Das periodische System (Originaltitel: Il Sistema Periodico) ist eine Sammlung von 21 kurzen Geschichten des italienischen Autors und Chemikers Primo Levi, die bis auf wenige Ausnahmen einen direkten autobiographischen Bezug haben. Es ist nach dem Periodensystem der Elemente benannt. Das italienische Original wurde 1975 veröffentlicht, die deutsche Übersetzung von Edith Plackmeyer erschien 1979 im Aufbau-Verlag in der DDR und 1987 beim Hanser Verlag in der BRD. Im Oktober 2006 wählte die Royal Institution of Great Britain das Buch zum „best science book ever“ (etwa „besten populären Wissenschaftsbuch aller Zeiten“).
Das Periodische System ist nach Se questo è un uomo (dt. Ist das ein Mensch?), das seine Zeit in Auschwitz beschreibt, und La Tregua (dt. Die Atempause), in dem er von seiner Irrfahrt durch Osteuropa nach der Befreiung aus dem KZ berichtet, sein drittes autobiografisches Werk.
Inhalt Bearbeiten
In 21 Kapiteln, die jeweils nach einem chemischen Element benannt sind, erzählt Levi teilweise autobiographische, teilweise fiktionale Geschichten. Die Benennung der einzelnen Kapitel nach einem Element hat inhaltliche Bezüge zum Kapitel oder vergleicht die chemischen Eigenschaften dieses Elements mit den geschilderten Situationen. Die Kapitel gehen von Levis Herkunft als piemontesischer Jude über seine Ausbildung zum Chemiker, seine Erfahrungen als antifaschistischer Partisan, seine Gefangenschaft in Fossoli und im KZ Auschwitz bis zu seinem Leben als Industriechemiker nach dem Zweiten Weltkrieg.
Kapitel Bearbeiten
Die Beschreibungen der fiktionalen Kapitel sind – wie die entsprechenden Kapitel im Buch – kursiv gesetzt.
- Argon
- Wasserstoff
- Zink
- Eisen
- Kalium
- Nickel
- Blei
- Quecksilber
- Phosphor
- Gold
- Cer
- Chrom
- Schwefel
- Titan
- Arsen
- Stickstoff
- Zinn
- Uran
- Silber
- Vanadium
- Kohlenstoff
Nachwort
- Für die deutschsprachige Ausgabe des Hanser-Verlages schrieb Natalia Ginzburg ein Nachwort, das wie die Anmerkungen von Barbara Kleiner übersetzt wurde, die auch andere Werke Levis übertragen hat. Trotz des gleichen Nachnamens (der Geburtsname von Natalia Ginzburg ist Levi) sind sie nicht direkt miteinander verwandt. Es verbindet sie aber ein ähnlicher gesellschaftlich-kultureller Hintergrund als italienische Juden und Erfahrungen während der Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Ginzburg legt auch einen starken Aspekt auf diesen gemeinsamen Hintergrund, etwa die Hälfte des Nachwortes geht auf das erste Kapitel Argon ein, in dem Levi seine Herkunft als piemontesischer Jude literarisch verarbeitete. Auch die Erläuterungen der restlichen Kapitel erfahren hier weniger eine naturwissenschaftliche Deutung als vielmehr eine kulturell-persönliche.
Sonderstellung der Kapitel Blei, Quecksilber, Schwefel, Titan und Kohlenstoff Bearbeiten
Die Kapitel Blei und Quecksilber sind im Gegensatz zu den anderen Kapiteln fiktional und wurden schon in der Zeit geschrieben, als Levi in der Aktinolithmine arbeitete. Im Buch (und auch hier in der Kapitelbeschreibung) sind diese beiden Kapitel kursiv gesetzt, um auch äußerlich auf diesen Umstand hinzuweisen. Levi beschreibt im Kapitel Nickel ihre Entstehung, auch, dass diese Texte für ihn jahrelang verloren schienen und erst beim Sichten alter Unterlagen überraschend wieder auftauchten.
Schwefel und Titan sind kurze Kapitel, in denen Levi nicht direkt vorkommt. Inwiefern sie einen Bezug zu seiner Biographie haben, wird nicht klar.
Das Kapitel Kohlenstoff hat deutliche Parallelen zu Hermann Römpps „Lebensgeschichte eines Kohlenstoffatoms“, wie Jens Soentgen festgestellt hat. Dieses Werk von Römpp, das 1946 in einem Band der Kosmos-Reihe erschien, ist das einzige seiner Werke, das nicht unter seinem Namen erschien, sondern unter dem Pseudonym Dr. Helmut Schmid. Kohlenstoff wurde, wie im Kapitel Gold erwähnt wird, bereits Anfang der 1940er Jahre geplant und schon 1970 geschrieben, aber erst mit dem „periodischen System“ veröffentlicht. Es unterscheidet sich im Erzählstil merklich von den anderen Kapiteln, unter anderem indem es die Geschichte aus der Sicht eines einzelnen Atoms erzählt und nicht aus der Sicht eines Menschen. Eine textkritische Analyse Soentgens legt nahe, dass Levi die Geschichte von Römpp/Schmid zumindest teilweise als Vorlage nutzte, es gibt viele auffällige Parallelen, und auch die Pointe ist vergleichbar. Bei Römpp/Schmid endet das Kohlenstoffatom in der Druckerschwärze des dem Leser vorliegenden Kosmos-Bändchens, bei Levi endet es im Gehirn des Schreibers im Moment der Niederschrift der Geschichte. Zudem beherrschte Levi die deutsche Sprache gut genug, um die Arbeit Römpps im Original gelesen haben zu können.
Entstehungsgeschichte Bearbeiten
Levi erklärte im Jahr 1976, alle seine Bücher seien in Paaren entstanden. Das periodische System, die Biografie eines anorganischen Chemikers, sollte ursprünglich einem zweiten Text gegenübergestellt werden, der das Handwerk eines organischen Chemikers beschreiben würde. Das Buch trug den Arbeitstitel Il doppio legame (die Doppelbindung), wurde jedoch nie fertiggestellt. Stattdessen entschied sich Levi, das periodische System mit La chiave a stella (deutsch Der Ringschlüssel) zu kombinieren, einer weiteren Sammlung von Kurztexten, die im Jahr 1978 erschien und einen Monteur zur Hauptfigur hat. Pierpaolo Antonello beschreibt die Paarung dieser beiden Texte als Diptychon, das von Levis Version des Homo faber handelt.
Rezeption Bearbeiten
Heinz Thoma und Hermann H. Wentzel sehen in Das periodische System den Versuch, unter Verwendung einer aus der Chemie geliehenen Systematik „Ordnung in das Chaos erinnerten Erlebens zu bringen.“ Dabei bestünden Parallelen zum Roman Die unsichtbaren Städte von Levis Freund Italo Calvino, der ebenfalls einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hat. Auch nach dem Niedergang des italienischen Neorealismus halte Levi an der Aufgabe der Literatur fest, Sinn zu vermitteln, und stelle die Kommunikationsfähigkeit von Sprache nicht infrage. Dadurch stehe er in einem Gegensatz zu Zeitgenossen wie Samuel Beckett, obwohl auch in seinem Werk die Absurdität eine Rolle spiele. Thoma und Wentzel sehen in Levi einen Erben von Aufklärung und Positivismus, der sich dem Verstehen von naturgesetzlichen Grundlagen des Erfahrenen verschrieben habe.
Barbara Kleiner betont in Kindlers Literatur Lexikon, Levi verschränke die wissenschaftliche Haltung des Chemikers mit der des Schriftstellers. Dabei beweise er, dass Beobachtung und Untersuchung, die in der Chemie unerlässlich seien, auch für den Schriftsteller zum Handwerkszeug gehörten.
Catalina Botez betont, die Elemente Wissenschaft, Autobiografie und Fiktion stünden in Das periodische System gleichberechtigt nebeneinander. Im Zentrum des Textes stehe der Versuch, durch die Arbeit als Wissenschaftler einerseits und als Schriftsteller andererseits aus dem Schatten des Holocaust zu treten. Diese (wissenschaftliche wie intellektuelle) Arbeit selbst werde dabei als Möglichkeit dargestellt, menschliche Würde wiederherzustellen. Dabei sei es nur teilweise möglich, Autor, Erzähler und Protagonisten als ein und dieselbe Person zu sehen. Für Botez, die erzählerische und linguistische Kunstgriffe im periodischen System herausarbeitet, spielt die Fiktionalisierung der Erinnerung eine entscheidende Rolle.
Das Buch wurde im Oktober 2006 von der Royal Institution of Great Britain zum „best science book ever“ (etwa „besten populären Wissenschaftsbuch aller Zeiten“) gewählt.
2016 wurde von der BBC eine 12-teilige Dramatisierung des Buches produziert und ausgestrahlt. Henry Goodman und Akbar Kurtha sprachen Primo Levi.
Thomas Kerstan nahm das Buch 2018 in seinen Kanon für das 21. Jahrhundert auf, einer Auswahl von Werken, die seines Erachtens "jeder kennen sollte".
Auch für didaktische Zwecke kam Das periodische System schon zum Einsatz: An der Universidade de São Paulo diente das Kapitel Kalium als Grundlage für Aufgaben, die Chemiestudenten im ersten Semester gestellt wurden. Die Dozenten kamen zu dem Schluss, dabei seien erfolgreich Schwierigkeiten und falsche Annahmen bei den Studenten aufgedeckt worden.
Ausgaben Bearbeiten
- Il sistema periodico. Einaudi, Turin 1975, ISBN 88-06-05373-6.
- Das periodische System. Übersetzt von Edith Plackmeyer. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1979.
- Das periodische System. Mit einem Nachwort von Natalia Ginzburg. Übersetzt von Edith Plackmeyer. Hanser Verlag, München 1987, ISBN 3-446-14551-6.
- Das periodische System. Mit einem Nachwort von Natalia Ginzburg. Übersetzt von Edith Plackmeyer. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1991, ISBN 3-423-11334-0.
Literatur Bearbeiten
- Amir H. Hoveyda: Primo Levi's The Periodic Table. A Search for Patterns in Times Past. In: Angewandte Chemie International Edition. Band 43, Nr. 48, 2004, S. 6592–6594, doi:10.1002/anie.200460464 (Buchbesprechung).
- Jens Soentgen: Primo Levis Erzählung Kohlenstoff und ihre mögliche Vorlage. In: Chemie in unserer Zeit. Band 47, Nr. 3, 2013, S. 194–195, doi:10.1002/ciuz.201390031.
- Sven Kramer: Primo Levi – Aus Anlaß seines zehnten Todestages. In: Auschwitz im Widerstreit. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 1999, ISBN 978-3-8244-4366-6, S. 129–133, doi:10.1007/978-3-663-08258-3_8.
- Markus Bliersbach, Christiane S. Reiners: Kreativität und Chemie? In: Chemie in unserer Zeit. Band 51, Nr. 5, 2017, S. 324–331, doi:10.1002/ciuz.201700755.
- Die Chemie des Romans Maike Albath Notre Dame Berlin Seminar 2017 abgerufen am 6. November 2019
Weblinks Bearbeiten
- Mutmassungen über Primo Levis Leben und Sterben Kurzbiographie über Primo Levi von Franz Haas, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. März 2002. abgerufen am 22. Oktober 2016
- Primo Levi – Eine Erinnerung zum 25. Todestag. Abgerufen am 4. Oktober 2016
- Primo Levi: Das periodische System – eine Inhaltsangabe Eine ausführlichere Inhaltsbeschreibung des Buchs von Dieter Wunderlich. Abgerufen am 4. Oktober 2016
Einzelnachweise Bearbeiten
- Eintrag in der Deutschen Nationalbibliothek abgerufen am 4. November 2019
- Eintrag in der Deutschen Nationalbibliothek abgerufen am 4. November 2019
- ↑ James Randerson: Levi's memoir beats Darwin to win science book title, in: The Guardian, 21. Oktober 2006
- Ist das ein Mensch?/Die Atempause. Übersetzt von Robert Picht, Barbara Picht, Heinz Riedt, Hanser, München 2011, ISBN 978-3-446-23744-5
- ↑ Jens Soentgen: (Memento vom 30. August 2016 im Internet Archive), in: Arbeitsblätter für die Sachbuchforschung #21, Mainz, Mai 2014 S. 4–23. Abgerufen am 22. Oktober 2016
- Lebensgeschichte eines Kohlenstoff-Atoms / Helmut Schmid. (Textzeichn. v. K. Porupsky), abgerufen am 23. November 2017
- Pierpaolo Antonello: Primo Levi and ‘man as maker’, in: Robert S. C. Gordon (Hrsg.), The Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge University Press: Cambridge (2007), S. 89 f.
- ↑ Heinz Thoma und Hermann H. Wentzel: Novecento, in: Volker Knapp (Hrsg.), Italienische Literaturgeschichte, Metzler: Stuttgart, Weimar (1992), S. 364
- Barbara Kleiner: Il sistema periodico, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kindlers Literatur Lexikon, 3. Auflage, Bd. 10, Metzler: Stuttgart, Weimar (2009), S. 82
- Catalina Botez: Contiguous spaces of remembrance in identity writing: chemistry, fiction and the autobiographic question in Primo Levi's The Periodic Table, in: European Review of History: Revue européenne d'histoire, Volume 19, 2012 – Issue 5: The politics of contested narratives: biographical approaches to modern European history, pp. 711–727
- Primo Levi's The Periodic Table - Radiosendung der BBC von 2016 abgerufen am 24. November 2017
- Th. Kerstan: Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert. Hamburg 2018. S. 11, 212f.
- Viktoria Klara Lakatos Osorio, Peter Wilhelm Tiedemann, Paulo Alves Porto: Primo Levi and the Periodic Table: Teaching Chemistry Using A Literary Text, in: Journal of Chemical Education, 2007, Vol.84(5), pp .775-778