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Meine Reise zu Chaplin Ein Encore ist eine autobiographische Erzahlung von Patrick Roth aus dem Jahr 1997 Inhaltsverzeichnis 1 Uberblick 2 Inhalt 2 1 Kapitel 1 2 2 Kapitel 2 2 3 Kapitel 3 2 4 Kapitel 4 2 5 Kapitel 5 3 Form 3 1 Erzahlsituation 3 2 Autobiographische Bezuge 3 3 Mythologische Bezuge 3 4 Film Bezuge 3 5 Sprache und Stil 4 Rezeption 5 Ausgaben 6 Literatur 7 Einzelnachweise 8 WeblinksUberblick BearbeitenDie in der literarischen Tradition des Kunstlerromans stehende Erzahlung handelt von der inneren Verbundenheit des Protagonisten eines Filmstudenten mit Charles Chaplin und seiner Kunst Die grosse Faszination die das Filmgenie auf den jungen Mann ausubt manifestiert sich in der Reise zu Chaplin am Neujahrstag 1976 Sie wird ruckblickend mit dem Ziel rekonstruiert Erkenntnis aus den Wirkungen Chaplins auf das eigene Leben zu ziehen Inhalt BearbeitenKapitel 1 Bearbeiten Die Erzahlung setzt in medias res der ersten Begegnung des Funfjahrigen mit Chaplin ein Die zerkratzten Schwarzweiss Bilder die der fieberkranke Junge im Fernseher sieht zeigen einen unglaublich schnellen komischen Strolch der unentwegt Streiche spielt einen mit dem das Kind sich identifizieren kann Der Kleine weigerte sich schon in seinem ersten offentlich gezeigten Streifen Kid Auto Races in Venice der Kamera aus dem Weg zu gehen verkratzte uns kraftig das Glas hinter dem wir sassen und glotzten und sagte damit Ja schaut her Her zu mir Wie ich die Kurve kratze Beisst euch durch Hinterlasst Spuren 1 Die zweite Begegnung ereignet sich unter dem Eindruck des Films Doktor Schiwago den der Dreizehnjahrige in einem Karlsruher Kino sieht Am nachsten Tag fallt sein Blick auf eine Mitschulerin die Geraldine Chaplin ahnlich sieht Chaplins Tochter spielte im Film die verlassene Ehefrau und hatte das Mitgefuhl des Heranwachsenden erregt Das Bild ihres Doubles auf dem Schulhof stosst mit Macht in den Jungen der sich Hals uber Kopf in das Madchen verliebt Die Episode erinnert den Erzahler an die amerikanische Redensart she sends me die das Sich Verlieben ins sinntrachtige Bild der Reise fasst der Gesandte dieser reisend Liebende dient immer Dient ohne s zu wissen dem Gott Eros dem alles Lieben alles Fragen gilt Dem daher alle grossen Reisen gelten He sends you 2 Die dritte Begegnung ereignet sich in Freiburg zu Beginn der siebziger Jahre Der Gymnasiast ist zum Studenten gereift der nach einer Theaterprobe in der Wohnung seiner amerikanischen Anglistik Dozentin zufallig auf ein Chaplin Plakat stosst Chaplin erscheint als Tramp auf einer Quai Treppe mit einer Blume in der Hand sitzend Das Poster ist an der Tur angebracht hinter der sich die Antragsformulare fur das Auslandsstipendium befinden Sie werden noch in der Nacht ausgefullt und abgeschickt Kapitel 2 Bearbeiten Schauplatz der Handlung ist Los Angeles Der mit einem Stipendium ausgestattete Student belegt an der Filmschule der Universitat Kurse Seine Hauptbeschaftigung ist es silent movies nach eigenem Drehbuch anzufertigen Story und Charaktere sind nebensachlich was zahlt ist allein die Formsprache die von Regisseuren wie Eisenstein Welles Hitchcock Sternberg Ray Peckinpah und Kurosawa angeeignet wird Alles war Form Wir waren im Form Rausch Kamerawinkel Tiefenscharfe Beleuchtung Bildkomposition und Ausschnitt Bewegung der Kamera zum Schauspieler des Schauspielers zur Kamera Sonst hatten wir Augen fur nichts 3 Die vierte Begegnung widerfahrt dem filmverruckten Studenten in einem kleinen Programmkino namens Encore In dem auf alte Filme spezialisierten Revival House sieht er zum ersten Mal Lichter der Grossstadt City Lights 1931 Insbesondere die Schlusssequenz die das Erkennen von Blumenmadchen und Tramp ins Bild setzt ruhrt ihn zu Tranen Ich wusste nicht wie der Film gemacht war War glucklich so hilflos zu sein Alles Suchen nach Form war wie weggesprengt Das Unnachahmliche konnte nur angestaunt werden 3 Noch am selben Abend sucht er die Wirkungsstatten Chaplins in Los Angeles auf und fasst den Plan ihn zu besuchen Kapitel 3 Bearbeiten Am Neujahrstag 1976 sitzt der junge Mann im Zug nach Vevey und verfasst wahrend der Fahrt einen Brief an Chaplin in dem er von City Lights berichtet Der Film sei ihm eine shell of all emotions die seine Wahrnehmung grundlegend verandert habe Ein Taxi bringt den Reisenden zum oberhalb gelegenen Anwesen Chaplins Der dem Alkohol ergebene Fahrer erinnert den Erzahler an den Typus des Trunkenbolds eine von Chaplins Standardrollen Auch die ortliche Kirche die dem Heiligen Sankt Martin dem Schutzpatron der Trinker geweiht ist enthalt eine unterschwellige Referenz an den heidnischen Dionysos Kult die Vinalien die im Mittelalter durch den Festtag des Heiligen Martin ersetzt wurden In Chaplin der sich gern als Pan stilisierte scheint das heidnische Erbe noch lebendig Vor dem Anwesen angelangt stellt sich die Frage des Zugangs Chaplins Haus liegt hinter einem schmiedeeisernen Tor von hohen Hecken umzaunt Einen Briefkasten der das weisse Kuvert des jungen Mannes aufnehmen konnte gibt es nicht An der Schwelle zu Chaplins Reich untatig verharrend gibt sich der Reisende seinen Phantasien und Reflexionen hin Das Motiv des tranenfleckigen Briefs kommt in den Sinn es ist aus dem Lateinunterricht noch gelaufig war im Stowasser in der Zeile Littera lituras habet gegenwartig Aus seinen Gedanken uber die von Tranen sichtbar unsichtbar gemachten Worte der Briefschreiberin Ovids erwachend erkennt der Reisende das Tor zu Chaplin plotzlich offen Vorbei am angeketteten bellenden Hund fuhrt sein Weg in einem grossen Bogen zum Hauptportal Am Lieferanteneingang gelingt es den Brief abzugeben Chaplins Bedienstete entlasst den Boten mit der Zusage das Kuvert personlich zu uberreichen und verspricht den jungen Mann noch einmal zu empfangen ihm die Antwort Chaplins mitzuteilen Kapitel 4 Bearbeiten Den Brief bei seinem Adressaten wissend mutet die Welt nicht mehr fremd an Die Zeit des Wartens zu uberbrucken begibt sich der junge Mann in den nahe gelegenen Wald Im Mittelpunkt seines Nachdenkens steht die Frage nach dem Grund der unmassigen Chaplin Begeisterung Ein Gedankenspiel nach der Art eines geistigen Exerzitiums kommt auf Insofern man die Perspektive der Todesstunde einnimmt und alles vom Ende her sieht lasst sich das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden 4 In der Imagination des jungen Mannes liegt Chaplin auf dem Totenbett und lasst sein Leben noch einmal Revue passieren Kein einziger Film hat vor seinem harten Urteil Bestand Als auch City Lights die Weisung Verbrennen ereilt greift der junge Mann ein kampft um den geliebten Film und rettet ihn vor der sicheren Vernichtung Die Einsicht dass unter allen Dingen die Chaplin je hervorgebracht hat City Lights das Wertvollste darstellt ist Anlass einer eingehenden Analyse mit dem Ergebnis dass die letzte Sequenz die Wiederbegegnung der ehemals blinden Blumenverkauferin mit dem Tramp die Essenz enthalt Wie Chaplin die Wiedererkennung mit den Mitteln des Films gestaltet darin liegt sein Rang als grosser Kunstler Wahrend der junge Mann durch den Wald spaziert vergegenwartigt er sich noch einmal die Schlussszene Der Erzahler fuhrt das einst Gesehene so in poetische Sprache dass Dichtung zum Film wird und der Leser den Text vor seinem inneren Auge zu sehen beginnt 5 Chaplin so die grundlegende Erkenntnis des Erzahlers treibt in City Lights die filmischen Mittel an eine Grenze und verneint sein eigenes Medium Er lasst etwas das man nicht sehen kann sichtbar werden Dieses Etwas ist ein Grosseres das die sichtbare Realitat ubersteigt Chaplin ist im Besitz des Geheimnisses der Sichtbarmachung des Nicht Sichtbaren er hat mit jener Szene den heiligste n Moment der Filmgeschichte geschaffen Das Erkennen des Blumenverkauferin ist kein sehendes Sehen sondern ein fuhlendes Sehen es kommt aus der Tiefe des Instinkts Wen sie vor sich hat realisiert sie erst als ihre Hand die seine beruhrt und wie im Zustand der Blindheit den Armel des Jacketts abtastet hoch zum Revers in das sie einst die Blume geflochten hat Hier ist etwas Die Hande Die wir nicht fuhlen konnen Das Fuhlen das wir nicht sehen konnen und doch kam s aus dem Sehen Wir sahen etwas sprang uber Unsichtbar Das ist der Moment Dieser des Haltens Gehaltenwerdens Erkennens Und was erkennen wir im Halten Halten der Hande Den Anderen Erkennen was nicht zu sehen war Auch im Film nicht Denn das ist die Kunst Im hochsten Moment verneint sie ihre eigenen Mittel gibt auf und geht damit ubers Ziel Der Film spricht dann Ich bin blind Als ware bruchsekundenlang die Blindheit des Madchens ihr Unvermogen zu sehen ubergesprungen auf uns Als hatte dieser Moment der Blindheit sehend gemacht 6 Kapitel 5 Bearbeiten Auf dem Ruckweg zum Anwesen bemerkt der junge Mann einen weissen Wagen der das Grundstuck verlasst und sieht sich am Ende all seiner Hoffnungen In diesem Moment des umsonst erkennt er die Torflugel noch einmal offen und uberschreitet wenig spater die Schwelle ins Haus Er erfahrt dass Oona Chaplin ihrem Mann den Brief vorgelesen und dieser vor Ruhrung geweint habe Der Briefschreiber stellt sich vor wie seine Worte durch die Stimme der Frau verlebendigt in Chaplins Ohr und weiter ins Gehirn dringen und eine Vorstellung von ihm hervorrufen Das Ziel der Reise gleichzeitig mit ihm zu sein 7 ist erreicht die Geschichte aber noch nicht zu Ende Ein Kuvert liegt auf dem Tisch darin eine private Photographie Chaplins mit einer handschriftlichen Dankbezeugung Eine letzte Phantasie kommt auf darin betritt der junge Mann das Zimmer Chaplins Der Greis schlaft in einem Sessel am Fenster auf seinen Knien liegen die ausgepackten Flugel seines Madchens eine Anspielung auf Chaplins letztes Filmprojekt Der friedlich Schlafende erscheint dem jungen Mann als Urvater und Artifex mit den Hornern Pans Das letzte Bild der Erzahlung zeigt den Reisenden unwurdig glucklich an der Seite des Butlers in Chaplins Wagen auf dem Weg zuruck zum Bahnhof Auf Chaplins Sitz halt er dessen Bild auf dem Knie Form BearbeitenErzahlsituation Bearbeiten Meine Reise zu Chaplin ist eine autobiographische Ich Erzahlung in funf Kapiteln Dem Untertitel Ein Encore frz noch einmal engl Zugabe entsprechend wird die Geschichte des Filmstudenten aus der Ruckschau und im epischen Prateritum erzahlt Die Ereignisse entfalten sich chronologisch in Stationen Die Chronologie wird an zwei Stellen mittels Ruckblenden durchbrochen in der Erinnerung an die Lekture von Chaplins Autobiographie S 27 28 und in der Erinnerung an die Meldung von Chaplins Tod zwei Jahre nach dem Besuch in Vevey S 29 30 Die Gliederung der Erzahlabschnitte orientiert sich in Kapitel 1 und 2 am Lebensalter des Protagonisten der Funfjahrige der Dreizehnjahrige der Student in Kapitel 3 bis 5 an der raumlichen Annaherung des Filmstudenten an sein Idol vor dem Tor am Lieferanteneingang im nahegelegenen Wald in Chaplins Haus in der Waschkuche in Chaplins Wagen Erzahler und Protagonist sind aufgrund der autobiographischen Fundierung des Erzahlten identisch sie sind zugleich unterschieden insofern ruckblickend erzahlt wird Der Text weist zwei Zeitebenen auf 1 die Zeit in der die Geschichte hauptsachlich spielt das Jahr 1976 und 2 die Zeit in der die Geschichte geschrieben ist das Jahr 1997 Die Zeitangaben lassen sich aus dem Text erschliessen Zum Beispiel aussert der Erzahler uber seine erste Zeit in Los Angeles Zweiundzwanzig Jahre ist das jetzt her S 21 Die Erzahlillusion wird wiederkehrend durchbrochen z B Wurde jetzt mundlich erzahlt dann stunde ich spatestens an dieser Stelle auf S 31 Besonders spurbar wird die Gegenwart des Erzahlers in Kapitel 4 wenn eine Episode aus dem personlichen Alltag in Los Angeles die Erlauterungen zu City Lights abschliessend erganzt S 64 66 Insofern die Geschichte aus der Innensicht erzahlt ist uberlagern sich erlebendes und erzahlendes Ich mit dem Effekt dass die Sichtweise des reifen Mannes von der des Filmstudenten und vice versa kaum voneinander zu trennen sind Autobiographische Bezuge Bearbeiten Viele Details aus dem Leben des 22 jahrigen Filmstudenten korrespondieren mit der Biographie des Autors das Studium der Anglistik an der Universitat Freiburg das zweisemestrige Auslandsstipendium DAAD in Los Angeles University of Southern California das Filmstudium am Cinema Department der USC und die filmpraktischen Arbeiten die filmischen Leitbilder Alfred Hitchcock Orson Welles Akira Kurosawa Charlie Chaplin das Leben als deutscher Schriftsteller in Los Angeles die auf der letzten Seite des Buchs abgebildete Photographie Chaplins mit dem handschriftlichen Zusatz Thank your letter sie ist ein Beleg fur den Faktizitatscharakter der Erzahlung die auf der Ruckseite des Umschlags abgebildete Fahrkarte ausgestellt fur eine Fahrt von Gstaad nach Vevey und zuruck mit dem Datum 1 Januar 1976 ist ein weiterer Beweis fur die faktische Wahrheit des ErzahltenMythologische Bezuge Bearbeiten Strukturmodell der Erzahlung bildet der aus der Romantik bekannte Topos der Fahrt des Schulers zum verehrten Meister Das zugrunde liegende Erzahlprinzip der Quest impliziert Individuation das Sich Bewusstwerden des eigenen Auftrags Dem mythologischen Grundschema entsprechend weist die Erzahlung typische Marchenmotive auf die Schwelle das Tor der Wachter der Brief der unwegsame Wald Sie gehoren zum Bildfeld der Initiation Weiterhin strukturieren mythologische Motive die Erzahlung und verleihen ihr eine universelle archetypische Dimension Angespielt wird u a auf Syrinx die von Pan verfolgte flotenspielende Nymphe Sie ist in der Quintanerin aufgerufen in die sich der Dreizehnjahrige verliebt als sie auf ihrer Querflote Debussys Stuck Syrinx spielt den Kult des Dionysos Bacchus Er ist im Taxifahrer lebendig der als Trunkenbold dem Gott des Weins und des Rauschs front Sankt Martin Schutzheiliger der Reisenden und Armen Gabenbringer und Reiter der seinen Mantel mitleidig mit einem Bettler teilt Uber die franzosische Ableitung seines Namens chaplain ist Chaplin mit den Capellani den Hutern der capa Mantel des Heiligen assoziiert Kerberos der dreikopfige Hollenhund am Eingang zur Unterwelt Er taucht als aggressiver Schaferhund auf an dem der Reisende auf dem Weg zum Haus vorbeimuss Der Erzahler tauft das sprungstarke Tier nach dem Protagonisten von Chaplins Film The Circus als Rex King of the Air Pan der Gott des Waldes und der Natur der es liebte Schabernack zu treiben und die Menschen zu erschrecken halb Mensch halb Ziegenbock Chaplin erscheint in der Phantasie des jungen Mannes als friedlich im Sessel eingeschlafener gottlicher Pan ausgezeichnet mit dem typischen Attribut der Horner Film Bezuge Bearbeiten Die Erzahlung steckt voller Filmverweisungen insbesondere auf die Filme Chaplins aus der gesamten Schaffensperiode wird angespielt Kid Auto Races in Venice 1914 The Immigrant 1917 The Pilgrim 1923 The Circus 1928 The Police 1916 The Kid 1921 The Goldrush 1925 Modern Times 1936 The Great Dictator 1940 Monsieur Verdoux 1947 Limelight 1952 Die Filme werden grosstenteils assoziativ eingestreut wahrend City Lights 1931 zum Anlass und Gegenstand des Erzahlens wird Das Sehen von City Lights lost die Reise zu Chaplin erst aus Auf dem Hohepunkt der Geschichte evoziert der Erzahler das Finale des Films um es einer eingehenden Analyse zu unterziehen Die Auslegung der Szene enthalt den Schlussel zur Chaplin Faszination des jungen Mannes Neben den Filmen Chaplins finden weitere Werke verehrter Regisseure Erwahnung Dr Schiwago 1965 David Lean und Citizen Kane 1941 Orson Welles zu den Vorbildern des Filmstudenten gehoren ausserdem Sergei Eisenstein Joseph Sternberg Alfred Hitchcock Nicholas Ray Sam Peckinpah Sprache und Stil Bearbeiten Meine Reise zu Chaplin gilt als einer der ersten Texte in denen Roth die spezifisch filmische Erzahlweise entwickelt die ein Charakteristikum seines Schreibens ist Das visuell szenische Erzahlen das auf Unmittelbarkeit und Intensitat zielt kommt in der City Lights Passage exemplarisch zum Ausdruck Jetzt aber aus ihrer Sicht hinterm Schaufenster sehen wir s Beginnt das Lumpenmannchen sich Umzudrehen Noch gedemutigt blickt er Noch im Wenden Und da Sieht er sie Sieht er sie und Steht er still Stillstehend sieht er sie an Und alle Zeit steht still S 56 Roth arbeitet mit den lyrischen Mitteln des Zeilenstils des Enjambements der Anapher und Alliteration sowie der Interjektion Aussagen werden oftmals als Fragen formuliert mit dem Effekt das intendierte Bild im Kopf des Lesers entstehen zu lassen Roth selbst fuhrt sein Verfahren auf Drehbuch Techniken des Stummfilms zuruck insbesondere auf das Werk des Szenaristen des expressionistischen Kinos Carl Mayer dessen Stil er sich bewusst abgeschaut habe Jede Kurzzeile Mayers entspricht einem Bild einer Kameraeinstellung oder einem schauspielerisch zu betonenden Detail Das hatte etwas vom Filmstreifen selbst der wie beim editing an einer upright Moviola von oben nach unten am Auge vorbeigezogen wird Jede Zeile entspricht einem Bild einem Shot oder einer dramatisch wesentlichen Veranderung im Bild Ich gehe auf diese Sehweise uber wenn ich das Sensorium des Lesers scharfen oder neu orientieren will auf bestimmte Details Solches Fokussieren wirkt wie eine Verlangsamung Was da einsetzt ist eine andere Sichtweise auf die Welt und das in ihr Geschehende es ist als brache eine Schicht durch die schon immer unter dem Alltagsgeschehen lag und mich nun anders sehen lasst intensiver bezogener tiefer Fur mich ist es der Moment eines Ineinander und Sich Verschrankens zweier Wirklichkeiten ist ein Dissolve Erstmals in einen Erzahltext umgesetzt habe ich das in einer Sequenz von Meine Reise zu Chaplin 8 Die Geschichte arbeitet mit der Leitmotiv Technik klassischer Erzahlliteratur Sie setzt mit einer Wendung ein die an signifikanten Stellen wiederkehrt Alles beginnt im Dunkeln 9 lautet der einleitende Satz die letzte Szene eroffnet mit der Bemerkung Als wir losfuhren ins Dunkel 10 Zwischen beiden Dunkelheiten entfaltet sich die Reise des jungen Mannes Das Bild vom Anfang im Dunkeln kehrt immer dann wieder wenn ein neuer Wegabschnitt erreicht ist Der Moment des Eintretens in Chaplins Haus wird in diesem Sinn als Ubergang wahrgenommen Die Ture jetzt weit geoffnet Die Schwelle ins Haus uber die ich in Zeitlupe trete Alles beginnt im Dunkeln In einem dunklen Gang 11 Der Bedeutung des Anfangs im Dunkeln als Beginn der Bewusstwerdung ist Patrick Roth in seinen Heidelberger Poetikvorlesungen 2004 nachgegangen Alles beginnt aber im Dunkeln Die Alchemisten bezeichneten diese Phase ihres Werkes ihres opus alchemicum als Anfang Der Anfang das ist die Schwarze oder Schwarzung die nigredo von der der Alchemist sagt Wenn du siehst dass deine Materie schwarz wird freu dich denn das ist der Beginn des Werkes 12 Rezeption BearbeitenMeine Reise zu Chaplin wurde schon bei seinem ersten Erscheinen positiv aufgenommen Allerdings richteten sich einige Vorbehalte gegen die Emotionalitat der Erzahlung Die programmatische Berucksichtigung der Gefuhle in der Darstellung der Ereignisse ebenso wie die Tendenz die gegebene Alltagswirklichkeit auf eine hohere transzendente Wirklichkeit hin zu durchbrechen loste bei den Kritikern Irritationen aus Die Suddeutsche Zeitung konstatierte einen feierlichen Ton und fallweise hymnisch aufbrausende Begeisterung Roth schwebe eine Kunst vor die uns an die Schwelle des Numinosen fuhrt um sich dann von ihm widersprechen zu lassen eine Kunst also die sich vor dem verneigt was machtiger ist als sie 13 Zuspitzend heisst es in der Neuen Zurcher Zeitung Patrick Roth der seit immerhin 20 Jahren in den Staaten lebt ist ein deutscher Pathetiker seine Erzahlung sei von sich selbst ergriffen Immerhin hat der Schlusssatz dem Rezensenten selbst die Tranen in die Augen getrieben 14 Differenzierter ist das Urteil der Zeit Meine Reise zu Chaplin sei vielfaltig mit der Asthetik Chaplins verknupft Wie der Erzahler sich dem Anwesen nahert zum herrschaftlichen Haus vordringt vor dem fliegenden Hund zuruckweicht wie er flieht verschmutzt zuruckkehrt mit den Dienstboten statt dem Meister verkehrt wie er von Scham zu forschem Mutwillen wechselt von Mut zu Verlegenheit die gesamte Choreographie von Annaherung und Flucht innerlich wie korperlich real das alles ist dem Chaplin geschuldet ist ihm dargebracht von ihm erhalten He sends him Gerade im Enthusiasmus und in der offensiven Metaphysik sei Roth nah an Chaplin und seiner Unbedingtheit des Gefuhls 15 In ihrer Besprechung anlasslich der bei Wallstein erfolgten Neuauflage 2013 greifen die Salzburger Nachrichten die Vorbehalte von 1997 auf und erklaren sie mit einem generellen Gefuhlsverbot innerhalb der zeitgenossischen deutschen Literatur Die Gefuhle hat die Literatur delegiert an andere Kunstformen an die Oper und das Kino Es ist gestattet sich von einem Film beruhrt zu zeigen In der Literatur aber herrscht ein eisernes Erschutterungsverbot So tief sitzen die Vorbehalte sich einer reaktionaren Vormoderne anzubiedern sich gar einer faschistischen Einlullasthetik schuldig zu machen dass Gefuhle uberhaupt zum Verschwinden gebracht werden Bei Patrick Roth zahlen die Gefuhle alles Sie schliessen den Menschen an das unverfalschte Leben an sie geben einen Begriff davon wie tief die Schlunde der Seele sind in denen so etwas wie Heilung und sei es nur eine auf Zeit verborgen sein mag Es stimmt das ist gefahrliches Terrain auf dem Roth sich bewegt Er setzt sich ab von der Asthetik der Abgebruhten denen nichts nahegeht Der Wagemut sich derart auszusetzen ist durch das ubrigen Werk Roths begrundet Unerschrocken greift er biblische Themen auf holt das Alttestamentliche in unsere Gegenwart sucht das unangreifbar Erhabene heute Die Bibelmotive uberrollen mit derartiger Wucht den Zeitgenossen dass er nicht religios sein muss um emotional uberwaltigt zu werden Chaplins Film City Lights eine Ausstiegshilfe auf der Normalwelt wie alles andere auch was die Spiritualitat beflugelt Roths Geschichte macht Schluss mit der Durchschnittlichkeit des Erlebens 16 Ausgaben BearbeitenPatrick Roth Meine Reise zu Chaplin Suhrkamp Frankfurt am Main 1997 ISBN 3 518 40948 4 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin Der HOR Verlag Munchen 1998 ISBN 3 89584 624 4 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin Suhrkamp Frankfurt am Main 2002 ISBN 3 518 39939 X Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin Wallstein Gottingen 2013 ISBN 978 3 8353 1357 6 Literatur BearbeitenMichaela Kopp Marx Augenpoetik Yes I Can See Now In Zwischen Petrarca und Madonna Der Roman der Postmoderne C H Beck Munchen 2005 ISBN 3 406 52968 2 S 59 67 Oliver Jahraus Epiphanie als Medienereignis Patrick Roths Brief an Chaplin und seine Medienpoetik In Michaela Kopp Marx Hrsg Der lebendige Mythos Das Schreiben von Patrick Roth Wurzburg 2010 ISBN 978 3 8260 3972 0 S 241 254 Einzelnachweise Bearbeiten Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin Wallstein Gottingen 2013 S 10 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 13 a b Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 17 Diese Technik der Erkenntnisgewinnung ist von Ignatius von Loyola abgeleitet Vgl dazu Patrick Roth Ins Tal der Schatten Frankfurter Poetikvorlesungen Frankfurt 2002 S 72 76 Michaela Kopp Marx Augenpoetik Yes I Can See Now In dies Zwischen Petrarca und Madonna Der Roman der Postmoderne Munchen 2005 S 67 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 61 62 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 36 Heimsuchung Ein Gesprach mit dem Schriftsteller Patrick Roth In Cargo Film Medien Kultur Nr 15 2012 S 26 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 7 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 86 Patrick Roth Meine Reise zu Chaplin 2013 S 73 Patrick Roth Zur Stadt am Meer Heidelberger Poetikvorlesungen Frankfurt am Main 2005 S 25 26 Christoph Bartmann Naher naher mein Charlie zu dir In Suddeutsche Zeitung 4 November 1997 Andreas Nentwich Thank your letter Patrick Roths Reise zu Chaplin In Neue Zurcher Zeitung 30 Dezember 1997 Hubert Winkels Der heiligste Moment Patrick Roths wunderbare autobiographische Miniatur uber Chaplin In Die Zeit 29 Januar 1998 Anton Thuswaldner Zu Besuch bei Chaplin In Salzburger Nachrichten 24 August 2013 Weblinks BearbeitenManuela Reichart Geschichte einer Leidenschaft Rezension bei Deutschlandradio Kultur 16 September 2013 Hubert Winkels Der heiligste Moment Rezension In Die Zeit 29 Januar 1998 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Meine Reise zu Chaplin amp oldid 211785888