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Entscheidung des BundesverfassungsgerichtsVertrauensfrage IIEntscheidungsdatum 25 August 2005Spruchkorper Zweiter SenatAktenzeichen 2 BvE 4 052 BvE 7 05Verfahrensart OrganstreitEntscheidung UrteilFundstelle BVerfGE 114 121Angewandtes RechtArt 63 67 68 GGBundestagsauflosung 2005 auch Vertrauensfrage II bezeichnet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts das die Auflosung des Parlaments und die Anordnung von Neuwahlen infolge der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Gerhard Schroder bestatigt Massstab sei vor allem der Zweck des Art 68 Grundgesetz ihm widerspreche eine auflosungsgerichtete Vertrauensfrage nicht Der Einschatzung des Bundeskanzlers er konne bei den bestehenden Krafteverhaltnissen kunftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen sei keine andere Einschatzung eindeutig vorzuziehen Kohler Formel Die Entscheidung entwickelt die Rechtsprechungsgrundsatze zur Prufung einer solchen Vertrauensfrage aus dem Jahre 1983 fort Vertrauensfrage Inhaltsverzeichnis 1 Kernaussagen 2 Detailaussagen 3 Sondervotum der Richterin Lubbe Wolff 4 Sondervotum des Richters Jentsch 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseKernaussagen BearbeitenDie Entscheidung ist ein Meilenstein in der Gerichtspraxis der richterlichen Selbstbeschrankung und entwickelt die bisherige Rechtsprechung in zwei wesentlichen Punkten fort Echte und unechte Vertrauensfragen werden im Ergebnis gleichgestellt Eine auflosungsgerichtete Vertrauensfrage des Kanzlers sei nach der Verfassung nicht unzulassig vielmehr gehore sie zum Instrumentarium zur Beseitigung politischer Krisen und Instabilitaten neben dem konstruktiven Misstrauensvotum der Minderheitsregierung der nicht auflosungsgerichteten Vertrauensfrage und dem Kanzlerrucktritt Fur politische Organe ist jeder Weg systemkonformer Stabilisierung erlaubt Insbesondere durfe der Kanzler mit einer auflosungsgerichteten Vertrauensfrage einer weiteren Zuspitzung politischer Instabilitaten und Krisen zuvorkommen Die Prufungsdichte durch das Verfassungsgericht bei so angeordneten Neuwahlen ist reduziert und bemisst sich in erster Linie anhand der Rollen und Machtverteilung sowie der Reihenfolge der handelnden Verfassungsorgane Kanzler Parlament Prasident Verfassungsgericht und erst in zweiter Linie anhand des o a Krisen Instrumentariums Entscheidet sich ein Kanzler fur einen bestimmten Weg der politischen Stabilisierung konne nicht verlangt werden er solle zum Zwecke der Krisendeeskalation unerwahnte und gar verborgene Umstande offenlegen damit seine und nachgeschaltete Entscheidungen durch inhaltliche Rechtskontrolle uberpruft werden Die Verfassung gebiete keine Verrechtlichung der Politik Er durfe politische Entscheidungen auf solche Umstande stutzen auch den Vorschlag der Parlamentsauflosung nach Art 68 GG Das Gericht fuhrt dann eine nur eingeschrankte materielle Prufung nach der Kohler Formel durch Das Gericht stellt klar dass damit keineswegs ein unerlaubtes Plebiszit fur die Regierung erreichbar werde um ihre Politik zu akklamieren Denn das Themenspektrum eines Wahlkampfes sei von ihr nicht steuerbar auch nicht aus welchen Motiven das Volk zu einem bestimmten Votum gelangen wird Allenfalls ware dies der Fall bei einer monothematischen Fokussierung aller politischen Krafte so dass sich die Bundestagswahl auf eine einzelne bestimmte Sachfrage beziehe Dies sei 2005 jedoch nicht der Fall Detailaussagen BearbeitenDer Entscheidung liegen folgende Detailaussagen zu Grunde Das Grundgesetz erstrebt mit Art 63 Art 67 und Art 68 eine handlungsfahige Regierung Handlungsfahigkeit bedeutet nicht nur dass der Kanzler die Politik bestimmt und dafur die Verantwortung tragt sondern hierfur auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages hinter sich weiss Ob der Kanzler uber eine verlassliche parlamentarische Mehrheit verfugt kann von aussen nur teilweise beurteilt werden Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben dass verborgen bleibt wie sich das Verhaltnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt Die Entstehungsgeschichte des Art 68 GG bestatigt dass die auflosungsgerichtete Vertrauensfrage nur dann gerechtfertigt sein soll wenn die Handlungsfahigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist Gemessen am Sinn des Art 68 GG ist es nicht zweckwidrig wenn ein Kanzler dem Niederlagen im Parlament erst bei kunftigen Abstimmungen drohen bereits eine auflosungsgerichtete Vertrauensfrage stellt Denn die Handlungsfahigkeit geht auch dann verloren wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurucken Das Gericht pruft die zweckgerechte Anwendung des Art 68 GG durch Kanzler und Prasident nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschrankten Umfang Die auflosungsgerichtete Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemass wenn sie nicht nur den formellen Anforderungen sondern auch dem Zweck des Art 68 GG entspricht Die Beurteilung des zweckgemassen Gebrauchs der auflosungsgerichteten Vertrauensfrage hangt massgeblich davon ab ob eine Regierung politisch noch handlungsfahig ist also welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerstanden sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat Derartige Einschatzungen haben Prognosecharakter und sind an hochstpersonliche Wahrnehmungen und abwagende Lagebeurteilungen des Kanzlers gebunden Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Verlust des Vertrauens lassen sich nicht in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird muss auch gegenuber anderen Verfassungsorganen nicht vollstandig offenbart werden Die Einschatzung des Bundeskanzlers er sei fur seine kunftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfahig ist durch das Bundesverfassungsgericht nicht uberprufbar und nicht den ublichen prozessualen Erkenntnismitteln zuganglich Das Grundgesetz hat die Entscheidung uber die Auflosung des Bundestages auf drei Verfassungsorgane verteilt und diesen dabei jeweils eigene Verantwortungsbereiche zugewiesen Der Bundeskanzler der Bundestag und der Bundesprasident haben es in einer Verantwortungskette jeweils in der Hand die Auflosung nach ihrer freien politischen Einschatzung zu verhindern Wegen des dreistufigen Entscheidungsprozesses sind die Uberprufungsmoglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts stark reduziert Das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in Art 68 GG angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den Verfassungsorganen Auch wenn ein drohender Verlust politischer Handlungsfahigkeit am sachnachsten vom Bundeskanzler selbst beurteilt werden kann hat das Bundesverfassungsgericht zu prufen ob die Grenzen seines Einschatzungsspielraums eingehalten sind Die allgemeine politische Lage sowie einzelne Umstande mussen dabei allerdings nicht zwingend zur Einschatzung des Kanzlers fuhren sondern sie lediglich plausibel erscheinen lassen Bei der Rechtsprufung ist zu fragen ob eine andere Einschatzung der politischen Lage eindeutig vorzuziehen ist Sondervotum der Richterin Lubbe Wolff BearbeitenDie Richterin Lubbe Wolff stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu wendet sich aber gegen die Auslegung des Art 68 GG mit der das Gericht eine blosse Kontrollfassade aufgebaut habe Es sei der Wissenschaftsauffassung einer formalen Verfassungsinterpretation nicht weit genug gefolgt Die Vertrauensfrage sei keine Wissensfrage die jeder beantworten oder gar dies prufen konnte Der Bundeskanzler der die Vertrauensfrage stellt frage nicht nach dem Wissen sondern nach dem Willen des Parlaments ihn und sein politisches Programm im kunftigen Abstimmungsverhalten zu unterstutzen performative Willensbekundung Die Vertrauensfrage konne daher nur vom Parlament selbst beantwortet werden Das 1983 eingefuhrte ungeschriebene materielle Tatbestandsmerkmal von Art 68 GG laufe dagegen darauf hinaus dass das Votum des Bundestages zur Uberprufung durch den Bundesprasidenten und das Gericht gestellt wird Diese Rolle stehe dem Bundesverfassungsgericht nicht zu Vielmehr sei in einer Demokratie die einzig statthafte Methode den Willen des Parlaments festzustellen ein Mehrheitsbeschluss des Parlaments und sonst nichts Das Defizit dieser Auslegung sei durch den Einschatzungsspielraum des Bundeskanzlers nicht behoben Tatsachlich habe das Gericht den Einschatzungsspielraum so grosszugig bemessen dass es praktisch nicht mehr in die Lage kommen konne die Kanzlerprognose zu korrigieren Es verlange zwar eine materielle Beeintrachtigung der Handlungsfahigkeit der Regierung gestatte aber die Berufung auf eine vor Gericht nicht darstellbare verdeckte Minderheitslage Ein Tatbestandsmerkmal das man mit dem Verweis auf Verborgenes belegen konne fuhre nur noch eine juristische Scheinexistenz Dieses materielle Tatbestandsmerkmal sei 1983 ohne Not vom Verfassungsgericht eingefuhrt und schon damals nicht ernsthaft angewandt worden Gegen die Umgehung dieser materiellen Merkmale habe das Gericht nichts aufzubieten und installiere ein strukturelles Vollzugsdefizit Eine materielle Auslegung von Art 68 GG erzeuge vielmehr systematisch den Eindruck verfassungswidriger Inszenierung durch den Kanzler Den Stabilitatsinteressen auf die das Gericht sich fur diese Auslegung berufe sei das abtraglicher als jede vorgezogene Neuwahl Das Gericht hatte solch unnotige Anforderungen aufgeben sollen Sondervotum des Richters Jentsch BearbeitenNach Uberzeugung des Richters Hans Joachim Jentsch hatte den Antragen stattgegeben werden mussen Er beruft sich auf eine andere Auffassung in der Rechtswissenschaft Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Grunden lasse sich Handlungsunfahigkeit und damit eine materielle Auflosungslage nicht entnehmen Das Grundgesetz kennt das konstruktive Misstrauensvotum kenne aber kein konstruiertes Misstrauen des Kanzlers gegenuber dem Parlament Schliesslich schwache die Auffassung der Senatsmehrheit die Stellung des Deutschen Bundestages Fur das verfassungsrechtlich allein relevante Argument eine stetige und verlassliche Mehrheit stehe dem Kanzler nicht mehr zur Verfugung gebe es keine sichtbar gewordenen oder nachprufbaren Anhaltspunkte Die Auffassung der Senatsmehrheit beruhe auf einem Abgehen von den zutreffenden Massstaben der Entscheidung 1983 1 ohne dies kenntlich zu machen Wurde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine Einschatzungsprarogative zugestehen auch in Situationen wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen so kame dies dem parlamentarischen Selbstauflosungsrecht sehr nahe Diesen Weg kennt das Grundgesetz aber aus guten Grunden und im Interesse der Stabilitat des politischen Systems nicht Ein solch weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers gabe die materiellen Voraussetzungen preis die das Bundesverfassungsgericht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art 68 Abs 1 Satz 1 GG festgestellt hat 2 Er entziehe Bundesprasident und Verfassungsgericht jegliche Beurteilungsgrundlage wenn allein die Lagebeurteilung des Kanzlers massgeblich ist Die hier vorliegende Instrumentalisierung der Vertrauensfrage schwache die Stellung des Parlaments Sie beinhalte die Vorstellung dass die gewahlten Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht mehr geeignet sind den Willen des Volkes abzubilden Zur Ruckkopplung der Regierungspolitik musse daher das Volk selbst befragt werden Mit der Ausgestaltung der reprasentativen Demokratie in der Verfassung und dem Auftrag des Abgeordneten sei dies nicht vereinbar Die Senatsmehrheit erlaube einem Bundeskanzler uber eine unechte Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizufuhren wenn er die akklamatorische Bestatigung seiner Politik fur erforderlich halt um parteiinterne Widerstande zu uberwinden Weblinks BearbeitenPressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Volltext des UrteilsEinzelnachweise Bearbeiten BVerfGE 62 1 vgl 6 Leitsatz Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Bundestagsauflosung 2005 amp oldid 237775219