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Grammatologie gramma gramma deutsch Buchstabe logos logos deutsch Lehre ist die Wissenschaft von der Schrift Die Grammatologie schliesst je nach Auslegung Teildisziplinen unterschiedlicher Wissenschaften ein Schriftlinguistik Palaografie und Epigraphik sowie Typografie und Kalligrafie Inhaltsverzeichnis 1 Linguistik Gelb 2 Philosophie Derrida 3 Gramma und Letter 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseLinguistik Gelb BearbeitenDer Begriff wurde nicht wie immer wieder behauptet vom Orientalisten Ignace Gelb eingefuhrt der ihn ohnehin nur in der ersten Auflage seines Standardwerks uber die Schrift A Study of Writing aus dem Jahr 1952 im Untertitel The Foundations of Grammatology nutzte 1792 gibt der Orientalist und Sprachphilosoph Johann Gottfried Hasse Tischgenosse Kants und dessen Nachfolger im Senat der Universitat Konigsberg den Versuch einer griechischen und lateinischen Grammatologie fur den akademischen Unterricht und obere Classen der Schulen heraus 1847 folgt Karl Ernst Prufers Kritik der hebraischen Grammatologie und 1863 Joseph F P Masse Grammatologie Francaise Derrida schreibt in der Grammatologie 1967 unmissverstandlich Unseres Wissens ist dieses Wort in den letzten Jahren nur von I J Gelb zur Bezeichnung des Entwurfs einer modernen Wissenschaft verwendet worden 1 Der Koreanist Andre Eckardt benutzt Grammatologie schon 1965 in seiner Philosophie der Schrift 2 Philosophie Derrida Bearbeiten Hauptartikel Grammatologie Derrida Der Philosoph Jacques Derrida ubernahm den Ausdruck Grammatologie in seinem gleichnamigen Hauptwerk aus dem Jahre 1967 und machte ihn allgemeiner bekannt Darin vertritt er die These dass im abendlandischen Denken die Schrift unberechtigterweise zu einer blossen Hilfsform der gesprochenen Sprache degradiert wird Derrida zielt darauf die Schrift und die Wissenschaft von der Schrift wieder aufzuwerten wobei Grammatologie fur Derrida den Gegensatz Sprachwissenschaft Schriftwissenschaft bzw Linguistik Semiologie durchkreuzt und keinem von beiden zugehort sondern allgemeiner als diese ist Wo Saussure noch massivste Probleme hatte die Sprachwissenschaft von der Schriftwissenschaft und beide von zahlreichen anderen Wissenschaften abzugrenzen markiert Derrida mit der Grammatologie eine Wissenschaft die die schon beim Sprachwissenschaftler Saussure vorkommende Verzweiflung aufnimmt und gegen sich selbst ausspielt Wir sehen Von welcher Seite wir die Frage auch angehen nirgends bietet sich uns der Gegenstand der Sprachwissenschaft als geschlossenes Ganzes dar uberall stossen wir auf das gleiche Dilemma entweder wir klammern uns an eine Seite des jeweiligen Problems oder wir untersuchen die Sprache langage von mehreren Seiten gleichzeitig dann erscheint uns der Gegenstand der Sprachwissenschaft als ein wirres Gemengsel aus heterogenen Dingen ohne jeden Zusammenhang Wenn man so verfahrt offnet man verschiedenen anderen Wissenschaften Tur und Tor Psychologie Anthropologie normativer Grammatik Philologie etc die wir scharf von der Sprachwissenschaft abgrenzen wollen die aber freilich nur dank einer unkorrekten Methode die Sprache langage als in ihre Zustandigkeit fallend reklamieren konnten Die Sprache langage als Ganzes genommen ist vielformig und heterogen lappt in mehrere Bereiche vereint Physikalisches Psychisches und Physiologisches und dann gehort sie auch noch gleichermassen zum Bereich des Individuellen und zum Bereich des Sozialen Sie lasst sich keiner Kategorie menschlicher Verhaltnisse zuordnen weil man nicht weiss wie man ihre Einheit erkennen soll 3 Tatsachlich ist fur Derrida die Grammatologie in ihrem Gegenstand dieses von Saussure noch verhinderte wirre Gemengsel aus heterogenen Dingen ohne jeden ubergeordneten Zusammenhang einer Sprache als System langue aller Systeme langage Sie umfasst schlichtweg den gesamten Bereich der Erfahrung als differenzierte und differenzierende Differenzierung differance die sogar noch nicht einmal auf das Menschliche beschrankt bleibt und die Schriftwissenschaften im Verstandnis von Gelb Hasse und Co masslos uberschreitet Anders gesagt beschaftigt sich Grammatologie im Sinne Derridas mit dem Weltgeschehen des Raumzeitlichen selbst Sozusagen als neue Grundelemente der Grammatologie aus denen sich diese zusammensetzt gewinnt Derrida das Gramma als kleinste Einheit wobei es in der Grammatologie keine solche mehr gibt welches weder ein Bedeutendes Signifikant noch ein Bedeutetes Signifikat ist die Marke als Nicht Einheit eines Nicht Mehr Zeichens und seines Nicht Mehr Referenten das sich aus einem Gramma als Ex Signifikant und einem anderen Gramma als Ex Signifikat zusammensetzt und so die an der phone orientierte saussuresche Vorstellung von der Einheit der beiden Seiten des Zeichens wie bei einem Blatt Papier ablost die Schrift als eine nicht geschlossene Ordnung von Differenzen aus Grammata bzw Marken die Saussures Unterscheidung zwischen Sprachwissenschaft langue als geschlossenes absolut abgrenzbares System von Zeichen und Schriftwissenschaft langage als dessen Teil Ausdrucke oder Erscheinungen dieses Systems von Zeichen ablost den Text als dem Effekt bzw Ergebnis der mit aus Grammata bzw Marken komponierten Schriften die durch die differenziert differenzierten Elemente aus Grammata und Marken komponierten Ausstrahlungen oder Ablagerungen in der Welt hervorgeht Derrida stellt sich daher in Anschluss an Freud auch den Schauplatz also den Ort der Schrift als ahnlich einem Wunderblock vor die Ur Schrift die als eine andere Bezeichnung fur die differance vor jeder Schriftwissenschaft im engeren Sinne die Verallgemeinerung und antimetaphysische Radikalisierung dieser anzeigt und die Sprachwissenschaft als privilegiertes System von Unterschieden ablostZusammenfassend lasst sich daher grammatologisch sagen dass Texte durch Schriften geschrieben werden die sich aus Marken zusammensetzen deren immer nur vermeintlich kleinstes Glied das Gramma ausmacht wahrend bei Saussure paradoxerweise die Hierarchie vom Kleinsten zum Grossten noch anhand der Reihenfolge Signifikant Signifikat lt Zeichen lt Sprache langage als Teilsystem lt Syntagma lt Sprache langue als Allsystem verlauft Ein Gramma kann dabei auditiv visuell haptisch gustatorisch olfaktorisch vestibular oder sonst wie sein Des Weiteren kann eine Schrift verschiedenste haptische visuelle etc Elemente enthalten und kombinieren womit es fur Derrida z B auch verschiedenste tanzerische Schrittschrift Bewegungsschrift politische Machtschrift biologische Genschrift physikalische Atomschrift Quantenschrift oder maschinelle Bitschrift Htmlschrift Schriften und Texte gibt deren Voraussetzung eine nicht geschlossene Ordnung von aufeinander verweisenden Unterschieden ist So steht der Name Grammatologie fur eine in diesem neuen Horizont der Ur Schrift stattfindende Praxis Weil Derrida aber selbst diese Hierarchisierung der Grossenverhaltnisse vom Gramma zur Ur Schrift noch in Frage stellt und die Ur Schrift selbst wieder nur Teil eines Grammas sein kann geht Derrida tendenziell dazu uber vor allem von Differenzen zu sprechen da alle grammatologischen Termini in sich wie zu anderen nur Differenzen differance sind Schliesslich gibt es mit dem Zusammenbruch eines jeden ubergeordneten Systems der Sprachwissenschaft auch einen Zusammenbruch eines jeden untergeordneten Systems der Schriftwissenschaft All dies dient Derrida der Ideologiekritik die blosse Hilfsfunktion der Schrift beruhe auf einem Logozentrismus und auf einem mit diesem verbundenen Phonozentrismus Diesem sei die Dekonstruktion entgegenzusetzen deren durch und uber alle klassischen wissenschaftlichen Disziplinen ausuferndes Spielfeld die Grammatologie bildet ohne jedoch selbst noch im strengen Sinne eine Wissenschaft im Dienste einer unendlichen absoluten und uberhistorischen Wahrheit zu sein Deshalb beschaftigt sich Derridas Werk infolge der Schaffung der Grammatologie auch mit verschiedensten Themen die klassisch gesagt von Kunsttheorie und Wirtschaftstheorie uber Epistemologie und politischer Theorie bis hin zu biologischen und physikalischen Fragestellungen reichen Als wirklich revolutionar an Derridas Verallgemeinerung der Schrift zur Grammatologie hebt er zudem hervor eine gewisse Uberwindung eines jeden wie auch immer konstruierten sprachwissenschaftlichen Ethnozentrismus da im Horizont der derridistischen Grammatologie keine schriftlosen und damit oft in kolonialen rassistischen speziesistischen und eben ethnozentristischen Erzahlungen als ruckstandig unterentwickelt oder kulturlos verachteten Gesellschaften mehr existieren bzw sich die Behauptung solcher als vollkommen unhaltbar erweist die radikale Absage an jedes reduktionistische Verstandnis von Schreiben und Lesen da Derrida sowohl die in der abendlandischen Tradition vorherrschenden Schreibwerkzeuge besonders Hand Atem Stimme Geste als auch deren Lesewerkzeuge besonders Ohr Auge Beruhrung Haut zuruckweist und durch ein zusammen mit der Schrift verallgemeinertes Verstandnis von Einschreibung und Lekture ersetzt dem in gewisser Weise keine Grenzen mehr gesetzt sind ein populares Beispiel dafur findet sich im Leben der taubblinden Helen Keller deren Raum und Zeitverstandnis durch ihren doppelten Ausschluss vom Sehen und vom Horen unter anderem sehr stark durch Geruchsunterschiede gepragt war was im Gegensatz zu fast allen sprachwissenschaftlichen Ansatzen nur im Horizont der Grammatologie eine problemlose da nicht ableistische Alltaglichkeit darstellt die Aufgabe eines jeden Linearismus also eines gerichteten Nacheinanders des Schreibens und Lesens zugunsten einer mehrdimensionalen Organisiertheit und Gleichzeitigkeit aller Schriften und TexteInsgesamt hat die Grammatologie Derridas mit ihrer bis heute anhaltenden Rezeption in den und Einschliessung in die Literaturwissenschaften eine in ihren Konsequenzen kaum erreichte Angemessenheit erfahren weil die gerade von Derrida ausgemachte Herrschaft der ungleichen Trennung von Signifikant und Signifikat im Sinne Saussures noch stark nachwirkt Gramma und Letter BearbeitenVon wissenschaftshistorisch besonderer Bedeutung ist die direkt wie indirekt gefuhrte Auseinandersetzung zwischen Derridas Gramma und Jacques Lacans Letter die beide auf den Buchstaben Bezug nehmen und von ihm ausgehen Wahrend Derrida das Gramma als quasi unendlich teilbar versteht und konzipiert was er unter anderem anhand des Wortes differ nce mit a bzw e veranschaulicht der Unterschied ist innerhalb der Grenzen der Sprachwissenschaft nicht horbar und kann damit niemals eindeutig definiert werden versteht Lacan den Buchstaben ausdrucklich als unteilbar und damit auch final definierbar Dieser Streit ging so weit dass Derrida auf Lacans Behauptung dass beim Zerreissen eines Briefes der Letter die fur ihn ursprungliche Unteilbarkeit der Letter also des Buchstabens des Briefes unberuhrt bliebe als Antwort gleich zwei Publikationen in Form von Postkarten Sendungen verfasste um in einer Geste der maximalen Herausforderung der lacanschen Metaphysik in Form der Letter als System aller Systeme oder Code aller Codes weil der Letter fur Lacan gleichzeitig eine Einheit aus dem Teilsystem einer langage und einem Allsystem einer langue verkorpert eine unaufhorliche Textmaschine gegen eine Letztdeutung eine Letztbedeutung eine finale Lekture usw zu bauen So lautet die Wette von Derridas Postkarten Sendungen dass diese in jedweder Hinsicht jeder abschliessenden Herangehensweise widerstehen weil sie zwar zu sinnvoll sind um als reiner Unsinn zu gelten aber auch sowohl Sender Empfanger Nachrichteninhalt als auch die Umstande einer moglichen Interpretation quasi auf immer unklar und offen fur andere Anschlusse und Interpretationen bleiben Uberdies bekampft Derrida dadurch auch einen an Lacans Letter hangenden Graphozentrismus der wiederum die graphe in Form der Letter als letzte Instanz der Wahrheit installieren mochte Wurde Lacan also recht behalten mussten Derridas Postkarten Sendungen abschliessend interpretierbar sein Anhand des heutigen Forschungsstandes und der Ratlosigkeit der meisten Wissenschaftler ob der beiden Postkarten Publikationen Derridas darf Derrida zumindest bislang als tendenzieller Sieger dieser furiosen Auseinandersetzung gelten Daruber hinaus beruhrt der Disput um den Buchstaben auch tiefgreifende mengentheoretische Fragen und zwar zuvorderst jene nach dem Unterschied zwischen einer Menge und einer Teilmenge sowie deren Verhaltnis zueinander Besonders gut erklart sich das Problem der Diskussion zwischen Gramma und Letter auch anhand solcher Sachverhalte wie dem Stein von Rosetta oder dem Voynich Manuskript Wahrend Lacans Letter darauf abhebt dass es ein System oder einen Code von wohlunterschiedenen Elementen den Buchstaben gibt der eine Entschlusselung dieser Phanomene moglich macht zielt Derridas Gramma darauf dass es trotz moglicher Entschlusselungseffekte wie einem besseren Verstandnis von Sachverhalten unmoglich bleibt einen Text wie den Stein von Rosetta oder das Voynich Manuskript abzuschliessen und damit eine ubergeschichtliche und ein fur alle Male unerschutterliche Wahrheit feststellen zu konnen Literatur BearbeitenJohannes Bergerhausen Siri Poarangan decodeunicode Die Schriftzeichen der Welt Hermann Schmidt Mainz 2011 ISBN 978 3 87439 813 8 Alle 109 242 digitalen Schriftzeichen nach dem Unicode Standard Jacques Derrida De la Grammatologie Minuit Paris 1967 Jacques Derrida Grammatologie Suhrkamp Frankfurt am Main 1974 Jacques Derrida Semiologie und Grammatologie Gesprach mit Julia Kristeva In Positionen Wien 1986 S 52 82 Jacques Derrida Semiologie und Grammatologie Gesprach mit Julia Kristeva In Peter Engelmann Hrsg Postmoderne und Dekonstruktion Reclam Stuttgart 2004 S 140 ff Ignace Jay Gelb A Study of Writing The Foundations of Grammatology Chicago 1952 Marc Wilhelm Kuster Geordnetes Weltbild Die Tradition des alphabetischen Sortierens von der Keilschrift bis zur EDV Eine Kulturgeschichte Niemeyer Tubingen 2006 S 19 20 Philippe Lacoue Labarthe Jean Luc Nancy The Title of the Letter A Reading of Lacan State University of New York Press New York 1992 Tore Langholz Das Problem des immer schon in Derridas Schriftphilosophie Passagen Verlag Wien 2016 Weblinks Bearbeiten nbsp Wiktionary Grammatologie Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme Ubersetzungen nbsp Wiktionary Schriftlinguistik Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme UbersetzungenEinzelnachweise Bearbeiten Jacques Derrida Grammatologie Suhrkamp Frankfurt 1983 S 13 Tore Langholz Das Problem des immer schon in Derridas Schriftphilosophie Passagen Wien 2016 S 216 f Fn 17 Saussure Grundfragen Reclam Stuttgart 2016 S 9f Auszug abrufbar unter https www reclam de data media 978 3 15 018807 1 pdf Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Grammatologie amp oldid 231802623