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Ego Dokumente sind Quellen in denen Selbstwahrnehmung und Darstellung des historischen Subjekts in seinem Umfeld zum Ausdruck kommen Dies kann in freiwilliger oder unfreiwilliger Form erfolgen das heisst in direkten Texten wie beispielsweise Autobiographien Tagebuchern und Briefen oder nicht zur Uberlieferung geplanten Ausserungen im administrativen Kontext wie etwa in Strafprozessakten Aus dem Tagebuch von Friedrich Kellner Inhaltsverzeichnis 1 Wortherkunft 2 Geschichte des Begriffs 3 Diskurs in der Geschichtswissenschaft 4 Quellenkritik 5 Literatur 6 WeblinksWortherkunft BearbeitenDer Ausdruck Ego Dokumente setzt sich aus den Begriffen Ego und Dokument zusammen Ego entstammt dem Lateinischen beziehungsweise Griechischen ἐgὼ und bedeutet ich Dokument kommt vom lateinischen documentum fur Beweis eigentlich wodurch man etwas lehren woraus man etwas schliessen kann Der aktuelle Duden nennt fur das Stichwort Dokument die Einzelbedeutungen Urkunde amtliches Schriftstuck und Beweisstuck bzw Zeugnis Geschichte des Begriffs BearbeitenErstmals trat der Terminus egodocumenten 1958 in der niederlandischen Sozialgeschichtsschreibung auf als der Historiker Jacques Presser egodocumenten als Texte bezeichnete in denen der Autor schreibendes und beschreibendes Subjekt ist In den 1980er Jahren knupfte Rudolf Dekker an Pressers Definition an und prazisierte Der Autor eines egodocument formuliert sein Handeln und seine Gefuhle Beide Wissenschaftler verwiesen dabei insbesondere auf Autobiographien Briefe Memoiren Reiseberichte und Tagebucher das heisst freiwillige und vorsatzliche Berichte von Individuen Diese Begriffsbestimmung entspricht gegenwartig in etwa dem deutschen Fachausdruck Selbstzeugnis Im darauf folgenden Jahrzehnt ubernahm Winfried Schulze den niederlandischen Begriff in die deutsche Geschichtswissenschaft Grundlegend neu ist seine Erweiterung der Ego Dokumente um unfreiwillige unbeabsichtigte Selbstaussagen des Ichs Gemeinsames Kriterium aller Texte die als Ego Dokumente bezeichnet werden konnen sollte es sein dass Aussagen oder Aussagepartikel vorliegen die wenn auch in rudimentarer und verdeckter Form uber die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie seiner Gemeinde seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhaltnis zu diesen Systemen und deren Veranderungen reflektieren Sie sollten individuell menschliches Verhalten rechtfertigen Angste offenbaren Wissensbestande darlegen Wertvorstellungen beleuchten Lebenserfahrungen und erwartungen widerspiegeln Schulze S 28 Demnach zahlen zur Quellengruppe der Ego Dokumente nicht nur die klassischen Selbstzeugnisse wie etwa Autobiographien Briefe Chroniken Memoiren Reiseberichte Tagebucher sondern ebenfalls Ausserungen im Schriftgut amtlicher rechtlicher oder wirtschaftlicher Prozesse wie Anschreibebucher Bittschriften Einstellungsbefragungen Gnadengesuche Inquisitionsprotokolle Rechnungsbucher Steuererhebungen Testamente Untertanenbefragungen Verhorprotokolle Visitationen Zeugenbefragungen usw Der grosse Gewinn der Definition einer Quellengruppe Ego Dokumente ist dass sie Texte einschliesst in denen Auskunfte schriftunkundiger Schichten oder wenig reprasentierter Gruppen erkennbar werden Zu diesen Gruppen zahlen etwa Frauen Bauern und Arbeiter die sonst in Schriftquellen wenig vertreten oder nur Teil der Statistik sind Aus Ego Dokumenten gewonnene Erkenntnisse nutzen unter anderem der mikrohistorischen und mentalitatsgeschichtlichen Erforschung des fruhneuzeitlichen Menschen seiner individuellen Erfahrung und Vorstellung seinen kulturellen Werten und Praktiken sowie seinem Verhalten und Empfinden kurz seinem alltaglichen Leben Diskurs in der Geschichtswissenschaft BearbeitenSchulzes Definition der Ego Dokumente wird in zweierlei Punkten kritisiert Die Undifferenziertheit des Begriffs bringt diesen in die Nahe des Ego Begriffs der Freudschen Psychologie was zu ubersteigerten Assoziationen und besonders im Bezug auf Einblicke in die historische Psyche des Schreibenden zu unerfullbaren Erwartungen an die Quelle fuhren kann Die Vermischung von selbst abgefassten und administrativen Schriften zu einer Quellengruppe erschwert den Versuch einer umfassenden Quellenverzeichnung Dieser wird daruber hinaus durch die seit der Neuzeit kontinuierlich und rapide steigende Anzahl der Texte komplizierter Der Terminus Ego Dokumente beschrankt sich darauf lediglich assoziativ zu funktionieren Er dient als lose Klammer fur alle Kategorien von Quellen die Auskunfte uber ein Ich offenlegen anstatt diese zur Vereinfachung der Arbeitsgrundlage prazise und differenziert zu ordnen und somit eine allgemeine Verwendung der Definition zu ermoglichen Grosse Teile der Geschichtswissenschaftler arbeiten daher weiterhin mit dem Fachbegriff Selbstzeugnis infolgedessen die Facetten der unfreiwilligen notwendiger bzw zwangsweise gemachten Selbstaussagen nahezu vollig unentdeckt bleiben Einen ersten Schritt in Richtung einer grundlichen Untergliederung der Ego Dokumente machte Benigna von Krusenstjern im Jahre 1994 Sie ordnete die Selbstzeugnisse als Teilmenge der Ego Dokumente ein Wesentliches Kennzeichen der Selbstzeugnisse sei die Selbstthematisierung durch ein explizites Selbst das heisst dass die Ausserung bewusst und aus eigenem Antrieb geschehen sei von Krusenstjern S 463 Quellenkritik BearbeitenElementarer Bestandteil beim Arbeiten mit Ego Dokumenten ist wie auch bei anderen Quellen die Quellenkritik die Ergiebigkeit und Wert der Quelle uberpruft Zentral dafur ist die Analyse des Entstehungskontextes der Schriftstucke Zunachst sind die sozialhistorisch auf das Ich einwirkenden Bedingungen wie Alter Geschlecht Herkunft Bildungsstand Erfahrung gesellschaftliche Stellung und Zeitgeschehen zu beachten Des Weiteren sind die Grunde der Entstehung wie der Aspekt der Mitteilung aus eigenem oder fremden Antrieb von enormer Bedeutung Diese sind ausschlaggebend fur die Absicht des Autors sich selbst darzustellen Diese Absicht ist auf den jeweiligen Adressaten und dessen moglichen Erwartungshorizont sowie Vorbilder Regeln und Argumentationsstrategien abgestimmt Besonders in retrospektiv geschaffenen Schriften wie Autobiographien oder Memoiren wird das Ich bewusst oder unbewusst geschont verhullt verfalscht oder relativierend dargestellt und Ereignisse entsprechend dem Gegenwartszustand individuell neu gewichtet und somit anders akzentuiert Auslassungen Widerspruche und Beschonigungen sind daher ebenfalls Elemente der Selbst Darstellung und liefern bedeutsame Auskunfte Generell beginnen Ich Konstruktionen bereits wenn das Ich sich mit seinen Eindrucken Erlebnissen Erfahrungen und Emotionen befasst und diese zu einer Geschichte arrangiert Zusammengefasst sind Ego Dokumente auf jeden Fall Zeugnisse der Mentalitatsgeschichte ihrer Zeit da die in ihnen entwickelten Ich Konstruktionen immer in den Grenzen des in einer Epoche Denk und Empfindbaren ablaufen Rutz Absatz 64 Literatur BearbeitenArt Dokument ego in Gunther Drosdowski Hrsg Duden Das grosse Worterbuch der deutschen Sprache Bd 2 2 vollig neu bearb und erw Aufl Mannheim u a 1993 S 745 und S 815 Art Dokument ego in Friedrich Kluge Etymologisches Worterbuch der deutschen Sprache 3 bearb und erw Aufl Berlin New York 1995 S 187 88 und S 205 Kaspar von Greyerz Hg Selbstzeugnisse in der Fruhen Neuzeit Individualisierungsweisen in interdisziplinarer Perspektive Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 68 Oldenbourg Munchen 2007 Digitalisat Benigna von Krusenstjern Was sind Selbstzeugnisse Begriffskritische und quellenkundliche Uberlegungen anhand von Beispielen aus dem 17 Jahrhundert In Historische Anthropologie Kultur Gesellschaft Alltag Bd 2 1994 S 462 471 Helmut Ottenjann Gunter Hrsg Alte Tage und Anschreibebucher Quellen zum Alltag der landlichen Bevolkerung in Nordwesteuropa 1982 Volltext als PDF Irina Renz Die Toten bleiben jung Ego Dokumente in der Lebensdokumentensammlung der Bibliothek fur Zeitgeschichte 2015 Volltext als PDF In Portal Militargeschichte 3 Marz 2015 Andreas Rutz Ego Dokument oder Ich Konstruktion Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des fruhneuzeitlichen Menschen In zeitenblicke 1 2002 Nr 2 20 Dezember 2002 Winfried Schulze Ego Dokumente Annaherung an den Menschen in der Geschichte Voruberlegungen fur die Tagung Ego Dokumente In Winfried Schulze Hrsg Ego Dokumente Annaherung an den Menschen in der Geschichte Selbstzeugnisse der Neuzeit 2 Berlin 1996 S 11 30 Volltext als PDF 2 8 MB Weblinks BearbeitenAusgabe des Online Journals zeitenblicke zum Thema Ego Dokumente 2002 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ego Dokument amp oldid 227266366