damit die Moglichkeit einer Aussohnung nach dem Abschluss des Flottenbaus den Tirpitz in seinen Planen auf 1917 terminiert hatte zerschlug Wichtig ist zudem dass eine von Tirpitz nicht berechnete Reaktion auf britischer Seite eintrat Die Verlagerung der britisch deutschen Rivalitat auf ein anderes Feld als das des Militarischen Tirpitz Konzeption war ausschliesslich von militarischen und rustungspraktischen Erwagungen ausgegangen die in ihrer Zielfuhrung politisch sein sollten Das Feld der Diplomatie blendete er dabei vollig aus Mit der Entscheidung Grossbritanniens in Reaktion auf die zunehmende Gefahr aus Deutschland nicht die Nahe zu Deutschland zu suchen um den Feind den man nicht besiegen kann zum Freund zu machen sondern die Nahe zu anderen Machten Russland Frankreich zu suchen hatte Tirpitz nicht gerechnet So liess der Marineminister Churchill beispielsweise nahezu alle britischen Schiffe aus dem Mittelmeer abziehen um diese im Nordseeraum zu konzentrieren und wies zukunftig den Franzosen als Entente Partnern die Verantwortung fur diesen Bereich zu Im Ergebnis zerschlug sich mit der de facto wenngleich nicht formal sanktionierten bundnisartigen Annaherung dieser drei Staaten zueinander die Risikostrategie da Tirpitz wichtigste Annahme die Unfahigkeit Grossbritanniens sich nach einem Sieg uber Deutschland weiterhin gegen andere nachdrangende Rivalen durchzusetzen nichtig geworden war Mit dem politischen Zusammengehen der drei Entente Machte eroffnete sich fur Grossbritannien die Moglichkeit im Falle einer direkten Auseinandersetzung mit Deutschland die zu erwartenden Verluste an Schiffen und Menschen nicht langer alleine tragen zu mussen sondern diese in Relation zur Grosse der Flotten aller drei Partner am Flotten Gesamtaufkommen entsprechender Relation auf alle Bundnispartner verteilen zu konnen Das Ergebnis ware dass die Verluste der britischen Flotte die eine Vernichtung der deutschen Flotte mit sich gebracht hatte deutlich geringerer ausgefallen waren als von Tirpitz kalkuliert Des Weiteren ware aufgrund des Dreier Bundnisses aller Wahrscheinlichkeit nach nach einer deutschen Niederlage kein weiterer Rivale mehr vorhanden gewesen der Grossbritanniens Vormachtstellung zur See hatte streitig machen konnen da Frankreich und Russland mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht unmittelbar nach einem Krieg gegen Deutschland gegen ihren eigenen Verbundeten zu Felde gezogen waren und eine unmittelbare Bedrohung der britischen Flotte somit nicht erwartet zu werden brauchte Daruber hinaus ware Grossbritannien aufgrund der proportional zu ihrer Grosse gleichmassigen Schwachung der ubrigen alliierten Flotten im Zuge einer Auseinandersetzung mit der deutschen Flotte aller Wahrscheinlichkeit nach diesen weiterhin uberlegen gewesen Literatur BearbeitenPolitische Memoiren und Selbstzeugnisse Bearbeiten Winston Churchill The World Crisis 1923 1931 Edward Grey Funfundzwanzig Jahre Politik 1892 1916 Memoiren In zwei Banden Munchen 1926 David Lloyd George Mein Anteil am Weltkrieg Kriegsmemoiren Berlin 1933 1936 Alfred von Tirpitz Erinnerungen Leipzig 1920 Alfred von Tirpitz Der Aufbau der deutschen Weltmacht Stuttgart 1924 Wissenschaftliche Werke Bearbeiten Arthur Marder From the dreadnought to Scapa Flow The Royal Navy in the Fisher Era 1904 1919 London 1966 1972 Rolf Hobson Imperialism at sea Naval strategic thought the ideology of sea power and the Tirpitz Plan 1875 1914 Boston 2002 ISBN 0 391 04105 3 Wolfgang Petter Deutsche Marinegeschichte der Neuzeit Munchen 1977 ISBN 3 7637 0307 1 Gary E Weir Building the Kaiser s navy The Imperial Navy Office and German industry in the von Tirpitz era 1890 1919 Shrewsbury 1992 ISBN 1 55750 929 8 Volker Berghahn Der Tirpitz Plan Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II Dusseldorf 1971 ISBN 3 7700 0258 X Jonathan Steinberg Yesterday s deterrent Tirpitz and the birth of the German battle fleet London 1965 ISBN 0 7512 0076 X Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Risikotheorie Militar amp oldid 238303684