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Machtbalance bezeichnet das Starke und Abhangigkeitsverhaltnis innerhalb einer sozialen Beziehung bzw einem Beziehungsgeflecht im Sinne einer wechselseitigen Ausbalancierung von Gewichten Wahrend in der Umgangssprache damit meist nur symmetrische Starke und Abhangigkeitsverhaltnisse beschrieben werden bezeichnet der sozialwissenschaftliche Fachbegriff damit auch asymmetrische Starke und Abhangigkeitsverhaltnisse Im Gegensatz zum statischen Begriff Macht weist der Begriff der Machtbalance darauf hin dass Starke und Abhangigkeitsverhaltnisse in Beziehungen nie statisch sind sondern immer mehr oder weniger dynamisch und damit veranderlich Inhaltsverzeichnis 1 Wortherkunft 2 Umgangssprache 3 Soziologischer Fachbegriff 3 1 Pragung als Fachbegriff 3 2 Funktionsprinzip 3 3 Hintergrund der Begriffspragung 3 4 Interdisziplinare Verwendung 4 Literatur 5 EinzelnachweiseWortherkunft BearbeitenDer Begriff der Machtbalance von Macht und Balance verweist auf das Messinstrument einer zweischaligen Waage von lateinisch bi zwei und lateinisch lanx Waag Schale 1 Umgangssprache BearbeitenIm Englischen wird der Begriff power balance seit langem genutzt um das Starkeverhaltnis zwischen Staaten zu beschreiben nachweisbar ab 1700 2 Der Begriff ist im Englischen auch umgangssprachlich verbreitet und wird in praktisch allen sozialen Beziehungskontexten verwendet Politik Wirtschaft Kultur Familie Verbande Religion Verwaltung etc Im Deutschen ist der Begriff Machtbalance in der Alltagssprache zwar verstandlich wird jedoch weniger verwendet als im Englischen Dabei wird Balance meist statisch als Gleichgewicht und Stabilitat einer inneren Ruhe aufgefasst sowie Dysbalance als deren Gegenteil 3 Soziologischer Fachbegriff BearbeitenAls wissenschaftlicher Terminus wurde der Begriff Machtbalance durch Norbert Elias gepragt und wird heute in vielen Sozialwissenschaften genutzt um Starke und Abhangigkeitsverhaltnisse zu analysieren Pragung als Fachbegriff Bearbeiten Norbert Elias machte den Begriff Machtbalance zu einem zentralen gedanklichen Werkzeug seines Ansatzes der Prozesssoziologie Aus prozesssoziologischer Sicht ist die Erklarung der eigendynamischen Veranderungen von sozialen Beziehungsgeflechten in kurz und langfristigen Wandlungsprozessen nur auf der Basis eines dynamischen und relationalen Machtverstandnisses moglich Machtbalance bezeichnet das Starkeverhaltnis in einer Figuration Beziehungs bzw Interdependenzgeflecht das aufgrund der wechselseitigen Abhangigkeiten stets kurz und langfristigen Beziehungsdynamiken unterliegt und deshalb immer mehr oder weniger labil ist Das Funktionsprinzip sich dynamisch verandernder Machtbalancen beschrieb Elias erstmals in seiner 1933 eingereichten Habilitationsschrift am Beispiel der hofischen Gesellschaft 4 Sie gilt als Vorstudie zu seinem Werk Uber den Prozess der Zivilisation 5 in dem der Begriff jedoch noch nicht explizit verwendet wird Erst in der Wiederauflage seiner Habilitationsschrift von 1969 wird der Begriff vereinzelt genutzt Spater entwickelt Elias ihn zu einem zentralen begrifflichen Werkzeug 6 Funktionsprinzip Bearbeiten Der zentrale Motor von Beziehungsgeflechten mit ihren Machtdynamiken ist ihre eigendynamische Verflechtung durch zunehmende funktionale Abhangigkeiten Diese entstehen in langfristigen sozialen Prozessen durch Differenzierung und Integration von Funktionen wie bspw Arbeitsteilung Bildung von Institutionen etc Das Ringen um die Erfullung von Funktionen bzw Bedurfnissen der Beziehungspartner lasst Spannungen und ggfs Konflikte innerhalb von sozialen Beziehungen entstehen Inwieweit die Bedurfnisse eines Beziehungspartners erfullt werden hangt von seiner Beziehungsstarke bzw Machtchancen ab Alles was ein anderer braucht kann dabei zur Machtressource werden Geld Bestatigung Liebe etc Je starker die Position eines Beziehungspartners innerhalb eines Beziehungsgeflechts ist desto grosser ist seine Chance die Selbststeuerung anderer Menschen zu beeinflussen und das Schicksal anderer Menschen zu entscheiden 7 Zwischen Menschen kommt es also stets zu unterschiedlich austarierten Verhaltnissen der Funktionserfullung Seine soziologische Theorie der Machtbalancen beschrieb Elias so Grob gesagt die Machtchancen einer Spezialistengruppe hangen aufs engste mit der Dringlichkeit der sozialen Bedurfnisse zusammen deren Befriedigung die soziale Funktion der betreffenden Spezialistengruppe ist Genauer gesagt sie hangen mit der Relation zwischen dem Ausmass der Angewiesenheit einer Gruppe sozialer Funktionstrager auf andere und dem Ausmass der Angewiesenheit von anderen auf dieser Gruppe von Funktionstragern zusammen Diese Balance der Angewiesenheit der funktionsteiligen Gruppen einer Staatsgesellschaft aufeinander die ihrer Abhangigkeiten voneinander wandelt sich im Laufe der Menschheitsenwicklung in charakteristischer Weise Es ist dieser Strukturwandel der Abhangigkeitsbalancen der sich in dem des Sozialcharakters der jeweiligen Hauptestablishments widerspiegelt 8 Hintergrund der Begriffspragung Bearbeiten Elias beschrieb Macht als Aspekt jeder menschlichen Beziehung doch den einfachen Begriff Macht hielt er aufgrund der darin eingelagerten unbewussten Konnotationen Implikationen Idealisierungen und Wertungen zur wissenschaftlichen Analyse fur ungeeignet Er bemangelte am Machtbegriff insbesondere dass seine Konnotationen statisch und verdinglichend wirken Die offene tatsachenbezogene Erorterung der Allgegenwart von Machtaspekten sah Elias als ein tief verwurzeltes Tabu dessen Bruch Menschen unangenehm und peinlich ist weshalb Machtphanomene verschleiert wurden 9 Aufgrund der Missverstandlichkeit des Machtbegriffs zog Elias den Begriff der Machtbalance vor um verdinglichende Implikationen Macht besitzen 10 und unbewusst emotionale Wertungen zu reduzieren 11 sowie die Labilitat von Beziehungsstarke zu verdeutlichen 12 Zur naheren Beschreibung von Machtphanomenen prozessen und dynamiken entwickelt er u a die Theorie von Etablierten Aussenseiter Beziehungen die Theorie der Ausbildung von Zentralpositionen genannt Konigsmechanismus die Symboltheorie theoretische Ansatze der Wissens und Wissenschaftssoziologie 13 14 und die Theorie vom Zusammenhang von Psychogenese und Soziogenese im Prozess der Zivilisation Elias gesamte Prozesssoziologie ist insofern eine Theorie der Machtbeziehungen 15 Wie allgegenwartig Machtaspekte in jeder Beziehung sind beschrieb Elias in folgendem vielzitierten Absatz Man vergegenwartige sich dass auch das Baby vom ersten Tage seines Lebens an Macht uber die Eltern hat und nicht nur die Eltern uber das Baby es hat Macht uber sie solange es fur sie in irgendeinem Sinne einen Wert besitzt Wenn das nicht der Fall ist verliert es die Macht die Eltern konnen ihr Kind aussetzen wenn es zu viel schreit Das gleiche lasst sich von der Beziehung eines Herrn zu einem Sklaven sagen Nicht nur der Herr hat uber den Sklaven Macht sondern auch je nach seiner Funktion fur ihn der Sklave uber den Herrn Im Falle der Beziehung zwischen Eltern und Kleinkind zwischen Herrn und Sklaven sind die Machtgewichte sehr ungleich verteilt Aber ob Machtdifferenziale gross oder klein sind Machtbalancen sind uberall da vorhanden wo eine funktionale Interdependenz zwischen Menschen besteht 16 Interdisziplinare Verwendung Bearbeiten In vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wird Machtbalance heute als prozessoziologischer Fachbegriff zur wissenschaftlichen Analyse von Starke und Abhangigkeitsverhaltnissen in Beziehungsgeflechten genutzt Beispiele Uta Klein Die Machtbalance zwischen Aschkenasen und Sepharden in Israel Eine rekonstruktive Prozessanalyse anhand des Etablierten Aussenseiter Modells von Norbert Elias in Dietrich Thranhardt Hrsg Einwanderer Netzwerke und ihre Integrationsqualitat in Deutschland und Israel Munster 2000 S 53 82 Jan Peter Kunze Das Geschlechterverhaltnis als Machtprozess die Machtbalance der Geschlechter in Westdeutschland seit 1945 Wiesbaden 2005 Monika Mochtarova Verschiebung der Machtbalancen und die indonesische Haltung zum Westen das Beispiel der Literaturzeitschrift Horison als Spiegelbild der Gesellschaft 1966 1996 ein Beitrag zum europaisch islamischen Dialog und zur Etablierten und Aussenseitertheorie von Norbert Elias Rangendingen 2011 Klaus Wolf Machtprozesse in der Heimerziehung Eine qualitative Studie uber ein Setting klassischer Heimerziehung Munster 1999 Karina Becker Macht und Gesundheit Der informelle Handel um die Vernutzung von Arbeitskraft in Berliner Journal fur Soziologie Juli 2015 Vol 25 S 161 185 Literatur BearbeitenCaesar Dreyer Machttheorie Vergleich der machttheoretischen Perspektiven von Norbert Elias Michel Foucault und Heinrich Popitz Munchen 2011 ISBN 978 3 640 95155 0 Eric Dunning Jason Hughes Norbert Elias and Modern Sociology Knowledge Interdependence Power Process Bloomsbury 2012 ISBN 978 1 78093 226 2 David Ledent Norbert Elias Vie oeuvres concepts Paris 2012 ISBN 978 2 7298 5207 8 Jesus Romero Monivas Los fundamentos de la sociologia de Norbert Elias Valencia 2013 ISBN 978 84 15731 00 9 Angela Perulli Norbert Elias Processi e parole della sociologia Roma 2012 ISBN 978 88 430 6772 5 Annette Treibel Die Soziologie von Norbert Elias Eine Einfuhrung in ihre Geschichte Systematik und Perspektiven Wiesbaden 2008 ISBN 978 3 531 16081 8 Einzelnachweise Bearbeiten Friedrich Kluge bearbeitet von Elmar Seebold Etymologisches Worterbuch der deutschen Sprache 24 durchgesehene und erweiterte Auflage Walter de Gruyter Berlin New York 2001 ISBN 978 3 11 017473 1 Stichwort Balance Seite 84 Michael Sheehan The balance of power History and theory London 1996 Siehe Synonyme und Gegenworter zu Balance Norbert Elias Die hofische Gesellschaft Frankfurt 1969 S 123 Editorischer Hinweis in Norbert Elias Die hofische Gesellschaft Frankfurt 1969 S 491ff Norbert Elias Gesamtregister Gesammelte Schriften Bd 19 Frankfurt a M 2010 Norbert Elias Die Gesellschaft der Individuen in Die Gesellschaft der Individuen Ges Schriften Bd 10 Frankfurt M 1939 2001 S 80 Norbert Elias Uber den Ruckzug der Soziologen auf die Gegenwart I Gesammelte Schriften Bd 15 Frankfurt a M 2006 S 404 Elias Norbert Welche Rolle spielen wissenschaftliche und literarische Utopien fur die Zukunft in Aufsatze und andere Schriften II Ges Schriften Bd 15 Frankfurt M 1982 2006 S 217 ISBN 978 3 518 58454 5 Elias Norbert Wissen und Macht Interview von Peter Ludes darin Der grosse Kampf des Intellektuellen in Autobiographisches und Interviews m Audio CD Ges Schriften Bd 17 Frankfurt M 1984 2006 S 279 ISBN 3 518 58422 7 Elias Norbert Was ist Soziologie Ges Schriften Bd 5 Grundfragen der Soziologie Frankfurt M 1970 2006 S 94 ISBN 978 3 518 58429 3 Elias Norbert Notizen zum Lebenslauf in Autobiographisches und Interviews m Audio CD Ges Schriften Bd 17 Frankfurt M 1990 2005 S 82 ISBN 3 518 58422 7 Engler Wolfgang Norbert Elias als Wissenschaftstheoretiker Deutsche Zeitschrift fur Philosophie 35 Jg 1987 Heft 8 S 739 745 Frohlich Gerhard Inseln zuverlassigen Wissens im Ozean menschlichen Nichtwissens Zur Theorie der Wissenschaften bei Norbert Elias in Kuzmics Helmut Morth Ingo Hrsg Der unendliche Prozess der Zivilisation Frankfurt M 1991 S 95 111 ISBN 3 593 34481 5 Annette Treibel Figurations und Prozesstheorie in Kneer Georg Schroer Markus Hrsg Handbuch soziologische Theorien Wiesbaden 2009 S 165 ISBN 978 3 531 15231 8 Norbert Elias Was ist Soziologie In Norbert Elias Hrsg Gesammelte Schriften Band 5 2006 S 94 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Machtbalance amp oldid 215784360