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Auf der Galerie ist eine Parabel von Franz Kafka die 1919 im Rahmen des Bandes Ein Landarzt erschien Der Text besteht aus zwei Teilen die den scheinbar gleichen Vorgang umschreiben jedoch ganz unterschiedlich wiedergeben 1 Ahnlich wie in Kafkas Erzahlungen Ein Hungerkunstler Erstes Leid oder Ein Bericht fur eine Akademie wird in dem vorliegenden Prosastuck die Variete und Zirkuswelt als Schauplatz fur die Kunstlerproblematik gewahlt Kunstreiterin im Zirkus Gemalde von Georges Seurat 1891 Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Form 2 1 Grammatikalische Betrachtung 2 2 Sprachliche Darstellung 2 3 Erzahlperspektive 3 Deutungsansatze 3 1 Ambivalente Kunstlerwelt und allgemeines Wahrheitsproblem 3 2 Biografische Bezuge 4 Rezeption 5 Ausgaben 6 Sekundarliteratur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseInhalt BearbeitenAnstelle einer Geschichte bietet der Text Auf der Galerie nur zwei lange aufzahlende Satzperioden die zwei sich kontrastierende Varianten ein und derselben Kunstler Existenz aus der Sicht eines auktorialen Beobachters beschreiben Der erste konditionale Satz entwirft das irreale Bild einer kranken bedauernswerten kindlichen Kunstreiterin im Zirkus die monatelang vor einem unermudlichen Publikum von ihrem peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef zu immer weiteren endlosen Hochstleistungen getrieben wird vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Range hinab sturzte in die Manege riefe das Halt durch die Fanfaren des sich immer anpassenden Orchesters Der zweite kausale Satz dagegen zeigt das scheinbar realistische Bild einer vitalen schonen Dame als Reiterin voller Wurde glucklich mit ihrem Beruf und von ihrem Direktor hofiert und liebevoll umsorgt da dies so ist legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brustung und im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend weint er ohne es zu wissen Form BearbeitenGrammatikalische Betrachtung Bearbeiten Den ersten Absatz mit der Negativdarstellung fullt eine lange Wenn dann Periode die aus zwei konditionalen Gliedsatzen mit einem sich anschliessenden Hauptsatz besteht und deren Umfang und Komplexitat hauptsachlich dadurch entsteht dass in die beiden Konditionalsatze eine Reihe von lokalen und modalen Adverbialen eingeschlossen sind wahrend der durch Gedankenstrich abgetrennte Hauptsatz drei asyndetisch gereihte Pradikate aufzahlt Der noch langere zweite Absatz enthalt wiederum nur ein einziges Satzgefuge das aus zwei kausalen durch Gedankenstrich getrennten Gliedsatzen mit abschliessendem Hauptsatz besteht und dessen Umfang und Komplexitat vor allem dadurch entsteht dass der erste Kausalsatz nicht nur verschiedene Subjekte und Pradikate aufzahlt sondern obendrein von weiteren Gliedsatzen unterbrochen wird und auch der Hauptsatz ein doppeltes Pradikat und ein modales Adverbiale mit Infinitkonstruktion enthalt Sprachliche Darstellung Bearbeiten Der erste Absatz ist im Konjunktiv also in der Moglichkeitsform geschrieben So erscheint die entschlossene Reaktion des Galeriebesuchers im ersten als Moglichkeit dargestellten Teil logisch nachvollziehbar Wenn es so ware dann wurde der junge Galeriebesucher einschreiten Der zweite Absatz ist im Indikativ also in der Ausdrucksform abgefasst Daher neigt man beim ersten Lesen dazu die erste Darstellung als Moglichkeit und die zweite als Realitat aufzufassen Dies wird aber durch das Weinen des Galeriebesuchers am Ende in Frage gestellt Erst recht fraglich wird die optimistische Variante wenn man die Realitat des Zirkusalltags mit der standigen Routine der Wiederholungen und dem dort normalerweise herrschenden Gefalle zwischen Chef und untergebenem Zirkusvolk bedenkt Insgesamt wirkt die Sprache des kurzen Prosastucks in beiden Teilen durch die Reihung der Satzglieder unruhig und getrieben Im ersten Teil scheint die sprachliche Gestaltung das bose Voranpeitschen der Kunstlerin auszudrucken Im zweiten Teil verdeutlicht sie die Euphorie Beide Absatze drucken also inhaltlich vollig unterschiedliche Sichtweisen aus Auf der sprachlichen Ebene jedoch sind beide Absatze ahnlich aufgebaut und unterscheiden sich nur in Nuancen Erzahlperspektive Bearbeiten Die Erzahlerposition dieser Parabel ist schwer zu greifen denn die Parabel stellt weniger eine Erzahlung als eine literarische Versuchsanordnung dar Zwar ist es der Galeriebesucher der mit beiden Varianten konfrontiert wird aber er ist nicht der Erzahler da auch er von aussen betrachtet wird von einer auktorialen Instanz die sich nicht in einer linearen Erzahlung ausdruckt sondern vielmehr in einem zyklischen Gedankenspiel also nicht so sehr auktorialer Erzahler als vielmehr auktoriales Reflexionsmedium ist 2 Deutungsansatze BearbeitenAmbivalente Kunstlerwelt und allgemeines Wahrheitsproblem Bearbeiten Auf der Galerie zeigt die kontraren Seiten eines Kunstlerdaseins das im Licht der Offentlichkeit steht aus dem Blickwinkel eines Galeriebesuchers Stellt man die Frage welche Variante realer ist muss auch der Empfangerhorizont gesehen werden Welche eigene Sicht auf die Dinge ist fur einen Betrachter oder Kunstler uberhaupt moglich Welche Sichtweise er grundsatzlich einnimmt durfte kaum seiner willentlichen Kontrolle unterliegen Er kann sich zwanghaft die Welt qualend und ausweglos denken und wird sie dann auch so darstellen Oder er kann das positive Gegenteil betonen Beide Varianten uberbetonen pathetisch die plakativ beschriebene Ambivalenz von Gut und Bose freudig und deprimiert Beide Abschnitte zeigen konkurrierende Formen der Zirkusrealitat indem sie deren Charakteristik uberzeichnen und liefern so eine Studie uber die Problematik der Wahrnehmung die unterschiedliche Entwurfe der Wirklichkeit prasentiert die den Betrachter zu divergierenden Reaktionen zwingt 3 Kafka inszeniert hier ein Verwirrspiel um Schein und Sein Er entwickelt beides in seiner Wirkung auf einen bestimmten Zuschauer auf der Galerie der keine Verbindung zum sonstigen Publikum zu haben scheint und gerade aufgrund seiner Isolation und Einsamkeit das kunstliche bruchige Gluck durchschaut Angesichts des erbarmungswurdigen Schicksals der Reiterin kann er eine Heldenrolle einnehmen und sie retten Eine latente Konkurrenz zwischen ihm und dem Direktor steht unausgesprochen im Raum In der anderen Variante weint dieser Zuschauer Sind es Gluckstranen oder trauert er weil er weiss dass alles nur Fassade ist und sich die Reiterin in Wirklichkeit so fuhlt wie im ersten Fall beschrieben Dass er wie in einem schweren Traum versinkend weint ohne es zu wissen unterstreicht die Fragwurdigkeit der Entscheidung zwischen wahrer und falscher Realitat So wird das Wahrheitsproblem selbst Thema des Gedankenspiels Erkenntnissuche fuhrt ins tragische Dilemma endet in weinender Vergeblichkeit und in der schmerzlichen Absonderung vom gutglaubig dahinlebenden und sich oberflachlich vergnugenden Durchschnittsmenschen 4 Biografische Bezuge Bearbeiten Die Manege ist nicht nur die Buhne sondern auch der Arbeitsplatz der jungen Kunstreiterin Mit unzulanglichen Verhaltnissen an Arbeitsplatzen war Kafka bei seiner Tatigkeit in der damaligen Prager Arbeiter Unfall Versicherungs Anstalt die in Osterreich heute noch besteht immer wieder konfrontiert und davon beruhrt 5 Es ist daher anzunehmen dass Kafka diese Erzahlung u a auch unter dem Eindruck seiner Berufserfahrungen als visionare Sicht auf Erscheinungsformen des Arbeitslebens und der Unterhaltungsbranche niederschrieb die erst in der heutigen Medienwelt sehr stark hervortreten Vgl hierzu Sudau s u Rezeption Bereits in der Tagebucheintragung vom 9 November 1911 beschreibt Kafka einen Traum Er sei auf der Galerie und ein erschrockenes junges Madchen unten auf der Buhne 6 Ein anderer Hintergrund bzw eine Anregung konnten zwei Bilder aus dem 19 Jahrhundert gewesen sein namlich Der Zirkus Fernando von Henri de Toulouse Lautrec und Der Zirkus von Georges Seurat siehe das oben abgebildete Gemalde Sie behandeln dasselbe Thema namlich die Darstellung einer jungen Kunstreiterin in der Manege mit einem Direktor Aufgrund der Ahnlichkeit ist es recht wahrscheinlich dass Kafka diese Bilder kannte 7 Rezeption BearbeitenAlt S 498 nennt hier den Bezug zum Traum und zur Macht der psychischen Krafte die auf das Individuum wirken Mit seinem unbewussten Weinen kehrt der Galeriebesucher in die Welt des Imaginaren Unbewussten zuruck Sudau S 10 Kafkas Parabel auf ein Weltgetriebe das dem falschen Schein erlegen ist lasst sich unschwer in viele konkrete Sektoren zerlegen in denen Glitzerwelten oder ein fauler Zauber sich entfalten angefangen vom Laufsteg bis hin zur politischen Buhne Das jetzige Zeitalter mit seinem den ganzen Tag laufenden Fernsehzirkus hat einen verraterisch paradoxen Begriff gefunden der Kafkas Vexierspiel genauestens und bitter entspricht die Reality Show Die medialen Kunst oder besser Kitsch und Trashwelten nach dem Muster von Big Brother mussen einem verdummten und vor den Schirm gebannten Publikum mehr und mehr als die wirkliche Welt erscheinen Das Halt ist fern das Leid unerkannt und stumm v Jagow Liska S 67 Indem Kafka die Erzahlperspektive problematisiert und damit zeigt dass es sich in jedem Fall nur um subjektive Wahrnehmungsweisen handelt entzieht er dem Leser die Moglichkeit festzulegen was nun die wirkliche Zirkusszene ist Damit setzt er sich von den im Text vorgestellten mannlichen Positionen ab und erstattet der Kunstreiterin ihre unvereinnahmbare Eigenstandigkeit zuruck Ausgaben BearbeitenPaul Raabe Hrsg Samtliche Erzahlungen Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main und Hamburg 1970 ISBN 3 596 21078 X Roger Hermes Hrsg Die Erzahlungen Originalfassung Fischer Verlag 1997 ISBN 3 596 13270 3 Wolf Kittler Hans Gerd Koch Gerhard Neumann Hrsg Drucke zu Lebzeiten Fischer Verlag Frankfurt Main 1996 S 262 263 Sekundarliteratur BearbeitenRalf Sudau Franz Kafka Kurze Prosa Erzahlungen Klett Verlag 2007 ISBN 978 3 12 922637 7 Peter Andre Alt Franz Kafka Der ewige Sohn Verlag C H Beck Munchen 2005 ISBN 3 406 53441 4 Cerstin Urban Franz Kafka Erzahlungen II Konigs Erlauterungen und Materialien Bd 344 Bange Verlag Hollfeld 2004 ISBN 978 3 8044 1756 4 Carsten Schlingmann Franz Kafka Reclam Verlag ISBN 3 15 015204 6 Reiner Stach Kafka Die Jahre der Erkenntnis S Fischer ISBN 978 3 10 075119 5 Bettina von Jagow und Oliver Jahraus Kafka Handbuch Leben Werk Wirkung Vandenhoeck amp Ruprecht 2008 ISBN 978 3 525 20852 6 Beitrag Vivian Lisa Rainer von Kugelgen Kafkas Parabel Auf der Galerie Das Verraten der Sprache oder Wie man einen Verdacht ausraumt Vortrag auf der 6 internationalen Tagung Funktionale Pragmatik 29 November 1 Dezember 2001 in Koln 1 Weblinks Bearbeiten nbsp Wikisource Auf der Galerie Quellen und Volltexte Text der Erzahlung bei zeno org Franz Kafka Auf der Galerie im Projekt Gutenberg DE Horbuch gelesen von Thorsten Herbold MP3 auf librivox Auf der Galerie Text der Erzahlung gesprochen von Hans Jorg GrosseEinzelnachweise Bearbeiten Sudau S 7 Sudau S 12 13 Alt S 496 498 Sudau S 7ff Alt S 174 Franz Kafka Tagebucher Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt 2002 ISBN 3 596 15700 5 S 239 Schlingmann S 110 113 Die Texte aus Franz Kafkas Ein Landarzt Der neue Advokat Ein Landarzt Auf der Galerie Ein altes Blatt Vor dem Gesetz Schakale und Araber Ein Besuch im Bergwerk Das nachste Dorf Eine kaiserliche Botschaft Die Sorge des Hausvaters Elf Sohne Ein Brudermord Ein Traum Ein Bericht fur eine Akademie Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Auf der Galerie amp oldid 238211354