Ein Benimmbuch ist ein Leitfaden für „gutes Benehmen“, wobei „gutes Benehmen“ in unterschiedlichen Kulturkreisen zu unterschiedlichen Zeitepochen auch unterschiedliche Benimmregeln oder Umgangsformen hervorgebracht hat.
De civilitate von Erasmus von Rotterdam Bearbeiten
Eines der ersten Benimmbücher aus dem europäischen Kulturkreis ist De civilitate von Erasmus von Rotterdam (1466–1536), das er im Jahre 1529 dem Sohn des Fürsten Adolf von Burgund gewidmet hat. Es zeigt wie kein anderes Werk des Holländers dessen pädagogische Intention, Bildung zu vermitteln, und gilt als Basiswerk vieler nachfolgender Benimmbücher oder der Anstandsliteratur. Ein Auszug aus dem Buch zeigt, mit welcher Formulierungskunst Erasmus hier ans Werk ging:
Im weiteren Verlauf führt Erasmus weitschweifig aus, was die Jugend sonst noch alles zu beachten hätte, beispielsweise solle man keinesfalls so kurze Röcke tragen, dass beim Bücken die Sexualpartien entblößt werden, denn das sei unziemlich, wogegen geschlitzte Kleider nur Verrückte und buntgedruckte Kostüme nur Narren und Affen tragen würden.
Curieuse Affecten-Spiegel von Johann Gottfried Gregorii Bearbeiten
Johann Gottfried Gregorii alias Melissantes publizierte 1715 ein umfassendes Benimmbuch unter Beachtung gesellschaftlicher Konventionen seiner Zeit mit Exkursen in Themen wie Vernunft, Tugendhaftigkeit, Partnerwahl, Regeln einer guten Ehe, Liebe, Triebhaftigkeit oder auch Enthaltsamkeit und Diäten. Erziehungsratschläge sind darin mit pädagogischen Grundsätzen, Lerntheorien und Kommunikations- und Anstandsregeln verknüpft. Einer Frühform psychologischer Diagnostik, Anleitungen zur Selbstexploration, folgen Ideen zur Optimierung der Berufswahl und nach seiner Sicht wünschenswerte Verhaltensregeln beziehungsweise berufsethische Leitlinien für Pädagogen, Theologen, Juristen, Mediziner und Philosophen.
Gregorii favorisierte in seinem Ratgeber ehrliche Selbsterkenntnis als das vortrefflichste Oraculum in Sachen bewusster und passender Lebensgestaltung. Im zweiten Kapitel Von der Wissenschaft sich selbst und anderer Gemüther erkennen zu lernen definierte und beschrieb Gregorii auf seine besondere Art die vier Temperamente nach der Temperamentenlehre des Galenos. Er benannte ausdifferenzierte und markante Eigenschaften der Menschen und leitete daraus mögliche Auswirkungen auf künftige Lebensverläufe in mehreren Facetten ab. Sein berufswahltheoretischer Ansatz, bei dem nach Selbstreflexion Eignung, Neigung, Leistungsfähigkeit und Temperament zur selbstbestimmten Optimierung der Berufswahl berücksichtigt werden sollten, war seiner Zeit Jahrhunderte voraus. Die selbstreflexorische Deutung des Erkenne dich selbst in Anlehnung an das Orakel von Delphi diente Gregorii als philosophische Basis für seine Idee.
Beachtlich waren Gregoriis Verhaltensempfehlungen an Regierungsoberhäupter im Stil eines auf moraltheologischer Grundlage erstellten Fürstenspiegels im Kapitel Von der Christlichen Klugheit der Könige, Fürsten und Regenten. Diese von Gregoriis Idealismus geprägten Humanistenträume erlangten zwar nie den Rang der politisch realistischen Betrachtungen der Regierungskunst eines Fürsten von Niccolò Machiavelli oder deren prominenter Widerlegung durch Friedrich II. von Preußen in seinem anonym von Voltaire veröffentlichten Anti-Machiavel (1740), jedoch zeugen sie von Mut und intellektuell begründeten Aufklärungswillen.
„Über den Umgang mit Menschen“ von Adolph Freiherr Knigge Bearbeiten
Über den Umgang mit Menschen ist das bekannteste Werk des deutschen Schriftstellers Adolph Freiherr Knigge (1752–1796) und erschien im Jahre 1788. Allerdings handelte es sich zunächst nicht im eigentlichen Sinne um ein Benimmbuch. Jedoch enthielt das Buch Knigges auch einige Anweisungen zum Betragen und Verhalten in gewissen Situationen. Auch sein Vorwort zielt auf das Verhalten in gewissen Situationen bzw. Gesellschaften ab.
Erst die nach Knigges Tod erschienenen Auflagen wurden entsprechend ergänzt und umgeschrieben. Das Werk reflektiert die sozialen Zustände der damaligen Zeit. Es ist in drei Teile aufgeteilt:
Der Begriff „Knigge“ wird heute allgemein für die unterschiedlichsten Formen von Benimmbüchern (bei Tisch, als Geschäftsmann, welche Kleider usw.) benutzt.
Erica Pappritz und Gertrud Oheim: Benimmbücher der Adenauerzeit. Bearbeiten
Eine bekannte Autorin war Erica Pappritz (1893–1972), die als Diplomatin unter Bundeskanzler Konrad Adenauer im Bonner Auswärtigen Amt das offizielle Protokoll gestaltete und fixierte. Sie wurde die offizielle Protokoll-Dame der Bundesrepublik und schrieb das Buch der Etikette, das ein Bestseller wurde. Ähnliche Reichweite hatte Gertrud Oheims Werk 1x1 des guten Tons. In ihrer zuweilen auch für die Fünfzigerjahre schon spießigen Attitüde sind beide Werke beredtes Zeugnis vom Bedürfnis des (west-)deutschen Bürgertums nach gepflegter Normalität nach den Jahren von Terrorherrschaft und Krieg unter dem Nationalsozialismus.
Literatur Bearbeiten
- Katja Alves und Dawn Parisi: Darf man das? Ein Benimmbuch für unterwegs. 2. Auflage. Sanssouci, München 2006. ISBN 978-3-7254-1418-5.
- Otto von Berger: Der gute Ton, Buch des Anstandes und der guten Sitten, Neuausgabe der Originalausgabe (Wien 1886): Reprint Primus Verlag, Leipzig 28. Juli 2009. ISBN 3-8262-0235-X.
- Friedrich-Karl von Chasot: Knigge & mehr. Ein Ratgeber für fast alle Lebensfragen. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Kloeden, Berlin 1996. ISBN 3-920564-36-7.
- Franz Ebhardt: Der gute Ton in allen Lebenslagen. Klinckhardt, Leipzig und Berlin; Manz, Wien, 10. Aufl. 1886.(Zuerst erschienen 1878, bis 1928 erschienen 22 Auflagen.) (Digitalisat der 11. Aufl. 1889)
- Willy Elmayer: Gutes Benehmen gefragt. Ein zeitgemäßer Ratgeber für Sie und Ihn. Illustriert von Hill Reihs-Gromes. Zsolnay, Wien und Hamburg 1957 (Erstausgabe).
- Willy Elmayer: Früh übt sich … Ein lustiges Buch über richtiges Benehmen. Illustriert von Karl Puchleitner. Kremayr & Scheriau, Wien 1959.
- Cordula Frieser: Souverän bei Tisch. Sicheres Benehmen in Gesellschaft. Fotos von Clemens Nestroy. Pichler, Wien, Graz und Klagenfurt 2008. ISBN 978-3-85431-475-2.
- Cordula Frieser: Chic in Schale. Passend gekleidet in jeder Situation. Fotos von Christian Jungwirth. Pichler, Wien, Graz und Klagenfurt 2009. ISBN 978-3-85431-511-7.
- Hannes Hüttner und Egbert Herfurth: Das große Benimmbuch. Faber & Faber, Leipzig 2006. (= Unsere Kinderbuch-Klassiker, Band 6) ISBN 978-3-86730-005-6.
- Emma Kallmann: Der gute Ton. Handbuch der feinen Lebensart und guten Sitte. Nach den neuesten Anstandsregeln bearbeitet. Steinitz, Berlin 1892 (Erstausgabe). Reprint als Taschenbuch: Zenodot, Berlin 2011. ISBN 978-3-8430-6797-3.
- Karl Kleinschmidt: Keine Angst vor guten Sitten. Ein Buch über die Art miteinander umzugehen. Illustriert von Hans Hätzel. Das Neue Berlin, Berlin (DDR) 1957. (Aktuelle Neuauflage als MV-Taschenbuch «Extra». Mit einem Vorwort von Reinhard Rösler. BS-Verlag-Rostock, Admannshagen-Bargeshagen 2011. ISBN 978-3-86785-121-3.)
- Adriano Sack: Manieren 2.0. Stil im digitalen Zeitalter. Illustriert von Janine Sack. Piper, München und Zürich 2007. ISBN 978-3-492-05050-0.
- Lorenz Schröder: Benimm ist in! Basics für gute Umgangsformen. Goldmann, München 2007, 255 Seiten. ISBN 978-3-442-16876-7.
- Werner Zillig (Hrsg.): Gutes Benehmen – Anstandsbücher von Knigge bis heute, Verlag Directmedia Publishing GmbH, Berlin 2004, CD-ROM, Digitale ibliothek 108, ISBN 978-3-89853-508-3.
Weblinks Bearbeiten
Einzelnachweise Bearbeiten
- Anton Gail (Hrsg.): Ausgewählte pädagogische Schriften des Erasmus von Rotterdam, Paderborn 1963.
- Melissantes: Curieuser AFFECTen-Spiegel, Oder auserlesene Cautelen und sonderbahre Maximen, Gemüther der Menschen zu erforschen, Und sich darnach vorsichtig und behutsam aufzuführen, Frankfurt, Leipzig [und Arnstadt] 1715. Bayerische Staatsbibliothek München
- Melissantes: Curieuser AFFECTen-Spiegel, S. 55–162.
- Melissantes: Curieuser AFFECTen-Spiegel, S. 640.
- Melissantes: Curieuser AFFECTen-Spiegel, S. 217/218.
- Miloš Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Frankfurt am Main 1998, S. 364.
- Melissantes: Curieuser AFFECTen-Spiegel, S. 245–354.
- Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen, In zwei Theilen, Mit Churfürstl. Sächsischem Privilegio,. Erste Auflage. Band 1. Schmidtsche Buchhandlung, Hanover 1788, Vorrede, Inhant des 1. Theils, S. 4–21.
- Oheim, Gertrud: 1x1 des guten Tons. Gütersloh, 1. Aufl. 1955. – 44. Aufl. (1135.–1146. Tsd. 1964 u.ö.)