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Claude Lefort 21 April 1924 3 Oktober 2010 1 war ein franzosischer Philosoph der sich besonders durch seine Uberlegungen zum Verhaltnis von Totalitarismus und Demokratie einen Namen gemacht hat Ausgehend von seiner Burokratie und Totalitarismuskritik entwickelte er in den 1960er und 1970er Jahren eine politische Philosophie der Demokratie welche die Abtrennung einer autonomen Zivilgesellschaft vom Staat den immerwahrenden politischen Konflikt konkurrierender Uberzeugungen und einen leeren Ort der Macht zu den Grundlagen einer demokratisch verfassten Gesellschaft erhebt Inhaltsverzeichnis 1 Intellektueller Werdegang 2 Grundlinien von Leforts politischer Philosophie 3 Auszeichnungen 4 Werke 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseIntellektueller Werdegang BearbeitenIn seiner Jugend war Lefort unter dem Einfluss seines Lehrers Maurice Merleau Ponty zunachst Marxist lehnte den Stalinismus jedoch wegen dessen Nationalismus und Fortschrittsglaubigkeit ab Der Kommunismus wie Stalin ihn propagierte schien Lefort nicht mit der ursprunglichen Marx schen Lehre im Einklang zu stehen Mit 18 Jahren kam er in Kontakt mit Mitgliedern der IV Internationale der er dann 1943 auch beitrat 2 In der dem Geist des Trotzkismus verpflichteten Internationale fand er ein Forum fur seinen Antistalinismus Zusammen mit Cornelius Castoriadis wandte er sich im Laufe der 1940er Jahre jedoch vollstandig gegen eine wie auch immer geartete Fuhrung des Proletariats durch eine revolutionare Partei ein Ziel welches der Trotzkismus nach wie vor anstrebte Die Differenzen fuhrten 1947 48 schliesslich zum Bruch mit der IV Internationale Zusammen mit Castoriadis grundete er zur selben Zeit die Gruppe Socialisme ou barbarie und beide begannen mit der Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift In der Folgezeit vertiefte er seine Kritik der burokratischen Herrschaft der kommunistischen Parteien allerdings nach eigenen Angaben immer noch grundsatzlich inspiriert von dem Glauben an die Kreativitat des Proletariats 3 Da jedoch auch innerhalb dieser Gruppe die Forderung nach intellektueller Fuhrung der revolutionaren Massen und nach der Erarbeitung eines verbindlichen sozialistischen Programms laut wurde trat er 1958 aus Dieser Bruch markiert gleichzeitig seine endgultige Abkehr vom Marxismus Angeregt durch die Beschaftigung mit klassischen politischen Theoretikern vor allem Machiavelli und durch die Analyse der sozialistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion entwickelte er in diesen Jahren seine politische Philosophie die ihm einen grosseren Bekanntheitsgrad insbesondere im franzosischen Sprachraum verschaffte Nach seinem Philosophiestudium besteht Lefort 1949 die agregation fur Philosophie und wird 1971 docteur es lettres et sciences humaines Doktor der Geistes und humanistischen Wissenschaften Von 1976 bis 1990 ist er Professor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und er ist bis 2008 Mitglied des centre de recherches politiques Raymond Aron Sein Werk umfasst Studien zu Machiavelli zu Merleau Ponty Analysen der sozialistischen Regime in den Ostblockstaaten und ein Buch uber Alexander Solschenizyn dessen Beschreibung der sowjetischen Arbeitslager Leforts Beurteilung des kommunistischen Totalitarismus massgeblich beeinflusst hat Die Hauptgedanken seines Konzepts von Totalitarismus und Demokratie sind in dem 1981 erschienenen Buch L invention democratique dargestellt Grundlinien von Leforts politischer Philosophie BearbeitenLeforts erklartes Ziel ist die Wiederherstellung der politischen Philosophie 4 und er wendet sich somit gegen eine positivistische Politikwissenschaft die den in seinen Augen unmoglichen Versuch macht die Gesellschaft nach objektiven Kriterien als ein System von Kausalbeziehungen zu analysieren Der Sozialwissenschaftler konne niemals vollkommen objektiv sein da jedes Nachdenken uber die Gesellschaft immer schon eigene Interpretationen beinhalte Schliesslich sei der Wissenschaftler Teil der Gesellschaft die er erforscht und konne von bestimmten Werturteilen mit denen er z B aufgewachsen ist nicht abstrahieren Daruber hinaus sei Neutralitat gar nicht unbedingt wunschenswert da sie dem Wissenschaftler verbiete seine Werturteile bewusst und uberlegt mit Blick aufs Ganze und im Wissen um seine gesellschaftliche Vorpragung zu fallen Stattdessen kehre das Werturteil in der positivistischen Sozialwissenschaft nunmehr versteckt in der nach willkurlichen Kriterien erfolgenden jeweiligen Gewichtung der vermeintlich objektiven sozialen Bestimmungsfaktoren als Heuchelei wieder 5 Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund versucht Lefort die Grundlage der modernen demokratischen Gesellschaften herauszuarbeiten die er vor allem in einer ursprunglichen Teilung der Gesellschaft sieht Diese wird in der Moderne nicht mehr wie noch im Mittelalter durch die Macht des politisch religiosen Monarchen verdeckt Der Monarch hatte das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit durch seine doppelte Personlichkeit als sterblicher Mensch und politisch religioser Reprasentant des Staates verkorpert und war Garant der Identitat der Gesellschaft vgl auch die Zwei Korper Theorie d Historikers Ernst Kantorowicz Mit Abschaffung des Konigtums in der politischen Revolution Ende des 18 Jahrhunderts gemeint ist die Franzosische Revolution insbesondere die Erklarung der Menschen und Burgerrechte wird nun die Gesellschaft dekorporiert und ist nicht mehr als Einheit reprasentierbar 6 Die fehlende Reprasentierbarkeit als Ganzes aussert sich in der Moderne in einer zweifachen Teilung der Gesellschaft Erstens spaltet sich eine autonome Zivilgesellschaft vom Staat ab Zweitens ist auch die Zivilgesellschaft in sich selbst unuberwindbar geteilt in ihr prallen die verschiedenen Uberzeugungen und Interessen unaufhorlich aufeinander ohne dass es letztgultige Prinzipien gabe die eine endgultige Entscheidung des Konfliktes zugunsten einer bestimmten Meinung erlauben wurden 7 Eine letztgultige Entscheidungsinstanz wie sie der Monarch gewesen war ist in der Demokratie unmoglich alles Wissen alles Recht und auch die Macht selbst unterliegen dem zivilgesellschaftlichen Konflikt und bleiben daher ungewiss 8 Andererseits bedarf die Gesellschaft einer universalen Reprasentation Da der Wahrnehmungshorizont der Glieder einer Gesellschaft jedoch immer schon durch Geschichte und Gesellschaft gepragt nicht determiniert der Mensch uberhaupt nur als ein Teil der Gesellschaft vorstellbar ist 9 und niemand die Gesellschaft von einem Ort des Uberflugs 10 als Ganzes uberblicken kann ist eine Reprasentation dieses Ganzen nur als Bezugnahme auf etwas ausserhalb der Gesellschaft liegendes moglich Dieses Aussen ist bei Lefort der virtuelle Ort der Macht In der durch Konflikt und Teilung gepragten Moderne welcher der integrative gottlich menschliche Korper eines Monarchen fur immer abhandengekommen ist kann dieser Ort von keinem Individuum real besetzt werden da ein solches nie gleichzeitig ein Teil und die ganzheitliche Reprasentation der Gesellschaft sein kann Der Ort der Macht bleibt also in der Demokratie notwendigerweise leer und wird vom jeweiligen Herrscher der ja selbst Teil der Zivilgesellschaft ist immer nur symbolisch besetzt Ein Paradox Die Selbstinstituierung der Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer Selbst Reprasentation ist beides sowohl notwendig als auch unmoglich Daher spricht Lefort von Quasi Reprasentation 11 Der Ort der Macht ist der Gegenpol zur Zivilgesellschaft die Kluft zwischen beiden ist konstitutiv fur die Demokratie und so muss der jeweilige Vertreter der Macht diese Differenz immer wieder demonstrieren und sich ihrer vergewissern denn dies erwartet die Gesellschaft von ihm als Reprasentant des Universalen Dennoch darf er nie der Illusion verfallen er verkorpere das Universale tatsachlich halte den Ort der Macht in Wirklichkeit besetzt Sobald dies der Fall ist offenbart sich der eigentlich partikulare Charakter des Herrschers und in dem Versuch die Zivilgesellschaft die sich zu wehren beginnt als letztgultige Instanz zu fuhren muss er zu brutalen Mitteln greifen die seine Illegitimitat nur noch deutlicher unterstreichen Von diesem Punkt aus wird auch Leforts Theorie zum Verhaltnis von Demokratie und Totalitarismus verstandlich Ein Kennzeichen gesellschaftlicher Ideologien sei dass sie sich im Besitz eines universalen Prinzips wahnen durch das eine Uberwindung des ursprunglichen Konfliktes und ein im Sinne aller erstrebenswertes gesellschaftliches Leben moglich seien Zu diesem Zwecke wird eine Ideologie immer versuchen den Ort der Macht tatsachlich zu besetzen und sowohl die aussere als auch die innere Teilung der Gesellschaft s o aufzuheben es findet eine totale Durchdringung der Gesellschaft statt Diese Uberwindung ist jedoch aufgrund des fundamentalen unuberwindbaren Charakters der ursprunglichen Teilung notwendigerweise zum Scheitern verurteilt die Gegenwehr der Zivilgesellschaft muss gewaltsam unterdruckt werden Der Herrscher wahnt sich als Verkorperung des Gesetzes und handelt willkurlich Dieser Weg zum Totalitarismus ist durch das paradoxe Wesen der demokratischen Gesellschaft prinzipiell immer vorgezeichnet Man muss so liesse sich Leforts These reformulieren die Unterscheidung zwischen Demokratie und Totalitarismus als eine Unterscheidung innerhalb der Demokratie verstehen Demokratie ist nicht das ganzlich andere als Totalitarismus sondern enthalt Totalitarismus immer schon als Tendenz Demokratie wird immer von totalitaren Momenten durchzogen sein 12 Die Gefahr des Totalitarismus hangt deswegen wie ein Damoklesschwert uber der demokratischen Gesellschaft da diese sich unterschwellig immer noch nach einer Sicherheit von Recht und Wissen sehnt die es seit der Dekorporation der Gesellschaft im Zuge der Abschaffung der Monarchie nicht mehr gibt Eine Gesellschaft die nicht mehr uber eine Reprasentation ihrer Ursprunge Ziele und Grenzen verfugt und als rein weltliche von der Frage nach ihrer Einrichtung nach ihrem Veranderungspotential ihrer Selbsterzeugung ja der Erfindung des Menschen heimgesucht wird neigt notwendigerweise zum Phantasma einer totalen Beherrschung des gesellschaftlichen Raumes d h der Individuen die ihn bevolkern Sie neigt zu den Phantasmen einer allwissenden Macht und eines allmachtigen Wissens 13 Allerdings sei auch der Totalitarismus auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt Denn die Herstellung einer gesellschaftlichen Einheit Totalitat und die damit einhergehende Ausmerzung alles wie auch immer gearteten anderen wie z B dissidente Bewegungen Volksfeinde im Nationalsozialismus Konterrevolutionare im Stalinismus etc erfordere einen Akteur der die Gesellschaft als Ganzes uberblicken konne und ausserhalb ihrer stehe Das sei jedoch nicht moglich Niemals werde man die Zivilgesellschaft bis ins Kleinste kontrollieren konnen Somit konne also auch der Totalitarismus sein Ziel eine konfliktfreie homogen abgeschlossene Gesellschaft darzustellen nicht erreichen 14 Auszeichnungen Bearbeiten1997 Hannah Arendt Preis fur politisches DenkenWerke BearbeitenDie Frage der Demokratie in Ulrich Rodel Hrsg Autonome Gesellschaft und libertare Demokratie Frankfurt a M 1990 S 281 297 Fortdauer des Theologisch Politischen Wien 1999 Die Bresche Essays zum Mai 68 Aus dem Franz ubersetzt und mit einer Einleitung versehen von Hans Scheulen Wien 2008 Turia Kant ISBN 978 3 85132 520 1Literatur BearbeitenOliver Flugel Reinhard Heil Andreas Hetzel Hrsg Die Ruckkehr des Politischen Demokratietheorien heute Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2004 Andrea Gabler Die Despotie der Fabrik und der Vor Schein der Freiheit Von Socialisme ou Barbarie gesammelte Zeugnisse aus dem fordistischen Arbeitsalltag In Archiv fur die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 16 2001 ISSN 0936 1014 S 349 378 online auf workerscontrol net Oliver Marchart Die politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus Claude Lefort und Marcel Gauchet In Andre Brodocz und Gary Schaal Politische Theorien der Gegenwart II 2 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f Claude Lefort Vorwort zu Elements d une critique S 50 vgl D Gaus Demokratie zwischen Konflikt und Konsens S 80 ff Normdaten Person GND 119328720 lobid OGND AKS LCCN n50037978 VIAF 199262651 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Lefort ClaudeKURZBESCHREIBUNG franzosischer PhilosophGEBURTSDATUM 21 April 1924STERBEDATUM 3 Oktober 2010 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Claude Lefort amp oldid 210745964