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Vitalpolitik ist ein von dem deutschen Wirtschafts und Sozialwissenschaftler Alexander Rustow nach dem Zweiten Weltkrieg gepragter Begriff der eine Erweiterung der traditionellen Ordnungspolitik im Hinblick auf die konkrete Lebenslage Vitalsituation der Menschen fordert 1 Inhaltsverzeichnis 1 Nahere Bestimmung von Vitalpolitik 2 Rezeption 3 Literatur 4 EinzelnachweiseNahere Bestimmung von Vitalpolitik BearbeitenInspiriert wurde das Konzept nach Rustows eigener Bekundung durch seinen Heidelberger Kollegen Erich Preiser dessen Schrift Die wurttembergische Wirtschaft als Vorbild 1937 die halbbauerlichen Siedlungs und Wohnverhaltnisse der wurttembergischen Industriearbeiter im 19 Jahrhundert in positivem Kontrast zu den menschenunwurdigen Wohn und Lebensbedingungen des englischen Proletariats darstellte wie sie etwa von Friedrich Engels in Die Lage der arbeitenden Klassen in England 1845 beschrieben wurden Durch die Beschaftigungsfelder im eigenen Haus oder Garten bestehen Moglichkeiten sinnvollen Arbeitseinsatzes fur Menschen die aufgrund von zu niedrigem oder zu hohem Lebensalter oder wegen temporarer Arbeitslosigkeit nicht in der Fabrik arbeiten konnen Die Kinder die noch nicht auf die Arbeit gehen konnen die Alten die nicht mehr zur Arbeit gehen fuhlen sich nicht uberflussig sie sitzen nicht sinnlos und storend herum Soweit ihre Krafte schon oder noch reichen konnen sie sich nutzlich betatigen Die Arbeitslosigkeit verliert ihre Schrecken denn nachdem fur das Existenzminimum durch die Arbeitslosenunterstutzung gesorgt ist kann der Mann endlich einmal wieder sein Dach reparieren den schon lange geplanten Schuppen bauen sein Land endlich einmal wieder grundlich umgraben Er ist in der Natur draussen die Kinder haben eine gesunde erfreuliche Kindheit alle padagogischen Probleme soweit sie uberhaupt entstehen vereinfachen sich ungeheuer wahrend sie in der Grossstadt unlosbar sind Kurz und gut es ergibt sich eine unvergleichlich viel erfreulichere Vitalsituation Deshalb ist man auch bereit selbst eventuelle Lohneinbussen oder andere messbare Nachteile in Kauf zu nehmen 2 Deshalb setzt sich Rustow auch anders als die meisten zeitgenossischen Neoliberalen und Vater der Sozialen Marktwirtschaft zur Starkung der Betriebssolidaritat fur eine Ausweitung der innerbetrieblichen Mitbestimmung ein Ich bin deshalb der Meinung dass das innerbetriebliche Mitbestimmungsrecht der Belegschaft jede nur mogliche Unterstutzung verdient und dass man alle innerbetrieblichen Regelungen bei denen dies ohne unmittelbare Schadigung des primaren Betriebszweckes moglich ist der Selbstverwaltung der Beschaftigten uberlassen sollte Naturlich findet dieses innerbetriebliche Mitbestimmungsrecht seine Grenze bei der verantwortlichen wirtschaftlichen Leitung des Betriebes Aber selbst da liesse sich bei gutem Willen noch etwas tun und ich kenne Betriebe in denen dies mit Erfolg getan wird 3 Rustow kritisiert die Vielzahl von neugegrundeten wirtschafts und sozialwissenschaftlichen Instituten nach dem Zweiten Weltkrieg und beklagt die bisher mangelnde Beforschung der Vitalsituation Aber neben 10 Grundungen die vielleicht entbehrlich sind gibt es eine elfte die umso notwendiger ware die eines Instituts das sich hauptamtlich und ex professo um diese Dinge kummert um die Probleme der Vitalsituation der Vitalpolitik 3 Rustow 1952 S 19 hoffte auch das Konzept der Vitalpolitik werde sich im verscharfenden Kalten Krieg als bedeutender Beitrag zur Vermeidung des dritten Weltkrieges einsetzen lassen ohne dies aber naher auszufuhren Mit den anderen zeitgenossischen Liberalen ist er sich einig in der Skepsis gegenuber staatlicher Sozialpolitik die er nach dem Prinzip der Subsidiaritat wie es auch dem spateren Bundessozialhilfegesetz zu Grunde liegt als nachrangig gegenuber dezentralen Formen der Selbst und Familienhilfe sowie der Nachbarschaftshilfe und auf Sicherung eines Existenzminimums begrenzt betrachtet Bedeutend hinaus uber den Liberalismus seiner Zeit geht Rustows Forderung nach weitestgehender Startgerechtigkeit durch stark progressive Besteuerung von ererbtem in Gegensatz zu erarbeitetem Vermogen die theoriegeschichtlich an entsprechende Forderungen des englischen Liberalen John Stuart Mill im 19 Jahrhundert anschliesst Rezeption BearbeitenDas von Rustow immer wieder beispielhaft erwahnte aber nie systematisch entwickelte Konzept der Vitalpolitik als Kontrast zu staatlich verordneter Sozialpolitik hat in den funfziger Jahren in Politik und Wissenschaft nur eine zogerliche und reservierte Aufnahme gefunden am ehesten noch bei dem mit Rustow befreundeten neoliberalen Okonomen Wilhelm Ropke Vielen erschien es zu unprazise die dahinter liegenden Vorstellungen wurden oft als sozialromantisch betrachtet Naheliegenden Einwanden gegen die Vitalpolitik wie vor allem die erhohte Immobilitat der Arbeiter aufgrund ihres Eigenheimbesitzes begegnete Rustow selbst durch den nicht weiter quantifizierten Hinweis auf ihre nach seiner Meinung uberwiegenden gesellschaftlichen Vorteile Nachdem das Konzept seit Mitte der sechziger Jahre fast vollig in Vergessenheit geraten war wird es in den letzten Jahren im Zusammenhang mit neueren wirtschafts und sozialwissenschaftlichen Entwicklungen wie der Glucksforschung und der Diskussion uber neue Wohlfahrtsmasse wieder in begrenztem Masse in die Betrachtung mit einbezogen Insbesondere kann die Vitalpolitik als Ansatz der Befahigung verstanden werden der in Tradition des Lebenslagenkonzeptes steht und Ahnlichkeit mit dem gegenwartigen Capability Approach von Amartya Sen aufweist 4 Literatur BearbeitenFriedrich Engels Die Lage der arbeitenden Klassen in England Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen 1845 MEW 22 S 237 506 Berlin Dietz Verlag 1972 Erich Preiser Die Wurttembergische Wirtschaft als Vorbild Die Untersuchungen der Arbeitsgruppe Ostpreussen Wurttemberg Stuttgart Kohlhammer 1937 Alexander Rustow Sozialpolitik oder Vitalpolitik Mitteilungen der Industrie und Handelskammer zu Dortmund 15 November 1951 S 453 459 Alexander Rustow Der Mensch in der Wirtschaft Umrisse einer Vitalpolitik Erweiterte Fassung des Dortmunder Beitrags Frankfurt a M August Lutzeyer o J 1952 Einzelnachweise Bearbeiten Julian Dorr Kapitel 2 Alexander Rustow und die Vitalpolitik in Die europaische Kohasionspolitik Eine ordnungsokonomische Perspektive De Gruyter Berlin 2017 ISBN 978 3 11 048012 2 S 9 63 Rustow 1951 S 456 a b Rustow 1951 S 457 Julian Dorr Kapitel 2 Alexander Rustow und die Vitalpolitik in Die europaische Kohasionspolitik Eine ordnungsokonomische Perspektive De Gruyter Berlin 2017 ISBN 978 3 11 048012 2 S 9 63 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Vitalpolitik amp oldid 234009974