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Thomas Walter Laqueur 6 September 1945 in Istanbul Turkei ist ein amerikanischer Kultur und Wissenschaftshistoriker Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Sexualwissenschaft und des kulturellen Umgangs mit Sexualitat Seit 1973 lehrt Laqueur Geschichte an der University of California Berkeley Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Wirken 2 1 Forschungsgebiete 2 2 Das Ein Geschlecht Modell 2 3 Das Zwei Geschlechter Modell 2 4 Wissenschaftstheoretische Interpretation 2 5 Kritik an Laqueurs Ein Geschlecht Modell 3 Schriften Auswahl 4 Literatur 5 Einzelnachweise 6 WeblinksLeben BearbeitenLaqueur erwarb 1967 seinen Bachelor am Swarthmore College in Pennsylvania 1968 seinen M A an der Princeton University An der Princeton University und der Oxford University promovierte er die Promotion beendete er 1973 Seit 1973 lehrt er an der University of California Berkeley zuletzt als Voll Professor fur Geschichte 1 1999 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewahlt 2007 gewann Laqueur den Achievement Award der Andrew W Mellon Foundation 2 2015 wurde er in die American Philosophical Society gewahlt Wirken BearbeitenForschungsgebiete Bearbeiten Zunachst forschte Laqueur zur Sozialgeschichte des modernen Englands bald konzentrierte er sich jedoch auf die Geschichte der Sexualitat und Sexualforschung Laqueurs jungstes Forschungsprojekt ist die Geschichte der Masturbation Dabei interessiert ihn insbesondere die Frage warum Masturbation im 18 und 19 Jahrhundert als zentrale Gefahr betrachtet und auf padagogischer medizinischer und psychologischer Ebene bekampft wurde 3 Laqueurs Arbeiten zur Sexualforschung sind einflussreich in der Wissenschaftsgeschichte und der Philosophie In der Philosophie der Sexualitat nimmt unter anderem Alan Soble Bezug auf Laqueurs konstruktivistische Interpretation der Biologie und Anatomiegschichte 4 Im Rahmen der feministischen Wissenschaftstheorie und geschichte hat Londa Schiebinger Laqueurs Thesen weiterentwickelt 5 Das Ein Geschlecht Modell Bearbeiten nbsp Illustrationen der Vagina des Uterus des Anatomen Andreas Vesalius Beachtenswert ist die Darstellung der weiblichen Geschlechtsorgane in Analogie zu den mannlichen Geschlechtsorganen Bekannt wurde Laqueur insbesondere durch sein Buch Making Sex Body and Gender from the Greeks to Freud in dem er insbesondere anhand von anatomischen Quellen die Entwicklung der Geschlechtervorstellungen beschreibt Die zentrale These des Werkes lautet dass die europaische Kultur uber einen langen Zeitraum von einem Ein Geschlecht Modell one sex model gepragt war Diesem Modell zufolge wurden weibliche und mannliche Geschlechtsorgane nicht als grundsatzlich verschieden gedacht vielmehr wurde angenommen dass die Vagina ein nach innen gestulpter Penis sei Auch die ubrigen Sexualorgane wurden in Analogie zueinander gedacht so sollte etwa dem Skrotum der Uterus und den Hoden die Eierstocke entsprechen Das Ein Geschlecht Modell lehrte jedoch nicht die grundsatzliche Gleichheit der Geschlechter Zunachst wurden die weiblichen Geschlechtsorgane als eine weniger perfekte Variante der mannlichen Geschlechtsorgane gedeutet Die Vagina sollte durch die mangelnde Hitze von Frauen nach innen gekehrt sein wahrend die mannliche Hitze den Penis nach aussen drucken sollte Geschlechterunterschiede wurden also nicht durch zwei grundsatzlich verschiedene biologische Systeme erklart sondern durch die mangelnde Perfektion der Frau Zum anderen bezieht sich Laqueurs Rede vom Ein Geschlecht Modell nur auf das biologische Geschlecht und erlaubt eine radikale Ausdifferenzierung der Geschlechter auf sozialer Ebene Entsprechend heisst es im englischen Original auch one sex model und nicht one gender model siehe Sex und Gender Laqueurs These lautet daher auch dass Geschlechterunterschiede bis ins 18 Jahrhundert wesentlich als soziale Unterschiede gedacht und nicht in der Geschlechterbiologie begrundet wurden To be a man or a woman was to hold a social rank a place in society to assume a cultural role not to be organically one or the other of two incommensurable sexes 6 Das Zwei Geschlechter Modell Bearbeiten Das Zwei Geschlechter Modell ist nach Laqueur eine Erfindung des 18 Jahrhunderts 7 Zunehmend werden die weiblichen und die mannlichen Geschlechtsorgane als grundsatzlich verschieden angesehen und entsprechend mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Namen versehen Der Wandel der anatomischen Theorie der Geschlechtsorgane ist dabei nur ein Teil einer allgemeinen biologischen Gegenuberstellung der Geschlechter Unterschiede werden nun auf allen Ebenen der Biologie gesucht in der Neuroanatomie der Evolutionsbiologie und sogar in der Zellbiologie Die Geschlechterbiologie dient nun auch als Begrundung sozialer und psychologischer Geschlechterunterschiede die Biologie der Geschlechter wird somit zur Grundlage des Nachdenkens uber Geschlechter Das Zwei Geschlechter Modell operiert nach Laqueur mit inkommensurablen Begriffen Frau und Mann werden als grundsatzlich verschiedene Prinzipien gedacht die die Geschlechter in Biologie Psychologie und sozialen Rollen auf unuberbruckbare Weise verschieden machen Das Zwei Geschlechter Modell ist also nicht einfach eine neue und bessere anatomische Theorie sondern eine neue Perspektive oder ein neues Paradigma auf die Geschlechter Diese neue Perspektive habe seit dem 17 Jahrhundert begonnen das Ein Geschlecht Modell langsam zu verdrangen Wissenschaftstheoretische Interpretation Bearbeiten Laqueur legt grossen Wert darauf den Wandel vom Ein zum Zwei Geschlechter Modell nicht als eine einfache Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts zu rekonstruieren Die Entwicklung des Zwei Geschlechter Modells sei nicht durch entscheidende Entdeckungen zu erklaren sie sei vielmehr eine wissenschaftliche Revolution im Sinne von Thomas S Kuhn die sich nicht mit Hilfe einfacher falsifikationistischer oder verifikationistischer Modelle fassen lasst Laqueur erklart in diesem Zusammenhang sogar I think that anatomy more than physics provides the paradigmatic case of Thomas Kuhn s argument that one cannot translate between theories across the chasms of revolution 8 dt Ich denke dass die Anatomie mehr noch als Physik ein paradigmatisches Beispiel fur Thomas Kuhns Argument ist dass man nicht uber die Klufte wissenschaftlicher Revolutionen hinweg zwischen Theorien ubersetzen kann Die konstruktivistische Perspektive Laqueurs wird bereits durch den englischsprachigen Titel des Werkes Making Sex angedeutet Die moderne Zweigeschlechtlichkeit ist nicht einfach eine objektive wissenschaftliche Tatsache sondern bis zu einem gewissen Grade von Wissenschaftlern hergestellt Sometime in the eighteenth century sex as we know it was invented 9 dt Irgendwann im 18 Jahrhundert wurde das uns bekannte biologische Geschlecht erfunden Laqueur weist jedoch darauf hin dass er nicht die Realitat von biologischen Geschlechterunterschieden leugnen mochte eine generelle Dekonstruktion korperlicher Geschlechtlichkeit lehne er ab Allerdings sei jede Reprasentation von Geschlechtern eine perspektivische Interpretation und durch den kulturellen Kontext geladen So seien etwa die anatomischen Illustrationen des Ein Geschlechter Modells nicht weniger korrekt als die spateren Bilder aus Anatomiebuchern Entsprechende Illustrationen wurden sich durch das Herausheben von verschiedenen Aspekten unterscheiden der kulturelle Kontext bewirke Vereinfachungen an verschiedenen Stellen In gleicher Weise seien auch die sprachlichen Reprasentationen des Zwei Geschlechter Modells nicht einfach korrekter es wurden schlicht neue sprachliche Strategien verwendet etwa eine anatomische Terminologie die auf einer grundlegenden Verschiedenheit der Geschlechter beruhte Kritik an Laqueurs Ein Geschlecht Modell Bearbeiten An Laqueurs Beschreibung eines Ein Geschlecht Modells und der radikalen Abgrenzung gegenuber einem Zwei Geschlechter Modell unserer Zeit wurden bald nach Erscheinen Kritiken laut Katherine Park und Robert A Nye 1991 kritisierten die vereinheitlichenden Beschreibungen Laqueurs fur naturphilosophische Geschlechtertheorien der Antike Sie fuhrten aus dass auch antike naturphilosophische Geschlechtertheorien zu differenzieren seien ein Ein Geschlecht Modell wie es Laqueur ausfuhrt habe es nicht gegeben 10 11 Fur das Mittelalter haben etwa Joan Cadden oder Rudiger Schnell darauf verwiesen dass es unprazise ist davon auszugehen es habe im Mittelalter nur ein dominantes Geschlechtermodell gegeben Cadden kommt 1993 in ihrer Studie uber mittelalterliche Geschlechterkonstrukte insbesondere uber Vorstellung von Geschlechterdifferenz in Medizin Naturphilosophie und Theologie zu einem anderen Ergebnis als Laqueur Ihre Untersuchung liefert zwar Belege fur Laqueurs These eines Ein Geschlecht Modells unterstreicht aber auch dass viele Quellen zeigen dass sich nicht alles auf dieses Modell reduzieren lasst Cadden zufolge gab es im europaischen Mittelalter unterschiedliche Vorstellungen von Geschlechtlichkeit es lasse sich nicht nur eine sondern es liessen sich mehrere Theorien ausmachen die auch miteinander verwoben seien Es habe auch die Vorstellung einer biologischen Dualitat der Geschlechter gegeben 12 Rudiger Schnell kritisiert in seiner Untersuchung aus dem Jahr 2002 dass Laqueur die Medizingeschichte der Antike und des Mittelalters stark vereinfacht und damit verzeichnet habe Es habe vor dem 18 Jahrhundert nicht ein einheitliches Ein Geschlecht Modell gegeben sondern vielmehr vielschichtige und durchlassige Konzepte Es habe keinen Wandel von einem Ein Geschlecht Modell zu einem Zwei Geschlechter Modell gegeben sondern einen Wandel von pluralen Auffassungen zu einer monolithischen Auffassung 13 nach Micheler 2005 S 33 34 14 Allerdings sind auch naturphilosophische und biologische Geschlechtertheorien seit 1800 durch Diskussionen und Auseinandersetzungen gekennzeichnet 15 Auch Michael Stolberg 2003 kritisierte die Ausfuhrungen Laqueurs und Londa Schiebingers Stolberg legte dar dass es bereits im 16 Jahrhundert u Z deutlich zweigeschlechtliche Unterscheidungen u a von Skeletten gegeben habe 16 Heinz Jurgen Voss prazisiert in dem Buch Making Sex Revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch medizinischer Perspektive die Kritik an einer starren Abgrenzung von biologischen Geschlechtermodellen wie sie Laqueur vollzog U a zeigten und zeigen sich Gleichheitsvorstellungen auch in den biologischen Geschlechtertheorien moderner Biologie und Medizin Voss 2010 regt an die Vielgestaltigkeit biologischer Geschlechtermodelle herauszuarbeiten und damit ihre gesellschaftliche Eingebundenheit bspw die Parteilichkeiten und Vorannahmen der dort arbeitenden Wissenschaftler besser als bisher in den Blick nehmen zu konnen 17 Schriften Auswahl BearbeitenReligion and Respectability Sunday Schools and Working Class Culture 1780 1850 Yale Yale University Press 1976 ISBN 0 300 01859 2 Catherine Gallagher Thomas Laqueur edited with introduction The Making of the Modern Body Berkeley und Los Angeles University of California Press 1987 ISBN 0 520 05961 1 Making Sex Body and Gender from the Greeks to Freud Cambridge Mass Harvard University Press 1990 ISBN 0 674 54355 6 dt Auf den Leib geschrieben Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud Frankfurt Main u New York Campus 1992 ISBN 3 593 34623 0 Theater und Prozess Die Todesstrafe in den USA Berlin John F Kennedy Institut fur Nordamerikastudien 2002 Solitary Sex A Cultural History of Masturbation Zone Books 2003 ISBN 1 890951 32 3 dt Die einsame Lust Eine Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung Berlin Osburg 2008 ISBN 978 3 940731 02 9Literatur BearbeitenJoan Cadden 1993 Meanings of sex difference in the Middle Ages Medicine Science and Culture Cambridge Cambridge University Press Katharine Park Robert A Nye 1991 Destiny is Anatomy Review of Laqueurs Making Sex Body and Gender from the Greeks to Freud The New Republic 18 53 57 Katharine Park 2023 The Myth of the One Sex Body Isis 114 150 175 Tilo Renz 2006 Brunhilds Kraft Zur Logik des einen Geschlechts im Nibelungenlied Zeitschrift fur Germanistik 16 8 25 Tilo Renz 2012 Um Leib und Leben Das Wissen von Geschlecht Korper und Recht im Nibelungenlied de Gruyter Berlin Boston 35 175 Michael Stolberg 2003 A Woman Down to Her Bones The Anatomy of Sexual Difference in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries Isis 94 274 299 Rudiger Schnell 2002 Sexualitat und Emotionalitat in der vormodernen Ehe Bohlau Koln Weimar Wien Heinz Jurgen Voss 2008a Naturphilosophische Geschlechter in der Antike In Rosa Zeitschrift fur Geschlechterforschung Zurich 37 S 46 49 Online http www schattenblick de infopool geist philo gpthe011 html Heinz Jurgen Voss 2010 Making Sex Revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch medizinischer Perspektive Transcript Verlag Bielefeld Einzelnachweise Bearbeiten 1 mellon org Memento des Originals vom 29 Dezember 2008 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www mellon org Solitary Sex A Cultural History of Masturbation siehe Werk Lutz Sauerteig Ausfuhrliche Rezension In sehepunkte 4 2004 Nr 11 15 Nov 2004 Alan Soble The Philosophy of Sex and Love St Paul Paragon House 1998 ISBN 1 55778 716 6 Schiebinger Londa The Mind has no Sex Cambridge Mass Harvard Univ Press 1991 ISBN 0 674 57623 3 MS S 8 MS S 149 MS S 96 MS S 149 Park Katherine Nye Robert A 1991 Destiny is Anatomy Review of Laqueurs Making Sex Body and Gender from the Greeks to Freud The New Republic 18 53 57 Voss Heinz Jurgen 2008a Naturphilosophische Geschlechter in der Antike In Rosa Zeitschrift fur Geschlechterforschung Zurich 37 S 46 49 Cadden Joan Meanings of sex difference in the Middle Ages Medicine Science and Culture Cambridge Cambridge University Press 1993 3 S 3 279 281 Schnell Rudiger Sexualitat und Emotionalitat in der vormodernen Ehe Koln Weimar Wien Bohlau Verlag 2002 S 71 72 Micheler Stefan Selbstbilder und Fremdbilder der Anderen Manner begehrende Manner in der Weimarer Republik und der NS Zeit Konstanz Universitatsverlag Konstanz 2005 vgl etwa einfuhrend Voss Heinz Jurgen 2008b Wie fur Dich gemacht die gesellschaftliche Herstellung biologischen Geschlechts In Coffey Judith Koppert Katrin mAnN LCavaliero Emerson Juliette Klarfeld Roman a Muller Daniela Huber Jamie Emde V D Hrsg Queer leben queer labeln Wissenschafts kritische Kopfmassagen fwpf Verlag Freiburg S 153 167 Stolberg Michael 2003 A Woman Down to Her Bones The Anatomy of Sexual Difference in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries Isis 94 274 299 Voss Heinz Jurgen 2010 Making Sex Revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch medizinischer Perspektive Transcript Verlag Bielefeld Weblinks BearbeitenLiteratur von und uber Thomas Laqueur im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Laqueurs HomepageNormdaten Person GND 112639305 lobid OGND AKS LCCN n86133563 VIAF 34499838 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Laqueur ThomasALTERNATIVNAMEN Laqueur Thomas WalterKURZBESCHREIBUNG amerikanischer WissenschaftshistorikerGEBURTSDATUM 6 September 1945GEBURTSORT Istanbul Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Thomas Laqueur amp oldid 236406329