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Ein Brief auch Brief des Lord Chandos an Francis Bacon oder Chandos Brief genannt ist ein Prosawerk des osterreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal Es wurde im Sommer 1903 verfasst und erschien am 18 und 19 Oktober 1903 in zwei Teilen in der Berliner Zeitung Der Tag Zentrale Themen des fiktiven Briefs sind die Kritik der Sprache als Ausdrucksmittel und die Suche nach einer neuen Poetik Der Chandos Brief gilt daruber hinaus als eines der wichtigsten literarischen Dokumente der kulturellen Krise um die Jahrhundertwende Er wurde zum Gegenstand zahlloser Interpretationen in der Literaturwissenschaft Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Einordnung 3 Ausgaben 4 Sekundarliteratur 5 WeblinksInhalt BearbeitenDer Autor des Briefes ist der fiktive Philipp Lord Chandos der hier als 26 jahriges Dichtergenie im Jahre 1603 an seinen alteren Mentor schreibt den Philosophen und Naturwissenschaftler Francis Bacon Der junge Poet kann auf ein hoch gelobtes Fruhwerk zuruckblicken nun aber nach zweijahrigem Stillschweigen bezweifelt er noch derselbe zu sein wie der Verfasser seiner Gedichte Er spricht von einem bruckenlosen Abgrund der ihn von seinen Dichtungen trenne und die ich so fremd sprechen sie mich an mein Eigentum zu nennen zogere S 462 Sein fruheres Verstandnis von Dichtung Poetik beschreibt Lord Chandos zunachst so Kern seiner Dichtung war die Form die Erkenntnis der tiefen wahren inneren Form die jenseits des Geheges der Kunststucke erst geahnt werden kann die von welcher man nicht mehr sagen kann dass sie das Stoffliche anordne denn sie durchdringt es sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich Dies war mein Lieblingsplan S 462 Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine grosse Einheit geistige und korperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden ebensowenig hofisches und tierisches Wesen Kunst und Unkunst S 463f es ahnte mir alles ware Gleichnis und jede Kreatur ein Schlussel der andern S 463 Doch diese Poetik ist nun Vergangenheit Es gibt keine Einheit mehr zwischen Natur und Kunst Korper und Seele oder Sprache und Empfindung Diese Einheiten sind dauerhaft zerrissen Mein Fall ist in Kurze dieser Es ist mir vollig die Fahigkeit abhanden gekommen uber irgend etwas zusammenhangend zu denken oder zu sprechen Ich empfand ein unerklarliches Unbehagen die Worte Geist Seele oder Korper nur auszusprechen denn die abstrakten Worte deren sich doch die Zunge naturgemass bedienen muss um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze S 465 Mein Geist zwang mich alle Dinge die in einem Gesprach vorkamen in einer unheimlichen Nahe zu sehen Es gelang mir nicht mehr sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen Es zerfiel mir alles in Teile die Teile wieder in Teile und nichts mehr liess sich mit einem Begriff umspannen Die einzelnen Worte schwammen um mich S 466 Diese detaillierte zergliedernde Weltsicht fuhrt dazu dass der Detailreichtum des Gegenstandes nicht mehr adaquat durch ein Wort erfasst werden kann Es gelingt Chandos nicht mehr die Welt durch Sprache zu ordnen Die Worter werden ihm zu Wirbeln in die hinabzusehen mich schwindelt die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt S 466 Die Empfindungen dagegen werden ihm umso grosser erhabener ergreifender Kein Wort hat mehr die Fahigkeit die sanft und jah steigende Flut gottlichen Gefuhles S 467 zu erfassen Das Hinuberfliessen oder Fluidum S 468 der Empfindung zum Objekt der Empfindung lost auch die Grenzen des Subjektes auf Subjekt und Sprache waren eine Einheit nun sind sie in Auflosung begriffen Der Sprachlosigkeit folgt die innere Leere die Gleichgultigkeit S 470 Denn die heftige Empfindung muss stumm bleiben D as Ganze ist eine Art fieberisches Denken aber Denken in einem Material das unmittelbarer flussiger gluhender ist als Worte Es sind gleichfalls Wirbel aber solche die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu fuhren scheinen sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoss des Friedens S 471 Die Losung aus der Sprachkrise ist durch nach aussen hin unauffalliges sprachloses Leben eine nach innen hin neue Sprache zu erschaffen ohne Werte Moment der Epiphanie einsam mit sich und den Gegenstanden Die Konsequenz fur Chandos ist das Schreiben ganz aufzugeben und auf eine neue Sprache zu hoffen Die Sprache der Gegenstande Einordnung BearbeitenHofmannsthal war zum Zeitpunkt der Veroffentlichung 28 Jahre alt die Parallele zur Figur des gerade 26 jahrigen Lord Chandos ist unubersehbar Wie Chandos konnte Hofmannsthal auf ein hoch gelobtes Fruhwerk zuruckblicken an dem er nun gemessen werden wurde und in dessen Schatten er sich verunsichert fuhlte Allerdings ging der Abfassung des Chandos Briefs keine zweijahrige Schreibpause voraus in den Jahren bis 1902 hatte Hofmannsthal stetig Dramen und Erzahlungen produziert und an einer Habilitationsschrift gearbeitet Von einer Krise in Hofmannsthals sprachlicher Ausdrucksfahigkeit kann also nicht die Rede sein der Brief ist rhetorisch ausserst gewandt formuliert Vielmehr muss er im Kontext seines eigenen Schaffens als kunstlerisches Manifest also poetologisch gelesen werden Der Brief enthalt eine Absage an die tiefe wahre innere Form auf die ihn Stefan George eingeschworen hatte Demgegenuber formuliert er ein Verlangen nach einer Ausdrucksmoglichkeit die das Sprachliche uberwinden kann eine Sprache von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist eine Sprache in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen S 472 Die Trunkenheit der fruhen Kunst kann nicht mehr erreicht werden die Utopie einer solchen neuen Sprache die unmittelbarer gluhender ist als Worte erscheint ebenso unerreichbar Diese fast mystischen Formulierungen bilden die Basis fur Hofmannsthals Poetik nach der Jahrhundertwende Sie sind aber auch exemplarisch fur die zahlreichen heterogenen Versuche deutschsprachiger Schriftsteller sich von der Schreibweise des Fin de Siecle abzulosen und eine neue Richtung der Moderne einzuschlagen Hofmannsthal war nicht der einzige Schriftsteller der Jahrhundertwende der die Sprache als unzulanglich empfand siehe Sprachskepsis Eine ganze Reihe von Kunstformen bluhte auf in denen die Sprache weniger gebraucht wurde Tanz Ballett Pantomime Stummfilm Drama die Kunstrichtung des Expressionismus und die ornamentale Kunst des Jugendstils Man baute auf Geste und Gebarde und auf das Ornament als expressive Mittel Dem Korper traute man zu Emotionen vollstandiger zu vermitteln als es die Sprache je konnte Ausgaben BearbeitenEin Brief Von Hugo von Hofmannsthal In Der Tag Berlin Nr 489 18 Oktober 1902 Teil 1 Nr 491 19 Oktober 1902 Teil 2 Erstdruck Hugo von Hofmannsthal Ein Brief 1901 In Hugo von Hofmannsthal Das Marchen der 672 Nacht und andere Erzahlungen Wiener Verlag Wien Leipzig 1905 S 97 123 von Hofmannsthal als mangelhaft verworfener Erstdruck als Buch Hugo von Hofmannsthal Ein Brief In Hugo von Hofmannsthal Die prosaischen Schriften Band 1 S Fischer Berlin 1907 S 53 76 im Rahmen einer ersten Sammelausgabe mit von Hofmannsthal vorgenommenen Anderungen online als Scan zuganglich data onb ac at book AC00691997 Hugo von Hofmannsthal Brief des Lord Chandos an Francis Bacon Faksimile Ausgabe nach der Handschrift des Dichters aus dem Nachlass von Lili Schalk mit einem Begleittext hrsg v Rudolf Hirsch Agora Verlag Darmstadt 1975 ISBN 978 3 87008 058 7 ONB Signatur Cod Ser n 13954 HAN MAG online als Scan zuganglich data onb ac at rec AC13938138 Hugo von Hofmannsthal Ein Brief In Hugo von Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelbanden Band 7 Erzahlungen erfundene Gesprache und Briefe Reisen Fischer Frankfurt am Main 1979 ISBN 3 596 22165 X hier zitierte Ausgabe Hugo von Hofmannsthal Ein Brief In Hugo von Hofmannsthal Samtliche Werke XXXI Erfundene Gesprache und Briefe Herausgegeben von Ellen Ritter S Fischer Frankfurt am Main 1991 ISBN 3 10 731531 1 S 45 55 massgebliche kritische Ausgabe Sekundarliteratur BearbeitenWerner Kraft Der Chandos Brief und andere Aufsatze uber Hofmannsthal Agora Darmstadt 1977 ISBN 3 87008 063 9 Christian L Haart Nibbrig Rhetorik des Schweigens Suhrkamp Frankfurt am Main 1981 Andreas Harter Der Anstand des Schweigens Bedingungen des Redens in Hofmannsthals Brief Bouvier Bonn 1989 ISBN 3 416 02193 2 Helmut Koopmann Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920 Eine Einfuhrung Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1997 ISBN 3 534 08033 5 Roland Spahr Hrsg Lieber Lord Chandos Antworten auf einen Brief S Fischer Frankfurt am Main 2002 ISBN 3 10 075118 3 Hofmannsthal Jahrbuch zur europaischen Moderne 11 2003 Sonderband 100 Jahre Chandos Brief ISBN 978 3 7930 9355 8 Verlagsmeldung Heinz Hiebler Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne Konigshausen amp Neumann Wurzburg 2003 ISBN 3 8260 2340 4 Timo Gunther Hofmannsthal Ein Brief Wilhelm Fink Munchen 2004 ISBN 3 7705 3776 9 Andrea Rota Ernst Mach e le epifanie di Lord Chandos In Il Confronto Letterario Quaderni del dipartimento di Lingue e Letterature Straniere Moderne dell Universita di Pavia 44 2005 Mauro Baroni Editore ISBN 88 8209 393 X S 97 110 Wolfgang Riedel Homo Natura Literarische Anthropologie um 1900 Walter de Gruyter Berlin 1996 ISBN 3 11 015112 X S 1 40 Mario Zanucchi Nietzsches Abhandlung Ueber Wahrheit und Luge im aussermoralischen Sinne als Quelle von Hofmannsthals Ein Brief In Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 54 2010 S 264 290 Pascal Quignard La Reponse a Lord Chandos Editions Galilee Paris 2020 ISBN 978 2 7186 0995 9 Weblinks Bearbeiten nbsp Wikiquote Ein Brief Zitate data onb ac at book AC00691997 Scan von Hofmannsthal Die prosaischen Schriften Band 1 S Fischer Berlin 1907 Ein Brief S 53 76 Ein Brief Hofmannsthal im Projekt Gutenberg DE ungesicherte Fassung Normdaten Werk GND 4191933 6 lobid OGND AKS VIAF 198611007 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ein Brief Hofmannsthal amp oldid 230708081