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Das Bereitschaftspotential ist ein elektrophysiologisch messbares Phanomen das kurz vor willkurlichen Bewegungen in bestimmten Arealen der Grosshirnrinde im supplementarmotorischen Cortex auftritt und als Ausdruck von Aktivierungs und Vorbereitungsprozessen interpretiert wird Es zahlt damit zu den ereigniskorrelierten Potentialen Ableitungen des Bereitschaftspotentials an drei Elektroden sowie die Differenz der ersten beiden ganz unten Inhaltsverzeichnis 1 Forschungskontext 2 Elektroenzephalographie 3 Subjektiv erlebte Entscheidung 4 Entstehung des Namens 5 Literatur 5 1 Geschichte 5 2 Einfuhrungen 5 3 Sonstiges 6 EinzelnachweiseForschungskontext BearbeitenDas Bereitschaftspotential BP gehort zusammen mit der kontingenten negativen Variation Contingent Negative Variation CNV zur Gruppe der langsamen antizipatorischen Potentiale 1 Anticipatory Slow Waves 2 Antizipatorisch wortlich vorwegnehmend bedeutet hier vorausgehend und bezeichnet Potentiale die vor einer messbaren Verhaltensleistung entstehen 1 Die CNV wurde 1962 von dem britischen Neurophysiologen William Grey Walter entdeckt 3 und 1964 von seiner Arbeitsgruppe in der Fachzeitschrift Nature veroffentlicht 4 Das BP wurde 1964 von den deutschen Hirnforschern Hans Helmut Kornhuber und Luder Deecke entdeckt 5 und 1965 in einem Fachartikel veroffentlicht 6 Wahrend die Contingent Negative Variation CNV als ein Hirnpotential zwischen zwei Reizen Stimulus 1 S1 und Stimulus 2 S2 aus dem EEG in normaler Weise d h in Zeitrichtung gemittelt werden kann averaging entsteht das von Kornhuber und Deecke entdeckte Bereitschaftspotential BP 7 6 ohne unmittelbaren externen Stimulus endogen im Gehirn eines Probanden der selbst initiierte Willkurbewegungen nach vorheriger Instruktion des Experimentators die Bewegungen in unregelmassigen Abstanden und aus freiem Willen zu machen ausfuhrt Eine selbst initiierte Bewegung ist ein unvorhersehbares Ereignis und ein damit korreliertes Potential kann deshalb nicht in normaler Weise d h in Zeitrichtung aus dem EEG gemittelt werden weil man auf ein zeitlich unvorhersagbares inneres Ereignis nicht triggern kann Um ein hier moglicherweise existierendes Potential das spater so bezeichnete Bereitschaftspotential trotzdem sichtbar machen zu konnen entwickelten die Autoren eigens hierfur eine neuartige Technik Sie speicherten die Signale des Experiments mit EEG Kanalen und Triggersignalen Bewegungsbeginn auf Magnetband und spielten dann das Band in umgekehrter Zeitrichtung ab d h sie schickten die elektrischen Daten gegen die Zeitrichtung durch den Averaging Computer Dies Verfahren wird back averaging Ruckwarts Mittelung genannt Hierbei kommt also zeitlich zuerst der Trigger Bewegungsbeginn und dann die Hirnpotentiale die aber eigentlich im realen Experiment dem Bewegungsbeginn Trigger vorausgingen Das BP ist also etwas anderes als die CNV Beim BP handelt die Versuchsperson selbstgesteuert namlich in Eigeninitiative nach vorheriger Absprache Bei der CNV handelt die Versuchsperson auf unmittelbare Aufforderung wie im Sport auf das Los bei der Signalfolge Fertig Los mit variabler Zwischenzeit Die CNV entsteht dabei zwischen Fertig und Los Deshalb wurde die CNV von ihren Entdeckern einer Erwartung expectancy Warten auf das Los zugeordnet wahrend das BP von ihren Entdeckern einer Bereitschaft readiness zum Handeln zugeordnet wurde Ist der zeitliche Abstand zwischen Warnreiz S1 und Zielreiz S2 lang genug gt 3 s kann die CNV in zwei Komponenten untergliedert werden Direkt nach dem Warnreiz kommt es zu einer fruhen Negativierung des EEG Signals Diese fruhe CNV 400 ms 1500 ms wird als Verarbeitung des Warnreizes an sich interpretiert Aufgrund der damit einhergehenden Orientierungsreaktion wird sie gelegentlich als O Welle Orientierungswelle bezeichnet Nach dem Abflachen des Signals zur Grundlinie 1500 ms 2600 ms kommt es im weiteren Verlauf zu einer zweiten Negativierung des Signals Diese spate CNV 2600 ms 3700 ms wird der Erwartung Antizipation des Zielreizes zugeschrieben weshalb sie auch gelegentlich als E Welle Erwartungswelle bezeichnet wird Sie wird Vorbereitungsprozessen der motorischen Antwort auf den erwarteten Zielreiz zugeordnet 8 Funktionell wird die spate CNV ferner als Summe zweier Subkomponenten aufgefasst Die Stimulus Preceding Negativity SPN beschreibt die Negativierung des EEG Signals in Erwartung eines informationsgeladenen Reizes Ruckmeldungs oder Hinweisreiz Sie tritt aufgabenunabhangig auf 9 Beinhaltet die Aufgabe jedoch zusatzlich die Ausfuhrung einer bestimmten Bewegung als Reaktion auf einen Zielreiz kann als zweite Subkomponente auch die Movement Preceding Negativity beobachtet MPN werden 8 Bei allen Unterschieden im experimentellen Ablauf und zum Teil auch in der zugrundeliegenden und erst spater naher erforschten Hirntatigkeit ist CNV und BP gemeinsam dass sie verhaltensbezogene Gehirntatigkeit vor dem bewussten Erleben des entsprechenden Verhaltens anzeigen Aus diesem Grund hatten beide Entdeckungen einen enormen und anhaltenden Einfluss auf die nachfolgende Gehirnforschung 3 5 Elektroenzephalographie BearbeitenZur Erfassung des BP liessen Kornhuber und Deecke die Probanden spontane Fingerbewegungen ausfuhren und zeichneten ein kontinuierliches Gleichstrom EEG auf Es zeigte sich mehr als eine Sekunde vor Ausfuhrung der Bewegung eine charakteristische negative Potentialwelle vor allem in frontalen und parietalen Ableitungen Da das Bereitschaftspotential mit einer messbaren Spannung von bis zu 20 µV 10 im Vergleich zu anderer Gehirnaktivitat schwach ist kann es nicht einfach zum Zeitpunkt seines Auftretens gemessen und ausgewertet werden sondern muss uber eine Vielzahl von Versuchsdurchlaufen gemittelt werden Die Versuchspersonen in den bekannten Libet Experimenten mussten denselben Vorgang etwa vierzigmal wiederholen Angaben uber Zeitabstande vor oder nach dem Maximum des aufgezeichneten Potentials sind deshalb in der Regel Durchschnittswerte 11 Subjektiv erlebte Entscheidung BearbeitenEtwa 500 ms vor Beginn einer willkurlichen Bewegung ist bereits ein Potentialanstieg messbar Die subjektiv erlebte Entscheidung eines Probanden fur die Bewegung wird von diesem jedoch erst ca 200 ms vor dieser Bewegung wahrgenommen 12 Diese Zeit wurde ermittelt indem Versuchspersonen wahrend einer EEG Messung den rotierenden Zeiger einer Uhr betrachteten Wollten die Versuchspersonen nun eine willkurliche Bewegung wie etwa das Drucken eines Knopfes ausfuhren teilten sie die Position des Uhrzeigers zu dem Zeitpunkt mit als ihnen ihre Entscheidung zur Handlung bewusst wurde Um die individuelle Zeitverzogerung der einzelnen Personen bei der Beschreibung der Position des Uhrzeigers zu bestimmen wurden Kontrollexperimente durchgefuhrt bei denen die Versuchspersonen die Position des Zeigers wahrend eines zeitlich festgelegten Stimulus der Haut mitteilen sollten Die Libet Experimente und erweiterte Nachfolgeexperimente bekraftigten fur manche die Vermutung dass freier Wille eine Illusion sei da der Wunsch eine spontane Bewegung auszufuhren erst nach einer neuronalen Einleitung dieser Bewegungsablaufe entstehe Libet selbst schrieb in spateren Veroffentlichungen den bewusst erlebten Entscheidungen jedoch die Moglichkeit eines Veto Rechts zu Damit sei eine Person in der Lage bis 200 100 ms vor der Handlung bis etwa zum Maximum der Amplitude des Bereitschaftspotentials eine neuronal bereits eingeleitete Bewegung noch kurzfristig abzubrechen 13 Die Versuchspersonen konnten somit de facto die motorische Handlung noch unterdrucken Diese Beobachtung Libets wurde 31 Jahre spater und mit den inzwischen weiter entwickelten technischen Moglichkeiten eindrucksvoll bestatigt und genauer prazisiert Eine Arbeitsgruppe um John Dylan Haynes in Berlin liess in einer Art Computerspiel Probanden gegen ihr eigenes BP spielen Es zeigte sich dass sie bis zu 200 ms vor einer vom BP angekundigten Fussbewegung diese noch stoppen konnten Die Zeitschwelle der 200 ms wurde als point of no return Punkt ohne Umkehr bezeichnet 14 Experimente zur Bewusstheit willentlicher Entscheidungen von Kuhn und Brass von 2009 hatten allerdings inzwischen bereits darauf hin gedeutet dass auch Veto Entscheidungen unbewusst getroffen werden und erst nachtraglich als freie Entscheidungen empfunden werden 15 Die Autoren des neuen Berichts von 2016 lehnten es in ihrer Veroffentlichung denn auch ausdrucklich ab die Frage des freien Willens im Zusammenhang mit ihren Ergebnissen zu diskutieren Entstehung des Namens BearbeitenIn ihrer Veroffentlichung von 1965 begrundeten Kornhuber und Deecke ausfuhrlich warum sie fur das Ergebnis ihrer Experimente die Bezeichnung Contingent Negative Variation CNV der Arbeitsgruppe von Walter nicht ubernahmen trotz grosser Ahnlichkeit im EEG Bild Sie waren der Auffassung sie konnten die Verhaltenszuordnung zur CNV expectancy Erwartung nicht auf ihre Experimente ubertragen Zur Terminologie als Erwartungswelle konnen wir das negative Potential vor Willkurbewegungen nicht begreifen denn es wird nichts erwartet vielmehr scheint der bioelektrische Vorgang zu jenen Hirnprozessen zu gehoren die im Bewusstsein als Bereitschaft zum Handeln erscheinen Hervorhebung im Original 16 Im nachfolgenden Satz betonten sie jedoch wieder eine wichtige Gemeinsamkeit von CNV und ihren Ergebnissen und stellten zur Diskussion ob nicht auch fur die CNV die Zuordnung Bereitschaft richtiger gewesen ware Literatur BearbeitenGeschichte Bearbeiten W Grey Walter R Cooper V J Aldridge W C McCallum A L Winter Contingent Negative Variation An Electric Sign of Sensori Motor Association and Expectancy in the Human Brain In Nature Band 203 Nr 4943 25 Juli 1964 S 380 384 doi 10 1038 203380a0 Hans Helmut Kornhuber Luder Deecke Hirnpotentialanderungen bei Willkurbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale In Pflugers Arch Band 284 1965 S 1 17 doi 10 1007 BF00412364 researchgate net PDF 1 1 MB Einfuhrungen Bearbeiten C H M Brunia G J M van Boxtel K B E Bocker Negative Slow Waves as Indices of Anticipation The Bereitschaftspotential the Contingent Negative Variation and the Stimulus Preceding Negativity In Steven J Luck Emily S Kappenman Hrsg The Oxford Handbook of Event Related Potential Components Oxford University Press 2012 ISBN 978 0 19 537414 8 S 189 207 S P Wise Movement selection preparation and the decision to act neurophysiological studies in nonhuman primates In Marjan Jahanshahi Mark Hallett Hrsg The Bereitschaftspotential Movement Related Cortical Potentials Kluwer Academic Plenum Publishers New York 2003 ISBN 0 306 47407 7 S 249 268 Sonstiges Bearbeiten M Nann L G Cohen L Deecke u a To jump or not to jump The Bereitschaftspotential required to jump into 192 meter abyss In Sci Rep Band 9 2019 Artikel 2243 DOI 10 1038 s41598 018 38447 wEinzelnachweise Bearbeiten a b Manfred Stohr J Dichgans Ulrich W Buettner C W Hess Eckart Altenmuller Evozierte Potentiale SEP VEP AEP EKP MEP 3 Auflage Springer Verlag Berlin 1996 ISBN 3 662 07146 0 S 567 C H M Brunia G J M van Boxtel K B E Bocker Negative Slow Waves as Indices of Anticipation The Bereitschaftspotential the Contingent Negative Variation and the Stimulus Preceding Negativity In Steven J Luck Emily S Kappenman Hrsg The Oxford Handbook of Event Related Potential Components Oxford University Press USA 2012 S 189 207 ISBN 0 19 537414 2 S 189 a b Ray Cooper The discovery of the contingent negative variation CNV In Current Contents Life Sciences 21 27 Mai 1985 upenn edu PDF 218 kB W Grey Walter R Cooper V J Aldridge W C McCallum A L Winter Contingent Negative Variation An Electric Sign of Sensori Motor Association and Expectancy in the Human Brain In Nature Band 203 Nr 4943 25 Juli 1964 S 380 384 doi 10 1038 203380a0 a b H H Kornhuber L Deecke Readiness for movement the Bereitschaftspotential story In Current Contents Life Sciences 33 4 14 1990 und Current Contents Clinical Medicine 18 4 14 1990 upenn edu PDF 244 kB a b Hans H Kornhuber Luder Deecke Hirnpotentialanderungen bei Willkurbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale In Pflugers Arch 284 1965 S 1 17 doi 10 1007 BF00412364 researchgate net PDF H H Kornhuber L Deecke Hirnpotentialanderungen beim Menschen vor und nach Willkurbewegungen dargestellt mit Magnetbandspeicherung und Ruckwartsanalyse Pflugers Arch 281 52 1964 a b Ingrid Funderud Magnus Lindgren Marianne Lovstad Tor Endestad Bradley Voytek Differential Go NoGo Activity in Both Contingent Negative Variation and Spectral Power In PLOS ONE Band 7 Nr 10 31 Oktober 2012 ISSN 1932 6203 S e48504 doi 10 1371 journal pone 0048504 PMID 23119040 PMC 3485369 freier Volltext plos org abgerufen am 22 August 2018 Luck Steven J Steven John An introduction to the event related potential technique Second edition Auflage MIT Press Cambridge Massachusetts 2014 ISBN 978 0 262 32405 2 S 73 Hiroshi Shibasaki Mark Hallett What is the Bereitschaftspotential In Clinical Neurophysiology 117 2006 S 2341 2356 ucsf edu Memento des Originals vom 19 Februar 2012 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www keck ucsf edu PDF Gerhard Roth Aus Sicht des Gehirns Suhrkamp Frankfurt M 2003 ISBN 3 518 58383 2 S 486 ff Adina L Roskies How Does Neuroscience Affect Our Conception of Volition In Annual Review of Neuroscience 2010 33 S 109 130 Benjamin Libet Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action In Behavioral and Brain Sciences 1985 8 S 529 566 M Schultze Kraft D Birman M Rusconi C Allefeld K Gorgen S Dahne B Blankertz J D Haynes The point of no return in vetoing self initiated movements In Proceedings of the National Academy of Sciences Band 113 Nummer 4 Januar 2016 S 1080 1085 doi 10 1073 pnas 1513569112 PMID 26668390 PMC 4743787 freier Volltext S Kuhn M Brass Retrospective construction of the judgement of free choice In Consciousness and Cognition Band 18 Nummer 1 Marz 2009 S 12 21 doi 10 1016 j concog 2008 09 007 PMID 18952468 Hans H Kornhuber Luder Deecke Hirnpotentialanderungen bei Willkurbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale In Pflugers Arch Physiol 284 1965 S 1 17 doi 10 1007 BF00412364 S 15 researchgate net PDF Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Bereitschaftspotential amp oldid 239436680