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Der Titel dieses Artikels ist mehrdeutig Zur gleichnamigen franzosischen Musikband siehe Anomie Band Zur Schwierigkeit beim Benennen von Dingen siehe Aphasie Amnestische bzw anomische Aphasie Anomie griechisch Kompositum aus a privativum zur Verneinung und der Endung nomie von nomos Ordnung Gesetz bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen Regeln und Ordnung Vor allem in England war der Begriff ursprunglich ein theologischer Ausdruck fur das Brechen religioser Gesetze Zur Beschreibung einer Anomie wird umgangssprachlich und irrefuhrend haufig auch das Wort Anarchie Abwesenheit von Herrschaft benutzt Inhaltsverzeichnis 1 Anomie bei Durkheim 2 Anomie bei Merton 3 Siehe auch 4 Literatur 5 Einzelnachweise Anomie bei Durkheim BearbeitenDer Begriff der Anomie wurde von Emile Durkheim 1858 1917 der ihn den Schriften des Philosophen Jean Marie Guyau entlehnt hatte in die Soziologie eingefuhrt 1 Der Ruckgang von religiosen Normen und Werten fuhrt nach Durkheim unweigerlich zu Storungen und zur Verringerung sozialer Ordnung Aufgrund von Gesetz und Regellosigkeit sei dann die gesellschaftliche Integration nicht langer gewahrleistet Diesen Zustand nannte Durkheim anomie die beim Individuum zu Angst und Unzufriedenheit fuhren musse ja sogar zur Selbsttotung fuhren konne anomischer Suizid Durkheim benutzte den Begriff um die pathologischen Auswirkungen der sich im Fruhindustrialismus rasch entwickelnden Sozial und Arbeitsteilung zu beschreiben Die damit einhergehende Schwachung der Normen und Regeln fur die Allokation von Waren fuhre zu einem verscharften Wettbewerb und Kampf um die steigenden Wohlstandsgewinne Die Entwicklung des Anomiebegriffs bei Durkheim vollzog sich in mehreren Schritten Zunachst verstand er Anomie als eine Situation in der in einer arbeitsteiligen Gesellschaft keine Solidaritat mehr entsteht 2 In seinem Werk uber den Suizid 1897 sind es vor allem Ambitionen der Individuen die im gunstigen Fall zu einem moralischen Individualismus im ungunstigen zu einem egoistischen exzessiven Individualismus fuhren Letzterer zerstort das soziale Gleichgewicht und die sozialen Normen und fuhrt nach Durkheim in die Anomie In der Arbeit uber die Regeln der soziologischen Methode 3 ist Anomie keine reale oder zugeschriebene Eigenschaft der Individuen dafur wird von der Kriminalsoziologie der Begriff der Devianz genutzt sondern der gesellschaftlichen Struktur insgesamt Diese ist regelmassig durch eine gewisse Quote an Normabweichung z B an Kriminalitat gekennzeichnet Anomisch ist jedoch ein plotzlicher Anstieg der Kriminalitat Das Gegenteil der Anomie ist nach Durkheim ein Zustand des Fatalismus in dem soziale Regeln widerspruchslos akzeptiert werden Bronislaw Malinowski postulierte 1926 4 dass auch in sogenannten primitiven Gesellschaften die sozialen Regeln allenfalls partiell erfullt werden Talcott Parsons wies darauf hin dass gesteigerter Individualismus nicht aus der Emanzipation der Individuen von sozialen Regeln resultiere sondern selbst eine besondere Form der sozialen Regelung in modernen Gesellschaften darstelle Anomie bei Merton BearbeitenRobert K Merton hat den Anomiebegriff verfeinert 5 Anomie entsteht vor allem aus der Diskrepanz zwischen gesellschaftlich bzw kulturell definierten also erstrebenswerten und legitimen Zielen fur die USA z B individueller Reichtum und einer Unklarheit uber die zu ihrer Erreichung legitimen sozial erlaubten Mittel oder aus einem erschwerten Zugang zu diesen Mitteln Mit Anomie kann also die Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter sozialer Schichten zu dazu notwendigen Mitteln beschrieben werden 6 also aus einem Auseinanderklaffen von angestrebten Zielen Wunschen und Erwartungen der Menschen einer Gesellschaft den sozialen Normen welche die Mittel vorschreiben die die Menschen zur Realisierung ihrer Ziele anwenden durfen und einer als ungerecht empfundenen Verteilung dieser Mittel Dadurch schwacht sich die Bindung zwischen Mitteln und Zielen ab Die kulturelle Struktur einer Gesellschaft beeinflusst dabei die Ziele z B Bildung Wachstum Wohlstand hohes Ansehen und die zu ihrer Erreichung zu befolgenden Normen 1 1 2 Fleiss Intelligenz Lernfreude Religion Erinnerung Die soziale Struktur entscheidet hingegen uber die Verteilung dieser Mittel Chancengleichheit Teilhabe gleiches Recht fur alle usw Merton nennt funf mogliche Reaktionsmuster des Menschen auf diese Dissoziation 7 Konformitat Konzentrierung auf die Ziele die mit den zur Verfugung stehenden gebilligten Mitteln erreicht werden konnen 8 Innovation Gebrauch kulturell bisher missbilligter Mittel zur Verfolgung kulturell gebilligter Ziele Ritualismus strikte Nutzung der vorgeschriebenen Mittel bis hin zur Ignoranz der negativen Konsequenzen des Gebrauchs dieser Mittel Durchfuhrung des Rituals um des Rituals willen auch bei Verzicht auf die Erreichung der kulturellen Ziele Ruckzug retreat Verzicht sowohl auf vorgeschriebene Ziele als auch geforderte Mittel Aussteiger Drogenabhangige etc vgl auch Eskapismus Rebellion Zuruckweisung von Zielen und Mitteln und Betonung eines neuen sozial missbilligten Systems von Zielen und Mitteln Kulturell gebilligte Mittel konnen als im technischen Sinn ineffizient empfunden werden was den Ruckgriff auf effizientere aber kulturell abgelehnte Mittel nahelegt Dieses Verhalten kann missbilligt jedoch nachtraglich als erfolgreiche Innovation betrachtet werden Gegenwartig fuhre vor allem die Relativierung kultureller Mittel durch Pluralisierung und Individualisierung zu Problemen wie Orientierungslosigkeit Verhaltensunsicherheit und gesellschaftlicher Desintegration Siehe auch BearbeitenAnomia Assimilation Soziologie Emergente Ordnung EntfremdungLiteratur BearbeitenGabriele Fassauer Frank Schirmer Moderne Leistungssteuerung und Anomie Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in Organisationen In Soziale Welt Jg 57 Nr 4 2006 S 351 371 doi 10 5771 0038 6073 2006 4 351 JSTOR 40878545 Hans Joas Hrsg Lehrbuch der Soziologie 3 uberarbeitete und erweiterte Auflage Campus Verlag Frankfurt am Main u a 2007 ISBN 978 3 593 37920 3 Siegfried Lamnek Theorien abweichenden Verhaltens Eine Einfuhrung fur Soziologen Psychologen Padagogen Juristen Politologen Kommunikationswissenschaftler und Sozialarbeiter UTB 740 6 Auflage Fink Munchen 1996 ISBN 3 7705 1620 6 Realino Marra Geschichte und aktuelle Problematik des Anomiebegriffs In Zeitschrift fur Rechtssoziologie Jg 10 1989 S 67 80 doi 10 1515 zfrs 1989 0104 Bernd Dieter Meier Kriminologie 2 neu bearbeitete Auflage Beck Munchen 2005 ISBN 3 406 53861 4 Ulrich Meier Aggressionen und Gewalt in der Schule Zur Dialektik von Schulerpersonlichkeiten Lernumwelten und schulischem Sozialklima Jugendsoziologie Band 6 Lit Munster 2004 ISBN 3 8258 7013 8 S 56 f zugleich Bielefeld Univ Diss 2003 Wolfgang Melzer Wilfried Schubarth Frank Ehninger Gewaltpravention und Schulentwicklung Analysen und Handlungskonzepte Klinkhardt Bad Heilbrunn 2004 ISBN 3 7815 1322 X S 62 f Marco Orru The Ethics of Anomie Jean Marie Guyau and Emile Durkheim In The British Journal of Sociology Jg 34 Nr 4 1983 S 499 518 JSTOR 590936 Rudiger Ortmann Abweichendes Verhalten und Anomie Entwicklung und Veranderung abweichenden Verhaltens im Kontext der Anomietheorien von Durkheim und Merton Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max Planck Institut fur Auslandisches und Internationales Strafrecht Freiburg i Br Band 89 Edition iuscrim Max Planck Institut fur Auslandisches und Internationales Strafrecht Freiburg Breisgau 2000 ISBN 3 86113 033 5 Rudiger Peuckert Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle In Hermann Korte Bernhard Schafers Hrsg Einfuhrung in Hauptbegriffe der Soziologie Einfuhrungskurs Soziologie Band 1 7 grundlegend uberarbeitete Auflage VS Verlag fur Sozialwissenschaften Wiesbaden 2008 ISBN 978 3 531 15029 1 S 108 123 Jordi Riba La morale anomique de Jean Marie Guyau L Harmattan Paris u a 1999 ISBN 2 7384 7772 0 Einzelnachweise Bearbeiten Emile Durkheim Le suicide Etude de sociologie Alcan Paris 1897 E Durkheim De la division du travail social Alcan Paris 1893 E Durkheim Les regles de la methode sociologique Alcan Paris 1895 B Malinowski Crime and Custom in Savage Society 1926 Neuauflage Routledge 2001 Robert K Merton Social Theory and Social Structure Toward the codification of theory and research Free Press Glencoe IL 1949 Vgl dazu Bernd Dieter Meier Kriminologie 2005 S 57 Bernd Dieter Meier Kriminologie 2005 S 57 f Bernd Dieter Meier Kriminologie 2005 S 57 Normdaten Sachbegriff GND 4142557 1 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Anomie amp oldid 234930015