www.wikidata.de-de.nina.az
Die administrative Versorgung war eine in der Schweiz seit der zweiten Halfte des 19 Jahrhunderts bis 1981 praktizierte offentlich rechtliche Zwangsmassnahme die durch eine Verwaltungsbehorde verfugt wurde 1 Die Einsperrungen waren oft zeitlich unbefristet konnten bei Widersetzlichkeiten verlangert werden und wurden je nach kantonalen Gesetzen auch als Detention korrektionelle Versorgung oft auch einfach Einweisung oder Massnahme bezeichnet Von der administrativen Versorgung waren etwa 60 000 Personen betroffen Inhaltsverzeichnis 1 Praxis der administrativen Versorgung 2 Rechtliche Grundlage 3 Ende der Praxis 4 Aufarbeitung 5 Siehe auch 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweisePraxis der administrativen Versorgung BearbeitenJugendliche und Erwachsene die den Behorden negativ aufgefallen waren wurden ohne Gerichtsurteil und meist auch ohne Anhorung in so genannte Arbeitsanstalten fur Erwachsene die bis in die 1970er Jahre teilweise noch Zwangsarbeitsanstalten hiessen oder in Erziehungsanstalten respektive Arbeitserziehungsanstalten fur Jugendliche und junge Erwachsene eingewiesen Diese konnten Abteilungen normaler Strafanstalten sein z B die Frauenstrafvollzugsanstalt Hindelbank im Kanton Bern oder Bellechasse im Kanton Fribourg oder Realta im Kanton Graubunden Als Einweisungsgrund genugte bereits ein liederlicher Lebenswandel Vaganterei 2 oder wenn man als arbeitsscheu aufgefallen war 3 Auch Prostituierte und Drogensuchtige wurden eingewiesen 4 Beschwerden waren haufig ergebnislos oder wurden als Querulantentum abqualifiziert weil sie nicht von unabhangigen Instanzen behandelt wurden sondern sich an dieselben Behorden zu richten hatten welche die Einweisung administrativ verfugt hatten Rechtliche Grundlage BearbeitenDie administrativen Versorgungen beruhten auf einer unubersichtlichen und schwer fassbaren Gesetzeslage Zustandigkeiten zwischen Kantonen und Bund wie auch zwischen Justiz und Verwaltung waren nicht klar geregelt Das erlaubte den Behorden Personen zu internieren die im Sinne des Gesetzes unschuldig waren jedoch den Moralvorstellungen der damaligen Zeit nicht entsprachen Die Gesetze wurden im spaten 19 Jahrhundert sukzessive eingefuhrt aus Angst vor sozialen Verwerfungen Damit entstand auch ein Recht zweiter Klasse Anerkannte Verfahrensrechte waren im Bereich der administrativen Verordnungen eingeschrankt 5 Ende der Praxis BearbeitenNachdem die Schweiz 1974 die Europaische Menschenrechtskonvention EMRK von 1950 um Jahrzehnte verspatet und mit Vorbehalten unterzeichnet hatte wurde die administrative Versorgung in der Schweiz abgeschafft 3 1981 sieben Jahre nach der Ratifikation der EMRK durch die Schweiz wurden die Bestimmungen uber den fursorgerischen Freiheitsentzug in das Zivilgesetzbuch eingefuhrt Auf der Basis dieses Gesetzes konnten die Behorden zwar auch weiterhin Personen gegen ihren Willen und zu ihrer Sicherheit einsperren lassen vor 1981 Eingewiesene verblieben auch nach 1981 noch in den ihnen zugewiesenen geschlossenen Anstalten wo sie Zwangsarbeit zu verrichten hatten doch nun legte ein Gesetz die Bedingungen fest unter welchen ein solcher Eingriff in die Grundrechte eines Menschen rechtens war Dies hatte unter anderem zur Folge dass Zwangseinweisungen nun weniger willkurlich und zudem immer in eine psychiatrische Einrichtung erfolgten 6 Aufarbeitung BearbeitenLange Zeit hat die offizielle Schweiz sowie die Gesellschaft das Unrecht und Leid welches die administrative Versorgung vielen Menschen gebracht hat verdrangt Am 10 September 2010 hat sich Bundesratin Eveline Widmer Schlumpf im Rahmen eines Gedenkanlasses in Hindelbank im Namen des Bundes offiziell fur das den Betroffenen widerfahrene Unrecht entschuldigt 7 8 Einige der Betroffenen hatten das Geschehene bis anhin nicht verarbeitet und waren aufgrund ihres Aufenthaltes in administrativer Versorgung auch spater noch diskriminiert worden Betroffene gaben auch an von Behorden Wartern und Anstaltsleitung in einer menschenunwurdigen Art behandelt worden zu sein 7 Am 11 April 2013 fand in Bern eine offizielle Gedenkveranstaltung statt 9 10 Am 21 Marz 2014 trat das Bundesgesetz uber die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft 11 es verlangt die wissenschaftliche Aufarbeitung der administrativen Versorgung in der Schweiz und anerkennt diese damaligen staatlichen Massnahmen als Unrecht 12 In Vollzug dieses Gesetzes wurde am 14 November 2014 die Unabhangige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981 vom Bundesrat eingesetzt Das Bundesgesetz sieht ausdrucklich keine Wiedergutmachungszahlungen vor Viele Opfer waren damit nicht einverstanden Deshalb wurde aus ihren Reihen am 31 Marz 2014 die Wiedergutmachungsinitiative lanciert und 8 Monate spater mit 110 000 gultigen Unterschriften eingereicht Die Initiative forderte dass der Bund einen Fonds in der Hohe von 500 Millionen Franken fur die Opfer von fursorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen die vor dem Jahre 1981 vorgenommen wurden einrichtet Unter dem Druck der Initiative und um die Entschadigungen den teilweise bereits betagten Opfern moglichst rasch auszahlen zu konnen legte der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag vor welcher schliesslich von den eidgenossischen Raten 2016 angenommen wurde Der Gegenentwurf sieht Zahlungen im Umfang von 250 bis 300 Millionen Franken vor 13 In verschiedenen Kantonen wurden historische Aufarbeitungen in Auftrag gegeben So wurden beispielsweise 2018 Ergebnisse eines Forschungsprojektes im Auftrag des Kantons Zurich publiziert 14 Anfangs September 2019 hat die unabhangige Expertenkommission ihren Schlussbericht in Bern der Offentlichkeit vorgestellt Gemass dem Bericht wurden mindestens 60 000 Frauen und Manner von Kantonen und Gemeinden eingesperrt ohne dass diese ein Delikt begangen hatten und ohne dass zuvor ein ordentliches Verfahren stattgefunden hatte Die Betroffenen wurden interniert da sie den Moralvorstellungen der damaligen Zeit nicht entsprachen Sie galten als arbeitsscheu liederlich oder trunksuchtig Auch uneheliche Schwangerschaften genugten fur eine administrative Versorgung In rund 650 Gefangnissen und anderen Anstalten im ganzen Land wurden die Opfer eingesperrt ausgebeutet und vielfach schwer misshandelt 15 16 Die 2014 auf Bundesebene beschlossenen Wiedergutmachungen genugen aus Sicht der Kommission nicht Diese bestehen insbesondere aus einem Solidaritatsbeitrag von 25 000 Franken pro Person den Betroffene beim Bund bis Marz 2018 beantragen konnten Rund 9000 Personen haben sich gemeldet bis Ende Jahr sollen alle Gesuche bearbeitet sein Die Expertenkommission machte Vorschlage wie die Opfer durch weitere finanzielle Leistungen besser entschadigt werden konnten Die Palette reicht von einem kostenlosen Generalabonnement uber einen Steuererlass bis zu einem Hilfsfonds fur Betroffene die ihre Gesundheitskosten nicht selber tragen konnen Aus der Sicht der Kommission konnte auch eine spezielle lebenslange Rente notwendig sein Hinter diesen Forderungen steht die Erkenntnis dass das damalige Unrecht vielfach lebenslange Folgen nach sich gezogen hat und zum Teil sogar auf die nachfolgenden Generationen ubergegangen ist 17 Siehe auch BearbeitenFursorgerische Unterbringung Verdingkinder Kinder der LandstrasseLiteratur BearbeitenPeter Bossart Personliche Freiheit und administrative Versorgung Schonenberger Winterthur 1965 DNB 571862845 Dissertation Universitat Zurich Rechts und staatswissenschaftliche Fakultat 103 Seiten Thomas Huonker Anstaltseinweisungen Eheverbote Kindswegnahmen Sterilisationen Kastrationen Fursorge Zwangsmassnahmen Eugenik und Psychiatrie in Zurich zwischen 1890 und 1970 Sozialdepartement der Stadt Zurich Zurich 2002 ISBN 3 908060 13 3 Thomas Huonker Wandlungen einer Institution Vom Mannerheim zum Werk und Wohnhaus Werk und Wohnhaus zur Weid Zurich 2003 ISBN 3 9522643 0 X Sybille Knecht Zwangsversorgungen Administrative Einweisungen im Kanton St Gallen 1872 1971 Staatsarchiv des Kantons St Gallen St Gallen 2015 ISBN 978 3 033 05264 2 online Sabine Lippuner Bessern und Verwahren Die Praxis der administrativen Versorgung von Liederlichen und Arbeitsscheuen in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain 19 und fruhes 20 Jahrhundert Thurgauer Beitrage zur Geschichte Band 142 Historischer Verein des Kantons Thurgau Frauenfeld 2005 ISBN 3 9522896 2 0 e periodica ch Tanja Rietmann Liederlich und arbeitsscheu Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern 1884 1981 Chronos Zurich 2013 ISBN 978 3 0340 1146 4 Dissertation Universitat Bern 2011 381 Seiten Dominique Strebel Weggesperrt Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen Beobachter Zurich 2010 ISBN 978 3 85569 439 6 Beat Gnadinger Verena Rothenbuhler Hg Menschen korrigieren Fursorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Kanton Zurich bis 1981 Chronos Verlag Zurich 2018 Weblinks BearbeitenVerein RAVIA Rehabilitierung der administrativ Versorgten Rehabilitation des internes administratifs Website der Unabhangigen Expertenkommission UEK zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgungen in der Schweiz Open Access Monographien Website des Delegierten fur Opfer von fursorgerischen Zwangsmassnahmen DIE ZEIT Kinderfanger vom Amt 9 September 2010 Film Lina Schweizer Radio und Fernsehen SRF Kurzbiographien https gesichter der erinnerung ch Einzelnachweise Bearbeiten Rezension zu Lippuner Haufiges Umherziehen von Ort zu Ort fehlende Sesshaftigkeit in den Gesetzestexten meist Vagantitat genannt a b Wir wurden weggesperrt Abgerufen am 4 September 2010 Was bedeutet Administrativ Versorgte Abgerufen am 4 September 2010 Unabhangige Expertenkommission Die Rechtsgrundlagen der administrativen Versorgung Nicolas Broccard Fursorgerische Zwangsmassnahmen www humanrights ch Nicht mehr online verfugbar Archiviert vom Original am 13 Januar 2020 abgerufen am 5 Januar 2020 nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www humanrights ch a b Der Bundesrat entschuldigt sich St Galler Tagblatt vom 11 September 2010 S 5 Sommaruga bittet Verdingkinder um Entschuldigung Neue Zurcher Zeitung Auflage 11 April 2013 nzz ch Fursorgerische Zwangsmassnahmen Gedenkveranstaltung vom 11 April 2013 Markus Hofmann Kein nutzliches Glied der Gesellschaft In Neue Zurcher Zeitung vom 10 April 2019 admin ch Bundesgesetz uber die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen Bundesgesetz uber die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen 21 Marz 2014 abgerufen am 1 Februar 2016 Bundesamt fur Justiz Wiedergutmachung fur Opfer von fursorgerischen Zwangsmassnahmen Memento des Originals vom 7 August 2019 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www bj admin ch Dorothee Vogeli Administrative Versorgung Wie liederliche Menschen diszipliniert wurden In Neue Zurcher Zeitung vom 30 November 2018 Fabian Schafer Gratis GA und Sonderrente fur Verdingkinder und andere Opfer von Zwangsmassnahmen In Neue Zurcher Zeitung vom 2 September 2019 Grusliger Fund Skelette mit zahlreichen Rippenbruchen zeigen wie schlecht die Schweiz soziale Aussenseiter behandelte Auf Neue Zurcher Zeitung vom 13 Mai 2019 Zwangsversorgte sollen besser entschadigt werden In SRF vom 2 September 2019 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Administrative Versorgung amp oldid 234332471