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Uber die Tragische Kunst ist der Titel einer 1792 in der Zeitschrift Neue Thalia veroffentlichten kunstphilosophischen Abhandlung von Friedrich Schiller in der er sich mit Wesen und Ziel der Tragodie befasst Die Tragodie ist fur Schiller die Nachahmung einer moralischen Handlung mit der Absicht durch die Darstellung von Leid Ruhrung und weitere Affekte hervorzurufen In der Schrift befasst sich der Autor insbesondere mit Ursprung und Wesen des Mitleids In Schillers Uberlegungen fliessen sowohl seine Lekture der Asthetik Immanuel Kants als auch Gotthold E Lessings Dramentheorie ein Laut Schiller ist die Aufgabe der tragischen Kunst die moralische Unabhangigkeit des Charakters vom Zustand der Leidenschaft zu vergegenwartigen Inhalt BearbeitenSchiller stellt fest dass Menschen sich fur alles interessieren was starke Gemutserregungen auslost Dabei seien es besonders unangenehme Erscheinungen des Jammers des Entsetzens von denen sich Menschen gleichermassen weggestossen und wieder angezogen fuhlen Schiller belegt dies mit dem Hinweis auf die zahlreichen Zuschauer bei offentlichen Bestrafungen von Verbrechern Weder Rache noch Gerechtigkeitsliebe allein konne diese dies erklaren Es sei ein neugieriges Verlangen welches die Menschen antreibt Bei Menschen von Erziehung und verfeinertem Gefuhle sei diese rohe Lust zwar nicht vorhanden Dennoch gebe es eine allgemeine Tendenz einem Ungluck lustvoll beizuwohnen Schiller nennt als Beispiel die Lust an der Beobachtung eines Menschen der sich in einem Konflikt zwischen entgegen gesetzter Neigungen oder Pflichten befindet und den seine Leidenschaft ins Elend sturzt Diese Quelle des Elends ergotzt uns in der Betrachtung Die moralische Natur des Menschen ermogliche es offenbar auch im Affekt eine Form von Wohlbefinden zu erfahren Auch wenn ein Affekt an sich noch keine Lust gewahre so sei er eine Bedingung fur gewisse Arten des Vergnugens Wer fur diese Art Vergnugen empfanglich sei wer also auch im Affekt eine Form von Vergnugen empfinde sei in einer geistigen Verfassung in der er auch bei heftigsten Leidenschaften seine Freiheit bewahren konne Diese erhabene Geistesstimmung ist das Los starker und philosophischer Gemuter die durch fortgesetzte Arbeit an sich selbst den eigennutzigen Trieb unterjochen gelernt haben Auch der schmerzhafteste Verlust fuhrt sie nicht uber eine Wehmut hinaus mit der sich noch immer ein merklicher Grad des Vergnugens gatten kann Laut Schiller ist es die moralische Natur aus der die Lust entspringt wodurch uns schmerzhafte Affekte entzucken und ruhren Der Mensch ist einem Affekt auslosenden Gegenstand nicht passiv ausgesetzt sondern sei in der Lage sich uber den Affekt zu erheben und Moralitat im Sinne von Gehorsam gegen allgemeine Vernunftgesetze zu zeigen Damit kommt Schiller auf eine wesentliche Feststellung welche seine folgenden dramentheoretischen Uberlegungen vorbereitet namlich die Beantwortung der Frage warum das Mitleid uns am machtigsten anzieht Wobei Schiller sogleich postuliert dass nur leidende Personen von guter Gesinnung diesen Genuss des Mitleids hervorrufen Das Leiden einer schwachen Seele der Schmerz eines Bosewichts gewahren uns diesen Genuss freilich nicht Schiller sieht einen Grund darin dass das Beobachtete Leiden ein Angriff auf die Sinnlichkeit sei welche eine Kraft im Gemut anregt Diese Kraft sei keine andere als die Vernunft Diesen Vorgang dass der Affekt den Einzelnen nicht im Leiden verharren lasst nennt Schiller den Tatigkeitstrieb Der Affekt ist also Ausloser fur eine Reflexion des Subjekts uber sich seine Empfindungen seine Vernunft und seine Moral Der Affekt des Mitleides schenkt uns Genuss weil er mit der Befreiung von allem Widerstand und aller Abhangigkeit von egoistischen Impulsen einhergeht Dies ist die Schnittstelle von der aus Schiller zu seinem Kunstverstandnis uberleitet Diejenige Kunst aber welche sich das Vergnugen des Mitleids insbesondere zum Zweck setzt heisst die tragische Kunst im allgemeinsten Verstand Die Kunst und damit der poetische Zweck von Dichtung als einer Form Kunst hat laut Schiller die Aufgabe Affekte zu erzeugen bzw Gemutserregungen hervorzurufen Diese Gemutserregung musse sensibel ausgesteuert und durfe weder zu heftig noch zu schwach sein da ansonsten das Mitleid verfehlt werde Denn wenn die Unlust uber die Ursache eines Unglucks zu stark wird so schwacht sie unser Mitleid mit demjenigen der es erleidet Auch durfe die leidende Person fur ihr Ungluck nicht allein verantwortlich sein So schwacht es jederzeit unsern Anteil wenn sich der Ungluckliche den wir bemitleiden sollen auf eigener unverzeihlicher Schuld in sein Verderben gesturzt hat oder sich auch aus Schwache des Verstandes und aus Kleinmut nicht da er es doch konnte aus demselben zu ziehen weiss Weiterhin kann ein zu extrem dargestellter Charakter das Mitleid uberlagern wenn in einem Drama die Grosse des Leidens von der Grosse der Bosheit abhangt Schiller zahlt hier selbstkritisch auch Karl Moor seine eigene Figur aus Die Rauber zu jenen Gestalten die aufgrund ihrer extremen Bosheit die Empfindung von Mitleid storen Gunstiger fur die Erregung von Mitleid sei es ohnehin wenn nicht boser Wille sondern der Zwang der Umstande das Ungluck hervorbringt Gleichwohl durfe nicht der Eindruck entstehen als seien die Individuen einem ubermachtigen Schicksal ausgesetzt Der Vernunft muss immer noch Raum bleiben Hier setzt Schillers Kritik an den in den vortrefflichsten Stucken der griechischen Buhne an weil in allen diesen Stucken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird und fur unsere fordernde Vernunft immer ein unaufgeloster Knoten zuruckbleibt Gegen den Fatalismus der griechischen Tragodie sich wendend versucht Schiller zu demonstrieren dass der Mensch selbst in den tragischsten Umstanden im Besitz seiner Freiheit bleibe Die griechische Tragodie muss somit in einer aemulatio uberboten werden um das von Schiller formulierte Ziel zu erreichen Schiller formuliert im Folgenden Kriterien welche Mitleid und Ruhrung in der Dichtung provozieren Anders als bei Leiden denen man als Zeuge beiwohne bestehe in der Dichtung immer eine Distanz zum Leiden und damit auch zum Mit Leiden Dies konne durch eine unmittelbare und lebendige Gegenwart und Versinnlichung ausgeglichen werden Es muss ahnlich wie bei G E Lessing eine Ahnlichkeitsbeziehung zwischen dem Zuschauer oder Leser und dem tragischen Helden bestehen denn die Moglichkeit des Mitleids beruht auf der Wahrnehmung und Voraussetzung einer Ahnlichkeit zwischen uns und dem leidenden Subjekt Schiller postuliert dabei dass unabhangig von Erfahrung kultureller oder historischer Pragung uberzeitliche sittliche Vorstellungen und Formen des Denkens jedem Individuum innewohnen Dieses subjektiv Wahre als Teil der sittlichen Natur enthalt Allgemeinheit und Notwendigkeit Denn man braucht bloss Mensch uberhaupt zu sein um durch die heldenmutige Aufopferung eines Leonidas zu Tranen hingerissen zu werden Ziel ist daher auch nicht die historische Nachahmung einer Begebenheit sondern die poetische Nachahmung einer mitleidswurdigen Handlung Um eine Gemutserregung zu bewirken ist die vollstandige Darstellung einer tragischen Begebenheit notwendig Ohne alle Einzelheiten zu kennen konne sich der Betrachter nicht in den Seelenzustand einer Person hineinversetzen Nur die Ahnlichkeit der Umstande welche wir vollkommen einsehen mussen kann unser Urteil uber die Ahnlichkeit der Empfindungen rechtfertigen Um eine wirksame Gemutserregung zu erzielen musse die Intensitat der Empfindungen bemessen dosiert sowie periodenweise geschickt unterbrochen werden Nach Schiller kann nur eine wohlausgewogene Gradation der Eindrucke die Anschauung so bemessen helfen dass sich der Betrachter nicht von der Schau des Leids abwendet ermattet oder ein Gewohnungsprozess einsetzt Wahrend der Anfanger den ganzen Donnerstrahl des Schreckens und der Furcht auf einmal und fruchtlos in die Gemuter schleudert so gelangt jener der geubte Kunstler Schritt vor Schritt durch lauter kleine Schlage zum Ziel und durchdringt eben dadurch die Seele ganz dass er sie nur allmahlich und gradweise ruhrte Die Tragodie muss das Leiden gemischter Charaktere zeigen Schiller greift damit einen Begriff von Lessing auf Wesen die sich von aller Sittlichkeit lossprechen sind ebenso ungeeignet fur die Tragodie wie die reinen Intelligenzen die von dem Zwang der Sinnlichkeit befreit sind Die Charaktere mussen sich also aufgrund seines Schillers dualistischen Menschenbildes gemischt als Sinnen und als Vernunftwesen zeigen Eine gelungene Tragodie erreicht ihren Zweck Ruhrung zu erzeugen nicht allein uber den zu erzahlenden Stoff sondern uber die Art und Weise wie das Geschehen dargestellt wird Zweck und Form der Dichtung mussen in einem ausgewogenen Verhaltnis stehen Schiller kritisiert die zeitgenossischen Dramen da diese uns einzig des Stoffes wegen ruhren Quellentexte BearbeitenUeber die tragische Kunst In Friedrich Schiller Hrsg Neue Thalia 1792 Verlag Georg Joachim Goschen 1 Band S 176 228 Volltext Wikisource Literatur BearbeitenKate Hamburger Das Mitleid 2 Auflage Klett Cotta Stuttgart 1996 Walter Jens Hrsg Kindlers Neues Literatur Lexikon Kindler Munchen 1996 S 945 Horst Turk Tragodienphilosophien der Neuzeit Kant Hegel Nietzsche Benjamin In Werner Frick Hrsg in Zusammenarbeit mit Gesa von Essen und Fabian Lampart Die Tragodie Eine Leitgattung der europaischen Literatur Wallstein Gottingen 2003 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Uber die tragische Kunst amp oldid 223856901