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Kanalisierung ist die Robustheit des Phanotyps bei Anderungen von genetischen und Umwelt Faktoren 1 Ein phanotypisches Merkmal bleibt demnach relativ invariant auch wenn Individuen genetisch variieren oder wenn sie wechselnden Umwelteinflussen ausgesetzt sind Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 2 Beobachtung Wildtypen sind robust gegen Variation 3 Beispiel Hsp90 Chaperon 4 Genetische Assimilation 4 1 Genetische Variabilitat ist maskiert 5 Pufferung des Genotyps 6 Molekulare Mechanismen 7 Empirische Nachweise und Messmethoden 8 Offene Fragen und Kritik 9 Einzelnachweise 10 Siehe auchBegriffsgeschichte BearbeitenDer Begriff Kanalisierung ist von Conrad Hal Waddington 1942 eingefuhrt worden Waddington formuliert dass die Entwicklung Ontogenese auf bestimmte Anderungen durch externe Stimuli oder genetische Mutation derart reagiert dass der phanotypische Output unverandert erhalten bleibt Die Entwicklung rejustiert oder kanalisiert die Storung 2 3 Unabhangig von Waddington kam der russische Evolutionsbiologe Iwan Iwanowitsch Schmalhausen fast zeitgleich zu ahnlichen Gedanken die jedoch auf Grund politischer Barrieren und der russischen Sprache erst spater in der westlichen Welt bekannt wurden Nach Jahrzehnten relativ geringer Resonanz in der Wissenschaft wurde dem Konzept im Zeitalter der Genomik seit den 1980er Jahren erneut grossere Aufmerksamkeit zuteil Kanalisierung wird heute haufig mit verwandten Begriffen Pufferung Entwicklungsstabilitat Homoorhese Toleranz usw als Robustheit zusammengefasst 4 Beobachtung Wildtypen sind robust gegen Variation BearbeitenDas Konzept der Kanalisierung beruht auf der Beobachtung dass Wildtypen auf genetische Mutationen weniger storanfallig reagieren als Zuchtlinien Waddington erklarte sich dies damit dass die genetische Vielfalt des Wild Typs grosser und damit eine Kanalisierung auf den vorhandenen Phanotyp wahrscheinlicher ist 5 Eine mogliche Begrundung ist dass der Wildtyp gegenuber dem Mutant oder Zuchttyp vielen Generationen stabilisierender Selektion ausgesetzt ist Stabilisierende Selektion kann somit die Variabilitat genetischer Mutationen bzw von Umwelteinflussen in Bezug auf den Phanotyp verringern 1 Moglicherweise ergibt sich die Stabilitat aber auch einfach als Beiprodukt aus dem komplexen Regelwerk der die Entwicklung steuernden genetischen Faktoren 6 Auch regulatorische RNA Sequenzen wurden als Erklarungsmoglichkeit ins Spiel gebracht 7 Die genauen Grunde fur das Phanomen sind somit in der Wissenschaft noch nicht eindeutig geklart Es ist durchaus wahrscheinlich dass in unterschiedlichen Fallen verschiedene Erklarungen richtig sind Beispiel Hsp90 Chaperon BearbeitenEin in der jungeren Literatur beschriebenes Beispiel fur Kanalisierung ist das Chaperon Hsp90 8 Als Chaperon bezeichnet man ein Protein das anderen neu synthetisierten Proteinen zu einer optimalen Faltung verhilft In dieser Funktion hat das Hsp90 grundlegende Bedeutung in der Entwicklung Hsp90 hat seinen Namen von der Bezeichnung heat shock protein Hitzeschockproteine Der Name deutet neben der Chaperon Funktion auf eine weitere Funktion hin Unter Stress und zwar nicht nur bei Hitze wird Hsp90 verstarkt produziert und sorgt dann dafur dass gehaufte genetische Mutationen nicht auch zu phanotypischer Variation fuhren es puffert sie ab Damit wirkt Hsp90 als ein Kanalisierungsfaktor 9 Wird im umgekehrten Fall Hsp90 kunstlich reduziert kommen maskierte genetische Mutationen zum Vorschein Die Wirkung von Hsp90 konne man sich also analog der Wirkung eines Kondensators engl capacitor in einem Stromkreis vorstellen genetische und okologische Variation wird normalerweise unterdruckt nur bei hohem Stress fallt diese Dampfung aus damit wird die Variation sichtbar und steht fur selektive Anpassungen zur Verfugung 10 Genetische Assimilation BearbeitenIn einer Serie von klassischen Experimenten an der Taufliege Drosophila versuchte Waddington zu zeigen dass die Aufhebung der normalen Kanalisierung zu einer genetischen Fixierung von Merkmalen fuhren kann die zunachst als Reaktion auf Umweltfaktoren ausgepragt waren Dies bedeutet in der Konsequenz eine scheinbar lamarckistische Vererbung erworbener Merkmale die Waddington aber im Rahmen der synthetischen Evolutionstheorie erklaren konnte Der gesamte Vorgang wurde von ihm genetische Assimilation genannt 11 Waddington beobachtete zunachst dass wenn Fliegenpuppen von Drosophila einem Hitzeschock ausgesetzt worden waren manchmal eine bestimmte Querader im Flugelgeader fehlt die normalerweise vorhanden ist Der Ausfall dieser Ader war vorher bereits als Effekt verschiedener Mutationen beobachtet worden Der Stress des Hitzeschocks kann also ahnliche Effekte hervorbringen wie eine Mutation ahnliche Effekte waren anderen Biologen wie Goldschmidt oder Landauer bereits an anderen Arten aufgefallen und war von ihnen Phanokopie benannt worden Waddington teilte nun seine Fliegenpopulation in zwei Halften und selektierte die eine Halfte auf den Ausfall der Ader die andere auf Beibehaltung der Ader auch im Falle des Hitzeschocks d h ein klassisches Zuchtungsexperiment Nach 12 Generationen war in der auf den Ausfall der Ader selektierten Linie der Anteil der Individuen ohne diese deutlich gestiegen Ausserdem war nun auch bei einem Teil der Individuen diese Ader nicht vorhanden auch wenn sie uberhaupt keinem Hitzeschock ausgesetzt worden war Dies bedeutet eine Variation in Reaktion auf einen Umweltstimulus den Hitzeschock trat nun auch ohne diesen Stimulus auf Nach Waddingtons Erklarung ist fur den Effekt keine Vererbung eines erworbenen Merkmals erforderlich auch wenn dies zunachst so aussehen mag Vielmehr ist die Variabilitat die den abgeanderten Phanotyp hervorbringen kann in der Ausgangspopulation bereits vorhanden wird aber aufgrund der Kanalisierung nicht ausgepragt Durch die Selektion auf diejenigen Phanotypen die am starksten auf den Stimulus ansprechen werden Individuen mit Allelen ausgelesen die einen tendenziell niedrigeren Schwellenwert fur die Auslosung der Veranderung besitzen Verstarkt die in diesem Falle kunstliche Selektion diese Auswahl uber viele Generationen werden Allele die den Effekt bereits bei geringem Stimulus auspragen im Genpool immer haufiger Dadurch konnen schliesslich Varianten angereichert sein die auch ohne jeden Stimulus das Merkmal auspragen d h dass vorhandene redundante interne genetisch epigenetischen Mechanismen uberschrieben und das System so genetisch fixiert wird Spater sagte Waddington dazu Die Entwicklungsanderung die durch den Stressor angestossen wurde kann genetisch assimiliert werden genetische Assimilation Das System funktioniert dann ohne externen Anstoss Es ist auf den gleichen Phanotyp gerichtet Dafur sorgen wie zu Beginn der Variation auch Genkombinationen und Expressionsmuster die ahnliche Variation bewirken konnen und die im Organismus stets vielfaltig vorhanden sind Eine Veranderung tritt in der Entwicklung also zum Beispiel bei der Uberschreitung von Schwellenwerten ein Solange ein Schwellenwert nicht uberschritten ist verlauft die Entwicklung kanalisiert wird er uberschritten verlasst die Entwicklung den kanalisierten Pfad und vollzieht einen neuen Pfad der nunmehr wiederum neu kanalisiert werden kann Schwellenwerte kennt man bei der Entwicklung der Gliedmassen bei denen ein Morphogen Verlaufsgradient wie etwa SHH oder auch mehrere unterschiedlich lange und oder unterschiedlich intensiv auf Zellen in ihrem Umfeld wirken und somit an der Identifikation bestimmter Finger beteiligt sind je nachdem wie lange oder wie stark das Morphogen wirkt Genetische Variabilitat ist maskiert Bearbeiten Als eine unmittelbare Folge von Kanalisierung kann man sehen dass kumulierte genetische Variabilitat entsteht die im Phanotyp nicht zum Vorschein kommt Solche versteckte maskierte oder phanotypisch kryptische genetische Variabilitat bzw versteckte Entwicklungspfade kommen erst bei einer Dekanalisierung Demaskierung beim Verlassen des Kanalisierungspfads zum Vorschein Maskierte kumulierte Mutationen entstehen weil die Selektion die einzelnen Mutationen nicht beseitigen kann Selektion kann immer nur das angreifen was phanotypisch zum Vorschein kommt Pufferung des Genotyps BearbeitenDie vielfaltigen im Organismus prasenten Genkombinationen und epigenetischen Entwicklungspfade die zu einem gleichen oder sehr ahnlichen phanotypischen Ergebnis fuhren werden als Pufferung des Genotyps bezeichnet 5 Die Pufferung ist immer eine relative Grosse Verhaltnis der Variabilitat im Genom zur Variation der Phanotypen und ist deshalb eine Eigenschaft der Population nicht des Individuums Ein gepuffertes Merkmal d h ein genetisch variierendes Merkmal ohne Auswirkung auf den Phanotyp wird als neutral eine entsprechend wirkende Mutation als neutrale Mutation bezeichnet Ebenso wie bei der Variabilitat der Phanotypen selbst kann die Pufferung auf der genetischen Ebene oder der Ebene der Umweltfaktoren ansetzen Bei der Umwelt wird zwischen der Makro Umwelt das sind die von aussen auf den Organismus einwirkenden eigentlichen Umweltfaktoren und der Mikro Umwelt das sind die vielfaltigen Einflusse anderer Teile des Organismus selbst auf ein Merkmal an einer bestimmten Stelle unterschieden Diese Mikro Umweltfaktoren sind insbesondere die Einwirkungen von organisierenden Faktoren wie Transkriptionsfaktoren oder Hormonen bei der Entwicklung eines Embryos Mikro Umweltfaktoren und Entwicklungsfaktoren sind also mehr oder weniger synonym Der Einfluss dieser Entwicklungsfaktoren auf die Auspragung des Phanotyps ist die Kanalisierung im Sinne Waddingtons Die anderen zur Robustheit des Phanotyps beitragenden Faktoren sind mehr oder weniger unabhangig davon 12 So wird in der neueren Literatur in beiderlei Hinsicht von Kanalisierung gesprochen und zwar von genetischer Kanalisierung von Umweltkanalisierung 1 und im Sinne Waddingtons von Entwicklungskanalisierung Molekulare Mechanismen BearbeitenWaddington hat selbst keine Mechanismen beschrieben die zu Kanalisierung fuhren Heute kennt man solche So wirkt etwa Modularitat fordernd fur Kanalisierung Module konnen definiert werden als hochintegrierte Einheiten die unabhangig sind von anderen Einheiten 13 Module konnen auf unterschiedlichen Ebenen der Entwicklung gesehen werden Kopierte Gene sind Module Zellstrukturen und Zellen selbst aber auch Finger sind Beispiele fur Entwicklungsmodule auf verschiedenen phanotypischen Ebenen Ihren hohen Integrationsgrad erhalten Module hoherer Ordnung vornehmlich durch komplexe Gennetzwerke die primar polygenetischer Natur sind viele Gene an einem Merkmal beteiligt als pleiotropischer Natur sind ein Gen an vielen Merkmalen beteiligt Genetische Anderungen in einem bestimmten Modul bleiben dann in der Regel ohne Auswirkung auf die Funktionsweise anderer Module Das aber ist kompatibel mit der genannten Pufferung bzw Kanalisierung 1 Schwellenwerteffekte sind ein wichtiger Untersuchungsgegenstand von Evo Devo Schwellenwerte konnen mit Hilfe von Morphogenen ausgebildet werden das sind Verlaufsgradienten Proteine die einerseits je nach Entfernung von ihrem Ursprungsort unterschiedlich intensiv anderseits auch unterschiedlich lange wirken konnen Solche Wirkungsformen konnen entsprechend unterschiedliche Reaktionen von Zellen bzw des zu entwickelnden Gewebes verursachen So ist die Bildung der Extremitaten Finger bei Wirbeltieren von der Wirkungsweise von Morphogenen abhangig Solange Schwellenwerte nicht uberschritten werden kommt es nicht zu Variation Die Entwicklung ist kanalisiert Werden Schwellenwerte jedoch uber oder unterschritten bedeutet das Dekanalisierung oder Verlassen des Entwicklungspfads Gunter P Wagner hierzu Organismen halten ihre funktionale Organisation gegen Angriffe genetischer Mutationen aufrecht indem sie den Phanotyp mit einer physiologischen Sicherheitsgrenze ausstatten die viele kleine Effekte unerheblich macht Aber die Effekte die sichtbar werden sobald der Organismus seine Sicherheitsgrenze in einem Entwicklungsprozess verliert sind nicht unbedingt dieselbe Art Mutationen wie jene mit denen es die die naturliche Selektion zu tun hat wenn sie Adaptationen erzeugt 14 Empirische Nachweise und Messmethoden Bearbeiten1953 lieferte Waddington empirische Belege fur seine Thesen in dem Aufsatz Genetic Assimilation of an Acquired Character und zeigte dort wie die Adern in Fliegenflugeln verschwinden angestossen durch uber mehrere Generationen wiederholte kurze Hitzeschocks der Fliegeneier und wie die Adern schliesslich bei einigen Tieren auch ganz ohne die Hitzeschocks wegbleiben In der Entwicklung der Fliegen wird die Veranderung kanalisiert und spater genetisch assimiliert Ein ahnliches Experiment wird erstmals 50 Jahre spater von Fred Nijhout USA an Tabakschwarmern wiederholt 15 Auch die sehr kurzfristige Evolution der Schnabelformen von Darwinfinken wie sie von Peter und Rosemary Grant beschrieben wurde wird mit Entwicklungsanderungen in Verbindung gebracht speziell mit Anderungen des Proteins Hsp90 16 s dazu auch Evo Devo Ebenso belegt der Jahrzehnte dauernde Versuch des russischen Genetikers Dmitry Belyaev Silberfuchse zu zahmen vielfaltige Entwicklungsanderungen die heute als Kanalisierungen im Sinn Waddingtons interpretiert werden 17 s dazu Evo Devo Kryptische genetische Variation kann etwa durch P element Insertion oder durch Kumulation genetischer Mutation provoziert werden Umweltstress zum Nachweis von Kanalisierung kann wie oben beschrieben durch Hitzeschocks aber auch durch chemische Stressoren erreicht werden Man vergleicht dann verschiedene Phanotyplinien ohne bzw mit Stressorbelastung 1 Offene Fragen und Kritik BearbeitenSchwierigkeiten zeigen sich darin Kanalisierung als adaptiv evolvierte Eigenschaft nachzuweisen also zu belegen dass Kanalisierung durch naturliche Selektion entsteht bzw zu belegen dass Arten ohne Kanalisierung weniger angepasst waren Moglicherweise ist Kanalisierung eine intrinsische Eigenschaft von Gennetzwerken oder Entwicklungspfaden 1 Hierzu muss die zukunftige Forschung umfangreiches solides empirisches Material liefern Auch zur Messung von Kanalisierung sind weitere Methoden erforderlich Einzelnachweise Bearbeiten a b c d e f Flatt Thomas 2005 The Evolutionary Genetics of Canalization Quarterly review of biology 80 3 287 316 Waddington C H Canalization of Development and the Inheritance of Acquired Charakters 1942 Nature 3811 S 563 565 Waddington C H Genetic Assimilation of an Acquired Character In Evolution Band 7 1953 S 118 126 Andreas Wagner Robustness and Evolvability in Living Systems Princeton University Press 2005 a b Waddington C H 1942 S 563 Mark L Siegal amp Aviv Bergman Waddington s canalization revisited Developmental stability and evolution Proceedings of the national academy of science 99 16 2002 10528 10532 Eran Hornstein amp Noam Shomron Canalization of development by microRNAs Nature Genetics 38 Supplement 2006 S20 S24 Rutherford S L amp Lindquist S 1996 Hsp90 as a capazitor for morphological evolution Nature 396 336 342 Gilbert Scott F amp Epel David 2009 Ecological Developmental Biology Integrating Epigenetics Medicine and Evolution Sinauer S 379 Jablonka eva amp Lamb Mation 2005 Evolution in four Dimensions Genetic Epigenetic Behavioral and Symbolic Variation in the History of Life S 265ff MIT Press Waddington C H 1953 The genetic assimilation of an aquired character Evolution 7 118 126 Hermisson J and Wagner G P 2005 Evolution of phenotypic robustness in Robust Design A Repertoire from Biology Ecology and Engineering E Jen ed Oxford University Press Oxford Zu unterschiedlichen Definition von Modularitat in der Evolution siehe z B Callebaut Werner amp Raskin Gutman Diego 2005 Modularity Understanding Development and Evolution of Natural Complex Systems MIT Press Wagner Gunter P 2003 Evolutionary Genetics The Nature of Hidden Genetic Variation Unveiled Current Biology Vol 13 Yuichiro Suzuki H Federic Nihjout Genetic basis of adaptive evolution of a polyphenism by genetic accommodation In Journal of Evolutionary Biology 21 Nr 1 2008 S 57 66 doi 10 1111 j 1420 9101 2007 01464 x Peter R Grant B Rosemary Grant Genetics and the origin of bird species In Proceedings of the National Academy of Sciences Band 94 Nr 15 S 7768 7775 Juli 1997 Online PDF Trut Ludmila N Early Canid Domestication The Farm Fox Experiment American Scientist Vol 87 1999Siehe auch BearbeitenEvolutionare Entwicklungsbiologie Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kanalisierung Entwicklung amp oldid 229268991