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Die Raumsoziologie ist ein Teilgebiet der Soziologie das sich mit der Raumbezogenheit der Gesellschaft beschaftigt Das Entstehen von Raumen durch soziales Handeln wird dabei ebenso wie die Abhangigkeit des Handelns von raumlichen Strukturen analysiert Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Absolutistische und relativistische Raumkonzepte 3 Dualitat von Raum 4 Marxistische Ansatze 5 Postkoloniale Raumtheorien 6 Siehe auch 7 Literatur 8 WeblinksGeschichte BearbeitenDie Kategorie des Raums spielte in der soziologischen Theoriebildung lange Zeit eine untergeordnete Rolle vgl Schroer 2006 Erst in den 1990er Jahren setzte sich die Einsicht durch dass bestimmte gesellschaftliche Veranderungen ohne eine gesteigerte Aufmerksamkeit fur die raumliche Komponente des Lebens nicht hinreichend erklart werden konnen Diesen Perspektivwechsel bezeichnet man als topologische Wende Mit Hilfe des Raumbegriffs rucken Organisationsformen des Nebeneinanders in den Blick Das Augenmerk richtet sich auf die Differenz zwischen Orten und auf deren wechselseitige Beeinflussungen Dies gilt gleichermassen fur die Mikroraume des Alltags wie fur nationalstaatliche oder globale Makroraume Theoretischer Ausgangspunkt fur die zunehmende sozialwissenschaftliche Beschaftigung mit dem Raum waren vor allem Ansatze aus der franzosisch und englischsprachigen Soziologie Philosophie und Humangeographie Zu nennen sind hier insbesondere Michel Foucaults Aufsatz uber Andere Raume 1967 in dem der Autor das Zeitalter des Raumes ausruft sowie Henri Lefebvres einflussreiche Schrift La production de l espace 1974 Letztere bildete die Basis fur die marxistische Raumtheorie die unter anderem von David Harvey Manuel Castells und Edward Soja weiter entwickelt wurde Den marxistischen Raumtheorien die von einer strukturellen das heisst kapitalistischen bzw globalen Determiniertheit von Raumen und einer wachsenden Homogenisierung des Raums ausgehen stehen handlungstheoretische Konzeptionen gegenuber welche die Bedeutung des korperlichen Platzierens und des Wahrnehmens von Raumen als zwar habituell vorgepragte aber subjektive Konstruktionsleistung hervorheben Ein Beispiel dafur ist die Raumtheorie von Martina Low 2001 Daruber hinaus erfahren in den letzten Jahren Ansatze die an den Postkolonialismusdiskurs anschliessen eine verstarkte Aufmerksamkeit Ebenfalls in Abgrenzung von neo marxistischen Raumkonzepten betonen beispielsweise Doreen Massey 1999a b oder Helmuth Berking 1998 die Heterogenitat lokaler Kontexte und die Ortsbezogenheit unseres Wissens uber die Welt Absolutistische und relativistische Raumkonzepte BearbeitenIn Anlehnung an die historische Kontroverse uber das Raumdenken in Philosophie und Physik hat sich auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur die Unterscheidung zwischen absolutistischen und relativistischen Denkmodellen durchgesetzt Absolutistische Denkmodelle entwerfen Raum als neutrales Gefass oder Territorium und werden als Container oder Behalterraumkonzepte bezeichnet Raum als Gefass oder Territorium kann entweder leer sein und auch dann noch existieren wenn er leer ist oder beliebig mit Menschen Dingen Spharen oder Eigenschaften gefullt werden wodurch er sich jedoch nicht verandert Entscheidend ist dass Raum und Materie als unabhangig voneinander gedacht werden Carl Friedrich von Weizsacker 1986 zahlt zum Beispiel Claudius Ptolemaus Nikolaus Kopernikus Galileo Galilei und Isaac Newton zu dieser Tradition Auf die Soziologie ubertragen schliesst dieser Dualismus von Raum und Korpern die Annahme ein dass Raum unabhangig vom Handeln existiert Das heisst in der Logik des Behalterraums gibt es bewegte Handlungen in bzw auf einem an sich unbewegten Hintergrund Raum Diesem Konzept gegenuber steht die relativistische Tradition in der Raum aus der Anordnung von bewegten Korpern abgeleitet wird Raum ist relativistisch gesehen allein das Ergebnis von Beziehungsverhaltnissen zwischen Korpern ein Standpunkt den in der Physik zum Beispiel Nikolaus von Kues Robert Bellarmin Gottfried Wilhelm Leibniz und Ernst Mach vertreten Soziologisch gesprochen heisst das dass Raum prozessual im Handeln hergestellt wird Relativistische Modelle raumen dem Beziehungs bzw Handlungsaspekt eine primare Rolle ein vernachlassigen aber die strukturierenden Momente bestehender raumlicher Ordnungen Dualitat von Raum BearbeitenMit dem Ziel die Spaltung des raumtheoretischen Denkens in absolutistische und relativistische Standpunkte zu uberwinden entwickelte Martina Low die Idee eines relationalen Raummodells Der relationale Ansatz richtet seinen Fokus auf die An Ordnungen Low 2001 von Lebewesen und sozialen Gutern und untersucht wie Raum in Wahrnehmungs Erinnerungs oder Vorstellungsprozessen hergestellt wird und sich als gesellschaftliche Struktur manifestiert Die Schreibweise An Ordnung vereint Ordnung Strukturdimension Raume sind geordnet und Anordnung Handlungsdimension Raume sind Ergebnis eines Prozesses des Anordnens Sozialtheoretisch schliesst sie an die Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens 1988 an dessen Konzept der Dualitat von Struktur Martina Low raumsoziologisch zu einer Dualitat von Raum erweitert Der Grundgedanke ist dass Individuen als soziale Akteure handeln und dabei Raume herstellen ihr Handeln aber von okonomischen rechtlichen sozialen kulturellen und letztlich raumlichen Strukturen abhangt Raume sind somit das Resultat von Handlungen Gleichzeitig strukturieren Raume Handlungen das heisst Raume konnen Handlungen sowohl begrenzen als auch ermoglichen Hinsichtlich der Konstitution von Raum unterscheidet Low analytisch zwei sich in der Regel gegenseitig bedingende Prozesse das Spacing und die Syntheseleistung Das Spacing bezeichnet den Akt des Platzierens bzw das Platziertsein von sozialen Gutern und Menschen an Orten Als Raum wirksam wird eine uber Platzierungen geschaffene An Ordnung Low zufolge allerdings erst dadurch dass die Elemente dieser An Ordnung aktiv durch Menschen verknupft werden und zwar uber Wahrnehmungs Vorstellungs oder Erinnerungsprozesse Low nennt dies Syntheseleistung Empirisch erprobt wurde dieses Konzept u a in den Studien von Lars Meier der Raumkonstitutionsprozesse im Alltag deutscher Finanzmanager in London und Singapur erforschte vgl Meier 2009 Cedric Janowicz der eine ethnographisch raumsoziologische Untersuchung zur Nahrungsversorgung der ghanaischen Stadt Accra durchfuhrte vgl Janowicz 2008 und Silke Steets die sich mit Raumkonstitutionsprozessen in den Leipziger creative industries beschaftigte vgl Steets 2008 Marxistische Ansatze BearbeitenWichtigster Impulsgeber der marxistischen Raumtheorie war Henri Lefebvre der seine Erkenntnisse auf der Basis einer Analyse des fordistisch kapitalistischen Raums der Moderne entwickelt Die gesellschaftliche Produktion von Raum stellt sich Lefebvre als dialektisches Zusammenwirken dreier Faktoren vor Raum entsteht durch die raumlichen Praxis somit Raum wie er im Alltag reproduziert wird die Reprasentation des Raums das heisst Raum wie er kognitiv entwickelt wird und durch die Raume der Reprasentation womit Lefebvre komplexe Symbolisierungen und Imaginationsraume meint Das Resultat dieser Raumproduktion so Lefebvres Diagnose fur die 1970er Jahre ist ein von Entfremdung gepragter Raum der nichtreflexiven Alltaglichkeit der durch mathematisch abstrakte Raumkonzepte dominiert und in der raumlichen Praxis reproduziert werde Eine Fluchtlinie aus der entfremdeten Raumlichkeit sieht Lefebvre in den Raumen der Reprasentation also den Vorstellungen von nicht entfremdeten mythischen vormodernen oder kunstlerischen Raumvisionen Eine entscheidende Weiterentwicklung erfahrt die marxistische Raumtheorie vor allem durch die Arbeiten von David Harvey der sich fur die Auswirkungen des Ubergangs vom Fordismus zur flexiblen Akkumulation auf das Erleben von Raum und Zeit interessiert 1989 Er zeigt wie durch diverse Neuerungen auf okonomischer und technologischer Ebene die krisenauslosende Starrheit des fordistischen Systems aufgebrochen und so die Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals erhoht wird Dadurch komme es zu einer allgemeinen Beschleunigung okonomischer Kreislaufe Das Resultat sieht Harvey in einer sogenannten time space compression Wahrend auf der Ebene der Zeit der Sinn fur Langfristigkeit fur die Zukunft fur Kontinuitat verloren gehe werde auf der Ebene des Raums das Verhaltnis von Nahe und Ferne immer schwieriger zu bestimmen Postkoloniale Raumtheorien BearbeitenRaumtheorien die durch den Postkolonialismusdiskurs inspiriert sind richten den Fokus auf die Heterogenitat von Raumen Doreen Massey schreibt dass sich zum Beispiel in Bezug auf ein Land in Afrika nicht sinnvoll von einem Entwicklungsland sprechen liesse da in dieser Redeweise raumliche Unterschiede als zeitliche Differenz interpretiert wurden Massey 1999b Ein Land in Afrika erscheint in dieser Logik nicht als anders sondern bloss als fruhe Version eines Landes der entwickelten Welt was sie als Eurozentrismus dechiffriert Dies aufgreifend kritisiert Helmuth Berking Theorien die eine zunehmende Homogenisierung der Welt durch Prozesse der Globalisierung behaupten als Globozentrismus Er stellt diesen die Differenz und die Bedeutung lokaler Wissensbestande fur die Produktion von unterschiedlichen und je spezifischen Orten gegenuber Lokale Kontexte bilden ihm zufolge eine Art Rahmen oder Filter durch den hindurch globale Prozesse und global zirkulierende Bilder und Symbole uberhaupt angeeignet werden und so Bedeutung erlangen So sei die Filmfigur Conan der Barbar in den rechtsradikalen Zirkeln der Bundesrepublik eine andere Figur als in den schwarzen Ghettos der Chicagoer Southside genau wie McDonald s in Moskau etwas anders bedeutet als in Paris Siehe auch BearbeitenStadtsoziologieLiteratur BearbeitenWilma Ruth Albrecht Stadt oder Siedlung Zum Raumbegriff sozialwissenschaftlicher Studien uber stadtische Siedlungseinheiten und zu seiner Planungsrelevanz In Osterreichische Zeitschrift fur Soziologie OZS 8 1983 3 S 57 78 Helmuth Berking Global Flows and Local Cultures Uber die Rekonfiguration sozialer Raume im Globalisierungsprozess In Berliner Journal fur Soziologie Band 8 Nr 3 1998 S 381 392 Lars Clausen Volker von Borries Karl Simons Siedlungssoziologie Wohnung Gemeinde Umwelt Kosel Munchen 1978 Jorg Dunne Stephan Gunzel Raumtheorie Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften Frankfurt a M 2006 Michel Foucault Andere Raume In Martin Wentz Hrsg Stadt Raume Frankfurt a M New York 1991 S 65 72 Anthony Giddens Die Konstitution der Gesellschaft Grundzuge einer Theorie der Strukturierung Frankfurt a M New York 1988 David Harvey The Condition of Postmodernity Blackwell Publishing Oxford 1989 Ulf Jacob Es soll gut auf der Erde werden oder Die Gartenwelten des Hermann Furst von Puckler Muskau als soziale Raumstrukturen In Kultursoziologie 7 Jg H 2 1998 ISSN 0941 343X S 55 79 Cedric Janowicz Zur Sozialen Okologie urbaner Raume Afrikanische Stadte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung Bielefeld 2008 Henri Lefebvre The Production of Space Oxford Cambridge 1991 Martina Low Raumsoziologie Frankfurt a M 2001 Low Martina Steets Silke Stoetzer Sergej 2007 Einfuhrung in die Stadt und Raumsoziologie Opladen Doreen Massey Power Geometries and the Politics of Space Time Heidelberg 1999 Doreen Massey Spaces of Politics In Massey Doreen Allen John Sarre Philip Hrsg Human Geography Today Cambridge Oxford Malden 1999 S 279 294 Meier Lars 2009 Das Einpassen in den Ort Der Alltag deutscher Finanzmanager in London und Singapur Bielefeld Markus Schroer Raume Orte Grenzen Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes Frankfurt a M 2006 Steets Silke 2008 Wir sind die Stadt Kulturelle Netzwerke und die Konstitution stadtischer Raume in Leipzig Frankfurt a M New York Carl Friedrich von Weizsacker Aufbau der Physik Munchen Wien 1986 Ulrich Deinet Spacing Verknupfung Bewegung Aneignung von Raumen als Bildungskonzept sozialraumlicher Jugendarbeit In Ulrich Deinet Christian Reutlinger Hrsg Aneignung als Bildungskonzept der Sozialpadagogik Wiesbaden 2004 S 175 189 Weblinks BearbeitenHomepage der Sektion Stadt und Regionalsoziologie der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie Homepage des Lehr und Forschungsschwerpunkts Stadt Raum und Ort der TU Darmstadt Professur fur Sozialwissenschaftliche Stadt und Raumforschung an der Bauhaus Universitat Weimar 01 Material zu Lefebvre Die Produktion des Raumes AnArchitektur 1 2002 Zusammenfassende Rezensionen zu Grundlagentexten der Raumthematik Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Raumsoziologie amp oldid 224180677