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Naive Theorie bezeichnet ein zentrales entwicklungs und denkpsychologisches Konzept das auf die Arbeiten von Jean Piaget 1896 1980 zuruckgeht Naive Theorien sind Denkmodelle die Kinder auf der Basis individueller natur oder geisteswissenschaftlicher Erfahrungen zur Erklarung von Phanomenen oder Sachverhalten bilden Dabei weichen naive Theorien vom Standard wissenschaftlich korrekter Theorien oft erheblich ab Sie folgen aber einer aus der Perspektive des Kindes stichhaltigen Logik Darin sind sie mit Alltagstheorien vergleichbar Im Gegensatz zu diesen weisen sie jedoch einen naiven Charakter auf da sie durch die Lerngeschichte des Kindes gepragt werden Darauf bezieht sich die Bezeichnung als naiv die in diesem Kontext nicht als einfaltig oder unwissend zu verstehen ist sondern eher im Sinne von ursprunglich Inhaltsverzeichnis 1 Herkunft Kognitive Schemata bei Jean Piaget 2 Modifikation der Schemata in Naiven Theorien 3 Der Bereich der Naiven Physik 4 Der Bereich der Naiven Biologie 5 Der Bereich der Naiven Psychologie 6 Siehe auch 7 EinzelnachweiseHerkunft Kognitive Schemata bei Jean Piaget BearbeitenPiaget hat das kindliche Bewusstsein nicht als ein leeres Blatt Papier betrachtet das mit beliebigen Text beschrieben werden kann Stattdessen nimmt er komplexe sich teilweise autonom entwickelnde Denkstrukturen an Schon in den ersten Tagen eines Menschen vollzieht sich die Wahrnehmung der Umwelt uber Verknupfungen mit bereits Erfahrenem Zur adaquaten Beschreibung der das Denken bestimmenden Strukturen ging Jean Piaget von einer halbautonomen Entwicklung aufeinander aufbauenden kognitiver Fahigkeiten aus deren einzelne Stufen sich als Stadien voneinander abgrenzen lassen Demnach bestimmen alterstypische Denkschemata wie Kinder sich die Welt erklaren Saugt beispielsweise ein Kind an der Brust seiner Mutter erfahrt es dass Flussigkeit kommt Es bildet ein Schema saugen trinken Im Identitatsbildungsprozess wird wiederholt ein durch neue Erfahrung Reifung oder Impulsen aus der Erziehung entstehendes Ungleichgewicht in der Weltwahrnehmung des Sauglings ausgeglichen Dies geschieht laut Piaget mithilfe der Assimilation das Kind saugt an der Trinkflasche das Schema saugen trinken wird auf weitere Gegenstande ubertragen und Akkommodation saugt es an einem Bauklotzchen wird das Schema geandert saugen trinken wenn nicht grun und hart die gleichsam als Motor im Identitatsbildungsprozess fungieren Hierdurch kann ein auf der nachsthoheren Stufe liegendes Stadium wie z B das des Egozentrismus erreicht werden Von der wissenschaftlichen Norm abweichende Erklarungsmodelle lassen sich demnach nicht als Denkfehler verurteilen sondern erklaren sich aus der entwicklungspsychologischen Reifung Piaget sah die dem kindlichen Denken zugrunde liegenden Strukturen als inhaltsunabhangig und bereichsubergreifend an Modifikation der Schemata in Naiven Theorien BearbeitenAn Piagets Vorstellungen anknupfende empirische Studien seit den 1980er Jahren belegen dass kognitive Entwicklungen bereichsspezifisch und inhaltsabhangig verlaufen Mit der Habituationsmethode wurde nachgewiesen dass die kognitive Entwicklung der Kinder schon ab der Geburt beginnt Bei sogenannten Blickzeitexperimenten messen Forscher wie lange ein Saugling einen bestimmten Reiz betrachtet Wenn der Reiz dem Kind interessant erscheint blickt es woanders hin Die Fixationsdauer eines Reizes gab etwa in einer wissenschaftlichen Studie von Gyorgy Gergely und John Watson aus dem Jahr 1995 Aufschluss dass Babys einen Umweg eines realen Objekts das von A nach B rollt als ungewohnlicher empfanden und ihn langer betrachteten Dies bedeutet dass der normale Weg von A nach B von ihnen verstanden wird und weniger interessant erscheint Auf gleiche Weise konnte eine Studie der US amerikanischen Entwicklungspsychologin Amanda Woodward aus dem Jahr 2008 zeigen dass sechs Monate alte Babys die Veranderung einer Handlung langer betrachten als eine reine Positionsveranderung eines Objekts Daraus lasst sich schliessen dass Sauglinge einfache Handlungen einordnen und mit bestimmten Akteuren assoziieren konnen Weitere Studien brachten hervor dass ein Baby von Geburt an die Stimme seiner Mutter von anderen unterscheiden kann und es schon im fruhesten Lebensstadium Praferenzen bei Gesichtern bildet Ferner lasst sich ein gewisses Kernwissen schon bei Neugeborenen voraussetzen an das die ersten Erfahrungen anknupfen Die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse der letzten Jahre belegen somit dass Kinder ab der Geburt Erfahrungen mit ihrer Umwelt machen und einzelne Zusammenhange verstehen konnen die als erste Schritte zu bereichsspezifischen Theorien zu sehen sind Dies ist eine eindeutige Abgrenzung vom entwicklungspsychologischen Modell Piagets 1 Kinder sind demzufolge in nahezu allen Bereichen zunachst Laien und entwickeln im Laufe der Zeit je nach individuell verschieden ausgeformten Einflussen aus der Umwelt bereichsspezifische naive Theorien mit deren Hilfe Phanomene in Zusammenhang gebracht erklart vorausgesagt und generalisiert werden konnen Von einer naiven Theorie kann gesprochen werden wenn folgende Kriterien erfullt sind es liegt ein zusammenhangendes Wissen in einem Inhaltsbereich vor hierbei sind Schlusselbegriffe vorhanden mit deren Hilfe ontologische Bestimmungen vorgenommen werden konnen Daruber hinaus konnen die der Wissensdomane zugeordneten Phanomene mit diesen gultigen Prinzipien erklart generalisiert und vorhergesagt werden 2 Bezuglich der Wissensstrukturen im kindliche Denken konnen demnach folgende Frage gestellt werden Weist das intuitive Wissen von Kindern bereits Strukturen einer bereichsspezifischen Theorie auf Und was besagt uns das fur das Erlernen neuer Kompetenzen 3 In der entwicklungspsychologischen Forschung werden vor allem drei Bereiche ausgemacht in denen das Wissen von Kindern den Kriterien einer naiven Theorie entsprechen naive Physik naive Biologie naive PsychologieDa es neben dem naturwissenschaftlichen auch einen geisteswissenschaftlichen Zugang zu Wissen gibt konnen sich bei Kindern auch ausserhalb der drei genannten Kategorien naive Theorien bilden Etwa durch das unvollstandige Verstandnis eines Textes durch die irrtumliche Interpretation von Handlungen oder schlicht durch fehlendes Wissen Der Bereich der Naiven Physik BearbeitenVor allem bezuglich der naiven Physik liessen sich im kindlichen Denken viel fruher als bei Piaget noch angenommen Ansatze von Theoriebildung entdecken So belegten empirische Untersuchungen dass schon Sauglinge zwischen sich und einem Objekt unterscheiden konnen 4 Zudem zeigte sich dass bereits Kindergartenkinder uber wesentliche Konzepte in der Objektwelt verfugen aber ein dem der Erwachsenen vergleichbares Konzept unter dem Begriff der Materie sich erst ab einem Alter von ca 12 Jahren entwickeln kann 5 Die alltagliche Erfahrung erwies sich als wichtiger Faktor fur die Aufnahme physikalischer Theorien je fremder das Phanomen der nahen Umwelt der kindlichen Probanden war desto fantastischer wurden ihre Erklarungen 6 So nennen Vorschulkinder bereits als Bewegungsursache eines Fahrrades eher naturalistische Erklarungsgrunde weil sich die Rader drehen als bei unvertrauten physikalischen Phanomenen der Wind weht weil er will Der Bereich der Naiven Biologie BearbeitenIm Bereich der Biologie konnen Kleinkinder schon zwischen lebenden und nichtlebenden Objekten unterscheiden beispielsweise was der Unterschied zwischen Vogeln oder Flugzeugen ist Anhand von Blickzeitexperimenten bei Babys lasst sich beweisen dass diese nur von lebenden Objekten Bewegungen erwarten und uberrascht sind wenn sich leblose Objekte bewegen Jedoch ist ihre naive Biologie noch nicht ganzlich in sich schlussig denn bis zur Grundschule sprechen viele Kinder ihren Puppen oder Teddys durchaus Lebendigkeitseigenschaften zu Uber innere Organe konnten Entwicklungspsychologen bei den Kindern kaum theoretische Kenntnisse entdecken allenthalben haben Kleinkinder nach Studien von Springer und Keil 1989 1991 Carey amp Spelke 1995 und Gelman und Wellman 1991 eine vage Vorstellung von Vererbung und intentional nicht veranderbaren Determinationen wie den Herzschlag die Augenfarbe oder die Hautfarbe des Menschen 7 Der Bereich der Naiven Psychologie BearbeitenIn diesem Bereich konnte die entwicklungspsychologische Forschung der vergangenen drei Jahrzehnte entdecken dass Kinder sehr fruh ein naives Verstandnis von psychologischen Vorgangen entwickeln Sie konnen schon fruh Gedanken Gefuhle Absichten und Uberzeugungen einordnen wenn auch noch nicht systematisch und stabil In Studien von Wellman 1990 und Perner 1988 zeigen Drei bis Vierjahrige ein erstes Verstandnis fur mentale Vorgange die sogenannte Theory of Mind Schon im Alter von zwei Jahren konnen Kleinkinder Realitat und Fiktion unterscheiden In Studien von Fein 1981 und Leslie 1987 etwa verstanden die Probanden im pretend play dass sie mit einer Banane Telefon spielen konnen ohne sie fur einen echten Horer zu halten Genauso konnten sie sich vorstellen aus einer leeren Tasse zu trinken und wussten dass diese in Wirklichkeit leer war Es gelingt ihnen somit der mentale Sprung von der Wirklichkeit in die Phantasie und zuruck Dass ein Wandel bei Vierjahrigen von passiv Wahrnehmenden zu reflektierenden Individuen zu beobachten ist zeigt auch das Experiment Maxi und die Schokolade von Wimmer und Perner 1983 Die drei und vierjahrigen Probanden sollten die Perspektive einer Person einnehmen die weniger Information besitzt als sie Was den Dreijahrigen schwer fiel gelang den Vierjahrigen mehrheitlich Eine weitere Studie von Shatz Wellman amp Silber 1983 belegt ferner dass Dreijahrige beginnen mentale Verben zu benutzen um ihre inneren Zustande zu beschreiben Komplexe Interpretationen mentaler Vorgange werden nach momentaner Kenntnis aber erst im jugendlichen Alter bewerkstelligt 8 Festzustellen ist dass Kinder sehr fruh bereits uber in sich schlussige naive Theorien verfugen die nicht falsch sondern lediglich mit dem wissenschaftlichen Standard inkommensurabel sind Diese sind in fachspezifische Bereiche einteilbar unabhangig voneinander ausgepragt und von der individuellen Erfahrung abhangig Somit konnen in einer Altersgruppe unterschiedlich weit entwickelte Konzepte korrelieren Im Schulunterricht erwerben die Kinder neues Wissen das zu einem Konflikt mit ihren bisherigen Theorien treten kann Aufgabe des Lehrers ist es daher den Schuler durch geeignete Methoden zu einem Konzeptwechsel zu bewegen Siehe auch BearbeitenPrakonzeptEinzelnachweise Bearbeiten Prof Dr Beate Sodian Vorlesung Das Kind als Wissenschaftler in LMU Ringvorlesung Bildung Bildung online abrufbar unter https videoonline edu lmu de de node 1171 Mahler Claudia 1999 Naive Theorien im kindlichen Denken in Zeitschrift fur Entwicklungspsychologie und Padagogische Psychologie 31 S 191 206 S 53f Mahler Claudia 1999 Naive Theorien im kindlichen Denken in Zeitschrift fur Entwicklungspsychologie und Padagogische Psychologie 31 S 191 206 S 53f Vgl etwa Baillargeon R 1987 Object permanence in 3 5 and 4 5 month old infants Developmental Psychology 23 S 655 664 Carey S 1991 Knowledge acquisition Enrichment or conceptual change in S Carey R Gelman Hrsg The epigenesis of mind Essays on biology and cognition Hillsdale S 257 291 Berzonsky M D 1971 The role of familiarity in children s explanation of physical causality Child Development 42 S 705 715 Mahler Claudia 1999 Naive Theorien im kindlichen Denken in Zeitschrift fur Entwicklungspsychologie und Padagogische Psychologie 31 S 56 58 Mahler Claudia 1999 Naive Theorien im kindlichen Denken in Zeitschrift fur Entwicklungspsychologie und Padagogische Psychologie 13 S 58 61 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Naive Theorie amp oldid 239143176