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Geschichte der Kindheit im franzosischen Original L enfant et la vie familiale sous l ancien regime gilt als das Hauptwerk des Historikers Philippe Aries Das Buch befasst sich im Mittelalter beginnend mit der Entwicklung von Kindheitsbildern und wahrnehmungen innerhalb der westeuropaischen Gesellschaft Die Geschichte der Kindheit gilt als Begrundungswerk moderner sozialhistorischer Kindheitsforschung in Europa und den USA Das Buch erschien 1960 in Frankreich die deutsche Ubersetzung wurde erstmals 1975 publiziert Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 1 1 Erster Teil Die Einstellung zur Kindheit 1 1 1 I Die Lebensalter 1 1 2 II Die Entdeckung der Kindheit 1 1 3 III Die Kleidung des Kindes IV Kleiner Beitrag zur Geschichte der Spiele 1 1 4 V Von der Schamlosigkeit zur Unschuld 1 2 Zweiter Teil Das Schulleben 1 2 1 I Junge und alte Schuler im Mittelalter 1 2 2 II Eine neue Institution Das Kolleg 1 2 3 III Die Anfange der Schulklassen 1 2 4 IV Die Altersklassen 1 2 5 V Die Fortschritte der Disziplin 1 2 6 VI Vom Externat zum Internat 1 2 7 VII Die Petites Ecoles 1 2 8 VIII Die Harte des Schullebens 1 3 Dritter Teil Die Familie 2 Methode und Quellen 3 Rezensionen 4 Gliederung 5 Ausgaben 6 Literatur 7 EinzelnachweiseInhalt BearbeitenIn der Geschichte der Kindheit vertritt Aries die These dass moderne Vorstellungen von Kindheit und daraus resultierende Differenzierungen zwischen Kindern Jugendlichen und Erwachsenen keineswegs a priori gegeben seien Vielmehr scheint es als habe sich diese Unterscheidung und die damit einhergehende Gefuhlskultur gegenuber dem Kind und der Kindheit erst im 16 und 17 Jahrhundert entwickelt Das Buch zeichnet in drei Teilen diese historische Genese nach Im ersten Teil widmet Philippe Aries sich der Entdeckung der Kindheit im zweiten Teil zeichnet er die analoge Entwicklung des Schulwesens nach um sich anschliessend im dritten Teil mit den Auswirkungen dieser Veranderungen auf das Familienleben auseinanderzusetzen Erster Teil Die Einstellung zur Kindheit Bearbeiten Der erste Teil befasst sich mit der Entwicklung einer spezifisch kindlichen Lebenswelt im 16 und 17 Jahrhundert und dem Ausschluss der Kinder aus der Welt der Erwachsenen Gegliedert in funf Kapitel werden verschiedene historische Quellen analysiert und interpretiert die diesen Prozess illustrieren I Die Lebensalter Bearbeiten Im ersten Kapitel Die Lebensalter beschreibt Aries die semantische Verschiebung des Wortes Kind sowie der begrifflichen Ausdifferenzierung verschiedener Kindheitsphasen So waren Bezeichnungen wie Baby oder Kleinkind bis zum 17 Jahrhundert variabel auf unterschiedliche Altersgruppen anwendbar und bezeichnen erst seit der Epoche der Aufklarung jene Lebensabschnitte die wir heute mit ihnen assoziieren Noch in dieser Zeit scheint allerdings der Charakter dieser Differenzierung eher sozial als biologisch begrundet Begrifflichkeiten wie Sohn Knabe oder Junge sind gleichzeitig Synonyme oder Rufnamen fur Diener und verweisen somit auf eine Vorstellung von Abhangigkeit 1 die mit der Kindheitsvorstellung verbunden ist Des Weiteren weist Aries die Entwicklung einer neuen Beobachtungsgenauigkeit und der damit einhergehenden neuen Gefuhlswelt gegenuber dem Kind nach In Aufzeichnungen der Mme de Sevigne findet er vermehrt den Gebrauch von Diminutiva die von einer neuen Zartlichkeit gegenuber dem Kind zeugen Erst gegen Ende des 18 Jahrhunderts wird der Lebensabschnitt der Kindheit erneut erweitert Die Zeit der Adoleszenz erfahrt in jener Epoche ein neues Mass an Beachtung doch dauert es noch bis zum 20 Jahrhundert bis jenes Entwicklungsstadium die Jugend getauft und mit den Charakteristika der Naturlichkeit Spontanitat und Lebensfreude verknupft wird Das Junglingsalter nimmt seit jener Zeit einen grosseren Raum ein indem es die Grenze zur Kindheit herabdruckt und das reife Alter spater ansetzt 2 Das Entstehen dieser neuen Wahrnehmungskategorien interpretiert Aries als Antwort der Gesellschaft auf die sich verandernden demographischen Verhaltnisse Sie seien Ausdruck dessen wie die Gesellschaft auf die Lebensdauer reagiert 3 II Die Entdeckung der Kindheit Bearbeiten Im zweiten Kapitel zeichnet Aries Die Entdeckung der Kindheit durch die bildende Kunst nach die er als symptomatisch fur das neue Bewusstsein gegenuber dem Kind deutet Grundlage seiner Argumentation sind Analysen von Bildern vom 11 bis zum 17 Jahrhundert anhand derer er nachweist wie sich das Thema der Kindheit ikonographisch wandelt und in der Malerei neu interpretiert wird Wahrend das Kind im Mittelalter noch als kleiner Erwachsener dargestellt wird und vornehmlich im religiosen Kontext Beachtung findet deutet im 16 Jahrhundert das Auftauchen von Grabbildnissen verstorbener Kinder bereits auf die Entwicklung jener neuen Gefuhlskultur hin Die vorherige Nichtbeachtung oder emotionale Gleichgultigkeit gegenuber der Kindheit als einer schnell vorubergehende n Ubergangszeit 4 fuhrt Aries auf die hohe Kindersterblichkeit der Epoche zuruck Doch nach wie vor ist die Abbildung des Kindes eingebunden in ein christliches Verstandnis von Trauer und Tod Im 17 Jahrhundert ist es allerdings bereits Mode Portrats der eigenen Kinder anfertigen zu lassen und auch die Darstellung des Kindes im Familienportrat hat sich verandert es ist zum kompositorischen Zentrum geworden um das sich seine Angehorigen versammeln Die Malerei beginnt ausserdem der spezifisch kindlichen Korperlichkeit eine grossere Beachtung zu schenken In dieser Zeit entwickelt sich die Konvention das Kind nackt darzustellen Zusatzlich wird das Kind ikonologisch neu interpretiert Seit der fruhen Neuzeit gilt es als Symbol der Unschuld und wird zur Metapher fur die Reinheit der Seele III Die Kleidung des Kindes IV Kleiner Beitrag zur Geschichte der Spiele BearbeitenDas dritte und vierte Kapitel setzt sich mit der Kleidung des Kindes und dem Spiel auseinander Auch hier lasst sich seit dem 16 Jahrhundert ein Wandel feststellen So interpretiert Aries die sich verandernden Kleidungsgewohnheiten als ein weiteres Indiz fur die neue Einstellung gegenuber dem Kind und konstatiert fur das Mittelalter Hinsichtlich seines Aufzuges unterschied sich das Kind in nichts vom Erwachsenen Eine gegensatzlichere Haltung in bezug auf die Kindheit lasst sich nicht denken An der Kleidung zeigt sich wie wenig die Kindheit in der Lebenspraxis damals als solche behandelt wurde Sobald das Kind den Windeln d h der Stoffbahn die man ihm eng um den Korper wickelte entwuchs wurde es wie die anderen Manner und Frauen seines Standes gekleidet 5 Ab dem 16 Jahrhundert ist das Kleid jedoch zur spezifischen Kinderkleidung geworden das fur die Jungen erst ab dem 8 Lebensjahr durch eine Hose abgelost wird Diese Eigenschaft verweist auch auf die vorherrschende Idee der Asexualitat und Geschlechtsneutralitat des Kindes Eine wichtige Beobachtung macht Aries wenn er konstatiert dass jene Veranderungen nicht nur auf eine starkere Trennung von Kinder und Erwachsenenwelten hindeutet sondern gleichermassen auf eine habituelle Differenzierung zwischen den Standen und Klassen Wahrend Festtagsszenarien auf Gemalden des 16 Jahrhunderts noch die unterschiedslose Teilnahme von Jung und Alt Arm und Reich an den verschiedenen Ritualen Spielen und Tanzen darstellen scheint der erwachsene Adel schon ein Jahrhundert spater bemuht sich sowohl von den Kindern als auch vom gemeinen Volk abzugrenzen dies gilt gleichermassen fur das Bildungsburgertum im 18 Jahrhundert Ahnliche Entwicklungen vollziehen sich in den verschiedensten Vergnugungsaktivitaten wie dem Gesellschaftsspiel dem Bewegungsspiel dem Spiel mit Puppen dem Verkleiden dem Marchenerzahlen die ab dem 17 Jahrhundert fast nur noch von Kindern praktiziert werden Andere Bereiche beispielsweise das Glucksspiel werden der Erwachsenenwelt zugeordnet V Von der Schamlosigkeit zur Unschuld Bearbeiten Im letzten Kapitel Von der Schamlosigkeit zur Unschuld zeichnet Aries einen weiteren Mentalitatswandel nach der sich vornehmlich auf das Verhaltnis von Kindheit und Sexualitat bezieht Hierbei dienen die detaillierten Aufzeichnungen Jean Heroards des Hausarztes Ludwigs XIII uber das Aufwachsen des jungen Konigs als Hauptquelle Es wird gezeigt dass die Tabuisierung der Sexualitat gegenuber dem Kind erst im ausgehenden 17 Jahrhundert einsetzt Im Gegensatz dazu scheint der junge Ludwig XIII bereits mit vier Jahren vollstandig aufgeklart Heroards Berichte bezeugen einen uberraschend offenen Umgang mit dem Thema der Sexualitat und zeigen dass der Junge an sexuellen Witzen und Anspielungen der Dienerschaft teilnimmt Die sittliche Erziehung die die Kinder lehrt korperliche Distanz zu wahren und bestimmte Themengebiete als unschicklich zu akzeptieren setzt erst mit dem siebten Lebensjahr ein Durch diese Umgangsweise wird deutlich dass Kindheit als eine asexuelle Lebensphase gedeutet wurde Diese Vorstellung wird im 18 Jahrhundert durch die Imagination einer kindlichen Unschuld ersetzt die es zu schutzen gilt Vermehrt warnen Padagogen und Moralisten vor unzuchtigem Verhalten in Gegenwart des Kindes Es ist ein verbreitetes Bemuhen um Schicklichkeit zu erkennen dem in der Auswahl sittsamer Literatur und einem kindgerechten Unterhaltungsangebot Ausdruck verliehen wird Zweiter Teil Das Schulleben Bearbeiten I Junge und alte Schuler im Mittelalter Bearbeiten Einleitend mit einem Verweis auf die Schulentstehung in der Antike beschreibt Aries im ersten Kapitel wie im Mittelalter nach dem Zusammenbruch eben jener antiken Kultur ein christlich gepragtes Schulsystem entstand Anlass waren die Erfordernisse fur das priesterliche Amt Dazu zahlten Kenntnisse der liturgischen Texte kalendarische Kenntnisse sowie kunstlerisch musikalische Fahigkeiten Der Unterricht fand zunachst anhand mundlicher Uberlieferung in der Kirche selbst statt Spater wurden dann Raume in den Gemeinden gemietet in welchen der Unterricht stattfand Aries beschreibt wie der Unterricht sich in der karolingischen Epoche auf die sogenannten Artes ausweitete Diese umfassten das Trivium Grammatik Rhetorik Dialektik und das Quadrivium Geometrie Arithmetik Astronomie Musik ausserdem fand ein Unterricht in Theologie und kanonischem Recht statt Die mittelalterliche Schule war ausschliesslich Geistlichen und Monchen vorbehalten doch sie offnete sich gegen Ende jener Epoche immer mehr fur weitere Teile der Bevolkerung Fehlender Elementarunterricht und Hochschulunterricht in Natur und Geisteswissenschaften grenzt das Modell mittelalterlicher Schule von dem der Antike ab Dieser Fakt deutet auf ein Fehlen von Unterrichtsstufen im Allgemeinen hin Aries beschreibt dass es im Mittelalter weder in Bezug auf Altersklassen noch in Bezug auf daran angepasste Lerninhalte eine Trennung gab Der Unterricht erfolgte in keiner festgelegten Reihenfolge und wurde von Schulern jeden Alters gemeinsam besucht Der Unterrichtsstoff war somit fur alle gleich unterschiedlich war nur die Anzahl der Wiederholungen der Themen Mangel an Schriftstucken mundliche Uberlieferung Das Eintrittsalter der Schuler war im Mittelalter auch sehr variabel Aries spricht von Sieben bis teilweise sogar Siebzehnjahrigen Hier wird deutlich dass das Bild eines schutzenswerten Kindes welchem zudem eine Sonderrolle neben dem Erwachsenen zuteilwird wie es heutzutage der Fall ist noch nicht existierte Man nahm keinen Anstoss daran dass jung und alt miteinander lernten Zudem war diese Vermischung auch im Alltagsleben normal II Eine neue Institution Das Kolleg Bearbeiten Ausgehend von den mittelalterlichen Traditionen kam es nach und nach zu einer Absonderung der Altersklassen Diese Entwicklung geht gleichzeitig mit der der Schule einher Zunachst kam es zur Abtrennung der jungeren Altersklassen spater breitete sich dieser Prozess auch auf die alteren Schuler aus Anders als in der mittelalterlichen Schule in der weitgehende Freiheit fur Lehrer und Schuler herrschte etablierte sich nun durch die christliche Tradition gepragt die Absicht die Schuler von den weltlichen Versuchungen fernzuhalten um so die angestrebte moralische Erziehung nicht zu gefahrden Die Trennung der Altersklassen begrenzt sich jedoch zunachst nur auf die Schulerschaft wohingegen im Alltagsleben und in Berufen keine Unterscheidungen getroffen werden Es kommt also im 15 Jahrhundert zur Grundung von Kollegs Sie entstehen aus Asylen fur arme Schuler und entwickeln sich zu Anstalten fur Stipendiaten welche von einem Abt oder Pralat finanziert werden Diese noch geringe Zahl an Schulern wird spater durch Externe erweitert welche ebenso am Kolleg lernen jedoch bei einem Ortsansassigen untergebracht sind Die Lehrerschaft dieser neuen Schulform wurde hauptsachlich durch altere Stipendiaten gestellt welche ebenso im Kolleg untergebracht waren Das Kolleg ermoglichte also nicht mehr nur gebildeten Geistlichen den Schulzugang sondern auch in den ubrigen Bevolkerungsteilen etablierte es sich Kinder wenigstens fur ein einige Jahre aufs Kolleg zu schicken III Die Anfange der Schulklassen Bearbeiten Heutige Schulklassen gehen mit einem entsprechenden Durchschnittsalter und einem je speziellen Wissensstand einher Somit sind sie ein bestimmender Faktor bei der Differenzierung von Altersstufen von Kindheit und Jugend In der mittelalterlichen Tradition kennt man diese Einteilung jedoch noch nicht Wie schon erwahnt lernten viele Altersgruppen simultan denselben Stoff Dies machte eine solche Abstufung und Planung des Wissenserwerbs unmoglich und stellte deshalb im 16 Jahrhundert eine so grosse Neuerung dar Zunachst noch sehr undifferenziert praktiziert in Form von mehreren Gruppen die in einem Raum lernten jedoch nach Wissensstand getrennt wurden entwickelte sich nach und nach ein ungefahr sechs spater achtjahriger Zyklus welcher von den Schulern mehr oder weniger stringent durchlaufen wurde Einige Schuler absolvierten nur wenige dieser Etappen andere stiegen schon mit einer hoheren Klasse ein oder ubersprangen eine Klasse Ein weiteres Merkmal unserer modernen Schulklasse ist die raumliche Spezialisierung Wie schon erwahnt fand der Unterricht zunachst in einem Raum fur mehrere Klassen statt Im 17 Jahrhundert burgerte es sich ein jeder Klasse einen Raum zuzuteilen Diese Entwicklung begrundet Aries mit der steigenden Schulerzahl und nicht etwa mit einem erwachenden Bewusstsein einer didaktischen Notwendigkeit Die Klassen des Saint Jerome zahlten mehr als zweihundert Schuler und auch die Klassen der grossen Kollegs wie etwa des Louis le Grand bewegen sich bis zum 18 Jahrhundert in diesen Dimensionen 6 Dieser Prozess zeigt also das Bemuhen den Unterrichtsstoff ebenso wie die Lernumstande mehr und mehr auf den Schuler zuzuschneiden Man ist sich einer Sonderstellung der Kinder und Jugendlichen bewusst geworden so Aries Dennoch sollte man diese Merkmale nicht missverstehen Zwar fallen gelegentlich Altersstufen mit Klassenstufen zusammen doch gibt es bis ins 17 und 18 Jahrhundert bei weitem nicht die Homogenitat hinsichtlich des Alters in den Klassen wie wir sie heute kennen IV Die Altersklassen Bearbeiten Im nachsten Kapitel geht Aries naher auf das Alter der Schuler ein und inwieweit es in Verbindung zu Klassenstufen stand Dieses Verhaltnis ist naturlich nicht ausgenommen von den tiefgreifenden Entwicklungen die die Einstellung zur Kindheit insgesamt durchlief Es lasst sich konstatieren dass es Schulkarrieren gab welche ungewohnlich rasch absolviert wurden Deutlich schneller also als der Durchschnitt in der jeweiligen Zeit die Schulzeit durchlief Erstaunlich hierbei ist dass diejenigen die die Schule uberdurchschnittlich rasch durchliefen meistens auch nach der Schulzeit glanzende Lebenswege einschlugen So bemerkt Aries allein durch den Fakt dass diese Manner Memoiren verfassten derer sich Aries bediente dass sie uber dem damaligen Durchschnitt standen Denn dieser war haufig nicht in der Lage zu schreiben oder zu lesen Diese Falle von Fruhreife lassen sich so Aries auf die mittelalterlichen Sitten zuruckfuhren die darauf beruhten dass alle Altersstufen gemischt miteinander lernten und somit ein besonders junger Schuler kaum Aufsehen erregte Allmahlich etablierte sich eine Missbilligung fruhzeitiger Einschulung was zur Folge hatte dass die Schulerschaft insgesamt homogener wurde betrachtet man die Altersstufen Die Entwicklung des Kollegs bedeutet also eine Zasur in Hinblick auf die Kindheit Mit neun oder zehn Jahren wurden die Schuler eingeschult Die Kindheit wurde also quasi verlangert 7 da viele Schuler im Mittelalter und bis ins 16 und fruhe 17 Jahrhundert ja deutlich fruher eingeschult wurden Im 19 Jahrhundert entwickelte sich zudem nach und nach die Ansicht dass diese fruhe Phase der Kindheit von der Phase der Jugendlichkeit zu trennen sei Bei den Junglingen des Burgertums setzte sich die Universitatsbildung durch welche sie vom einfachen Volk trennte Daran anschliessend entwickelten sich nach und nach die Verbindung von Altersstufe zu Klassenstufe wie wir sie heute kennen V Die Fortschritte der Disziplin Bearbeiten Aries deutet in diesem Kapitel an wie sich Aufnahmerituale und Disziplin vom Mittelalter her entwickelten Es gab im Mittelalter keine schulische Hierarchie wie wir sie heute kennen Dennoch war die Schule damals nicht egalitar oder demokratisch 8 da es durchaus Unterschiede zwischen alten und neuen Schuler gab Jedoch war der Begriff der Autoritat fremd Das Zusammenleben kann als kameradschaftlich und kollegial beschrieben werden Trinkgelage und gemeinsame Mahlzeiten sollten diesen Bund festigen Zum Ende des Mittelalters hin missbilligte man diesem System jedoch immer mehr Bis zum 18 19 Jahrhundert setzte sich dann nach und nach das uns heute bekannte System von Ordnung Hierarchie und Klassifizierung durch Damit einher geht die Geschichte der Prugelstrafe welche sich im 16 Jahrhundert etabliert und im Laufe des 18 Jahrhunderts nachlasst Begrundet werden kann die Abschaffung der Zuchtigung damit dass man nun nicht mehr davon ausging das Kind nahme eine Gegenposition zum Erwachsenen ein sondern musse vielmehr auf die Zeit als Erwachsener vorbereitet werden Doch diese liberalen Bemuhungen stiessen auf eine starke Gegenstromung in Form von militarischer Strenge die laut dem damaligen Zeitgeist an sich erzieherisch wertvoll war 9 Neuartig hieran ist dass das der erste Zeitpunkt ist an dem nicht etwa eine kirchliche oder monastische Institution das Schulsystem pragt sondern das Militar Es kommt also sozusagen zu einer Militarisierung der Schule Merkmale wie Mannlichkeit Harte und Durchhaltevermogen werden gewurdigt und angestrebt Der Stand des Offiziers ist dafur ein gutes Beispiel Hoch geachtet wird ebenso der Soldat in der Gesellschaft Es bildet sich also ein besonderes Augenmerk fur die Junglingszeit heraus was bis dahin unbekannt war VI Vom Externat zum Internat Bearbeiten Zu Beginn der Betrachtung gab es noch kein Internat Die Schuler lebten meist in der Stadt bei Burgersleuten und waren daher der vaterlichen oder schulischen Autoritat weitgehend entzogen Ihr Alltagsleben unterschied sich kaum von dem der erwachsenen Junggesellen Am Kolleg etablierte sich zumindest fur die wenigen die dort lebten eine hierarchische Disziplin Ausgedehnt wurde dies dann auf ein vom Kolleg getrenntes Internat welches sich am Ende des 18 Jahrhunderts entwickelte Leitgedanke zu dieser Zeit schien also zu sein die Schulkinder von den ubrigen Altersklassen der Gesellschaft zu trennen Der nachste wichtige Punkt ist dann die zunehmende Wichtigkeit der Familie was zur Folge hat dass das Verhaltnis der Schulerschaft sich zugunsten der Externen verschiebt Die Familien ubernehmen sozusagen die Aufsichtsfunktion sowie die moralische Erziehung der Kinder welche vorher Aufgaben der Schulen waren VII Die Petites Ecoles Bearbeiten Im 17 Jahrhundert erfolgte eine Spezialisierung hinsichtlich der Altersklassen der Funf bis Siebenjahrigen bis zu den Zehn und Elfjahrigen Man erkannte den besonders jungen Schulern also einen Sonderstatus gegenuber den ubrigen Altersstufen zu und unterrichtete daher separat Erstaunlich ist jedoch dass sich zeitgleich ein weiteres Phanomen etabliert Namlich die Trennung der Schulformen fur gemeines Volk sowie Aristokratie und Burgertum Zwischen diesen beiden Phanomenen lasst sich so meine ich eine Verbindung feststellen Sie sind beide Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zur Abriegelung die darauf abzielte das einst miteinander Verschmolzene zu trennen eine Tendenz die der cartesischen Revolution der Klarheit der Ideen nicht fremd ist und die in die egalitaren modernen Gesellschaften mundet in denen eine rigorose geografische Unterteilung an die Stelle der promisken Konstitution der alten Hierarchien getreten ist 10 VIII Die Harte des Schullebens Bearbeiten Ausgehend von mittelalterlichen Sitten beschreibt Aries die Harte des damaligen Alltags Nicht selten kam es zu Prugeleien und bewaffneten Kampfen Ebenso zeigte sich dies an den Gepflogenheiten bei der Aufnahme neuer Schuler Prugel und gewalttatige Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung scheint es Aber auch Schulerproteste gingen mit ungemeiner Harte und Bewaffnung einher Auch die Trinkgelage in den Kollegs und sexuelle Ausschweifungen sind mit unseren heutigen Sitten kaum mehr zu vergleichen Hundert Schuler haben die Syphilis ehe sie bei Aristoteles angekommen sind 11 und Aries erganzt und Aristoteles wurde fruh gelesen Genau aus diesem Grund gab es derlei strenge Statuten wie ein absolutes Verbot von Frauen an den Kollegs und sei es auch nur als Aufwarterinnen Und dies ist auch eine Ursache fur die Abkapselung der Geschlechter in den Kollegs und im spateren Schulwesen Frauen werden so mehr und mehr zu verspotteten Eindringlingen in eine mannliche Schulwelt Durch den Druck der Erzieher setzte sich daran anschliessend die Auffassung des wohlerzogenen Kindes durch 17 Jahrhundert Dieses Bild des braven Kindes finden wir spater in der Form des Kleinburgers oder Gentleman wieder Dieser soziale Typus war vor dem 19 Jahrhundert ganzlich unbekannt Diese Sitten die zunachst nur auf die Kinder in den Schulen beschrankt waren breiteten sich mehr und mehr auf die Elite des 19 Jahrhunderts und wurden spater zum Leitbild des modernen Menschen Dritter Teil Die Familie Bearbeiten Im abschliessenden dritten Teil der Geschichte der Kindheit wird die Situation des Familienlebens untersucht In den Kapiteln Familienbilder und Von der mittelalterlichen zur modernen Familie weist Aries nach inwiefern die Entwicklung einer modernen Vorstellung von Kindheit mit derjenigen der heutigen Familie einhergeht und wie sie einander Bedingung und Voraussetzung sind Auch in diesem Abschnitt bedient sich Aries der bildenden Kunst als aussagekraftige Quelle Es wird dargestellt dass die Entdeckung der Kindheit mit dem Auftauchen des Familienmotivs in der Malerei einhergeht Dementsprechend sind Familiendarstellungen bis ins 16 Jahrhundert ebenfalls auf den religiosen Kontext begrenzt die weltliche Familie wird erst im 17 Jahrhundert durch die Maler entdeckt Vermehrt tauchen Abbildungen alltaglich familiarer Situationen auf in denen das Kind zunehmend in das Bildzentrum rucken Diese Veranderungen in der Ikonographie fuhrt Aries zuruck auf den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel und die neue Beachtung die die Instanz Familie durch ihn erfahrt Vor dieser Entwicklung so wird konstatiert habe die Familie zwar eine gesellschaftliche nicht aber eine emotionale Realitat dargestellt Dies wird zum einen auf dem Umstand zuruckgefuhrt dass das Kind ab dem 7 Lebensjahr das Elternhaus verliess um in einem Betrieb ein Handwerk zu lernen Zum anderen ist es aus der vormodernen Sozialisationsordnung abzuleiten Den Menschen des Mittelalters ist der Dualismus von Privatheit und Offentlichkeit weitestgehend unbekannt es gibt einen hohen Grad an Sozialitat Die biologische Familie lebt in grosster Nahe mit ihrer Dienerschaft und ist standig umgeben von Menschen die nicht Familienmitglieder sind zu denen sie ahnlich enge Beziehungen unterhalten Ab dem 16 Jahrhundert setzt allerdings auch familiengeschichtlich ein Wandel ein Da Kinder vermehrt die Schule besuchen verlangert sich die gemeinsame Zeit der Verwandten Bereits im 17 Jahrhundert scheint das Verhaltnis von Sozialitat und Familie ausgeglichen So gelten nach wie vor die Gebote der Schicklichkeit die die zwischenmenschliche Interaktion reglementieren und Nahe und Vertrautheit schaffen sollen Im 18 Jahrhundert werden diese Manieren allerdings abgelost durch das Hoflichkeitskonzept dass in seiner Form bis in die Gegenwart gultig ist Anstelle einer starkeren Bindung soll nun Distanz gewahrt werden es gilt die Intimitat des Privatlebens zu respektieren Diese Veranderung in den Umgangsformen ist als ein Symptom der modernen Trennung von Beruf Privatheit und Offentlichkeit zu interpretieren Diese lasst sich besonders an den Veranderungen der Wohngewohnheiten nachvollziehen In Zeiten hoher Sozialitat bildet das Haus den zentralen Versammlungsort es dient der Familie nicht primar als Wohnraum sondern gleichzeitig als berufliche Lokalitat in der unangekundigter Besuch die Regel darstellt Bis ins 17 Jahrhundert besteht das Haus aus Allzweckraumen die von allen Bewohnern gleichermassen und flexibel genutzt werden Im 18 Jahrhundert werden den Zimmern bereits spezifische Funktionen zugeschrieben so wird das Haus aufgeteilt in Wohn Schlaf Speise und Kinderzimmer und getrennte Bereiche fur die Herrschaften und ihre Angestellten Die Kleinfamilie verschliesst sich zunehmend vor Besuch der Beruf wird ausserhalb ausgeubt und auch innerhauslisch distanziert sich die Familie immer mehr von ihrem Dienstpersonal Methode und Quellen BearbeitenAries verwendet unterschiedlichste Quellen Fur die Argumentation des ersten und dritten Teils dienen ihm vornehmlich Bilder Memoiren und Briefe als Quellen Die Berichte des Heroards uber das Aufwachsen Ludwigs XIII und die Aufzeichnungen Madame de Sevignees stellen zwei seiner Hauptquellen dar Im zweiten Teil verwendet Aries zusatzlich verschiedene statistische Quellen Rezensionen Bearbeiten Das Grossartige an Aries Buch ist die Fulle des historischen Materials und der haufig neuen Beobachtungen Dass das Buch fur jeden Interessierten spannend zu lesen ist und nicht in eine Aufzahlung von Fakten zerfallt liegt daran dass Aries weder eine Ideen noch eine Institutionen oder Sittengeschichte schreibt sondern eine Geschichte der Bedeutungen Gefuhle Einstellungen die sich in bildlichen Darstellungen und Texten und in den Einzelheiten des Lebens von Kindern und Erwachsenen bekunden Frankfurter Rundschau 12 Aries Buch hatte einen blendenden Erfolg und ist zum primum mobile der Erforschung der Familiengeschichte geworden Es ist ein grundliches anschauliches und einfallsreiches Werk und verdient als eine Pioniertat all den Ruhm und die Beachtung die ihm zuteil geworden sind Es ist eines jener bahnbrechenden Bucher wie sie kein traditioneller Historiker geschrieben haben konnte Ohne es ware unsere Kultur armer The New York Review of Books 12 Gliederung BearbeitenGliederung der Geschichte der Kindheit Vorwort zur deutschen Ausgabe von Hartmut von HentigEinleitungErster Teil Die Einstellung zur Kindheit I Die LebensalterII Die Entdeckung der KindheitIII Die Kleidung des KindesIV Kleiner Beitrag zur Geschichte der SpieleV Von der Schamlosigkeit zur UnschuldSchlussbemerkung Die beiden Einstellungen zur KindheitZweiter Teil Das Schulleben I Junge und alte Schuler im MittelalterII Eine neue Institution Das KollegIII Die Anfange der SchulklassenIV Die AltersklassenV Die Fortschritte der DisziplinVI Vom Externat zum InternatVII Die Petites Ecoles VIII Die Harte des SchullebensSchlussbemerkung Die Schule und die Dauer der KindheitDritter Teil Die Familie I FamilienbilderII Von der mittelalterlichen zur modernen FamilieSchlussbemerkung Familie und SozialitatAusgaben BearbeitenGeschichte der Kindheit Originaltitel L enfant et la vie familiale sous l ancien regime Plon Paris 1960 ubersetzt von Caroline Neubaur und Karin Kersten Hanser Munchen 1975 als Taschenbuch 17 Taschenbuchauflage dtv Sachbuch Kultur amp Geschichte 30138 Munchen 2011 Erstausgabe 1978 ISBN 978 3 423 30138 1 Literatur BearbeitenPatrick H Hutton Philippe Aries and the politics of French cultural history University of Massachusetts Press Amherst 2004 ISBN 978 1 55849 435 0 Paperback ISBN 978 1 55849 463 3 Einzelnachweise Bearbeiten Ph Aries Geschichte der Kindheit S 83 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 88 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 90 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 93 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 112 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 282 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 346 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 356 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 380 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 438 439 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 Ph Aries Geschichte der Kindheit S 448 dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1 a b Ph Aries Geschichte der Kindheit dtv 16 Auflage Munchen 2007 ISBN 978 3 423 30138 1Normdaten Werk GND 1088017924 lobid OGND AKS VIAF 308010273 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Geschichte der Kindheit amp oldid 238114881