www.wikidata.de-de.nina.az
Der Begriff des impliziten Lesers der als grundlegendes wirkungs bzw rezeptionsasthetisches Konzept seit den 1970er Jahren vor allem von Wolfgang Iser gepragt wurde 1 bezeichnet in der Literaturwissenschaft Lesertheorie 2 und Literaturtheorie allgemein die im Akt des Lesens zu realisierende Leserrolle eines literarischen Textes d h den vom Autor beim Verfassen des Textes grundsatzlich mitgedachten und miteinbezogenen moglichen Leser in seiner konstitutiven Rolle fur die Interaktion von Text und Rezipient als solcher Diese Perspektive ist jedoch nicht empirisch ausgerichtet als Interpretationsmethode die einen konkreten Leser in den Fokus ruckt und dessen Bedeutungszuschreibung am Text als Bedeutungstrager greifbar zu machen versucht sondern bleibt dem realen Leser gegenuber vollig indifferent und strebt danach sich dem transzendentalen Charakter von Textstrukturen durch eine interaktionale Analyse oder Beschreibung des Leseaktes im Allgemeinen anzunahern 3 Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 2 Anwendung des Begriffs 3 Literatur 4 EinzelnachweiseBegriffsgeschichte BearbeitenDer Terminus bezieht sich in dieser Hinsicht im Rahmen eines theoretischen Konstruktes auf die Gesamtheit aller in der Struktur eines Textes als Unbestimmtheits oder Leerstellen angelegten gedanklichen Operationen die fur eine angemessene Rezeption des Werks erforderlich ist beschreibt jedoch laut Iser keine Typologie moglicher Leser und hat demgemass ontologisch keine reale Existenz im Sinne spezifischer linguistischer psychologischer soziologischer oder anderer Parameter Ebenso wenig ist er trotz seiner Verknupfung mit der Textstruktur durch explizit gestaltete oder zu erschliessende Figuren bzw konkrete Stimmen im Text gekennzeichnet Der Bezug auf den impliziten Leser in literaturwissenschaftlichen Ansatzen referiert daher nicht zwangslaufig eine reale Instanz im Text und kann eine Reihe unterschiedlicher interpretationstheoretischer Pramissen verkorpern deren Modellierung jedoch als Darstellungs und Vermittlungsprinzip auszulegen ist 4 Anwendung des Begriffs BearbeitenDer implizite Leser stellt als eine Art Minimaldefinition in dieser Hinsicht literaturtheoretisch das konzeptuelle Komplement bzw Pendant zu dem von W C Booth 1961 eingefuhrten Konstrukt des impliziten Autors implied author dar 5 Das Konzept des impliziten Lesers wird auf dieser Grundlage in strikter Parallelitat zum impliziten Autor begrifflich sowohl vom realen empirischen Leser als auch von der im Text markierten Perspektive der Leserfiktion fiktiver Leser abgegrenzt 6 Als rezeptionsbezogenes Aquivalent zum impliziten Autor postuliert der Begriff eine als personalisiert vorgestellte eigene Kommunikationsebene zwischen diesen Leserinstanzen und begrundet im Kommunikationsmodell narrativer Texte damit eine nach unterschiedlichen semiotischen Niveaus differenzierte weitere Ebene 7 Die Figuren im Umkreis des Erzahlers in Paludes Gide 1895 konnen als Beispiele fur implizite Leser betrachtet werden In Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht 1979 wird das Konzept ubersteigert indem der Leser nicht mehr nur implizit anwesend sondern als Protagonist selbst Teil des Romans ist Wahrend Iser in seinem Konzept mit dem Begriff des impliziten Lesers vor allem die Beziehung zwischen Text und Leser wie oben angesprochen gleichsam in einem interaktionellen Modell zu erfassen trachtet und sich damit weniger auf historische Unterschiede als vielmehr auf transzendentale Gemeinsamkeiten literarischer Rezeption bezieht wird der Terminus in anderen Ansatzen der Rezeptionsasthetik dagegen ebenso auf die Entfaltung des in einem Werk angelegten in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierbaren Sinnpotentials bezogen Im ursprunglichen Sinne Isers ist der implizite Leser jedoch generell als Gesamtheit der Vororientierungen des Textes mithin als das grundsatzlich vom Text offerierte Sinn und Rollenangebot fur einen hypothetisch angenommenen Rezipienten im Hinblick auf den Ubertragungsvorgang vom Text zum Leser zu verstehen 8 Die Verankerung des impliziten Lesers im Text und seine Abhangigkeit von der Konkretisierung durch den jeweiligen Leser gilt in der gegenwartigen Literaturwissenschaft und theorie mittlerweile weitgehend als konsensfahig Dagegen werden die intentionalen Aspekte des Textes in Abhangigkeit von einer die Textmerkmale und deren Funktionen bewusst gestaltenden intendierenden Autoreninstanz in neueren Ansatzen nicht langer stets als zwangslaufig implizit sondern als durchaus real in historisch expliziter bzw konkretisierbarer Form betrachtet 9 So wird insbesondere in der jungeren literaturtheoretischen Diskussion das Konzept des impliziten Lesers teilweise auch aus narratologischer Perspektive stark in Zweifel gezogen Die Kritiker monieren insbesondere den zu Widerspruchen fuhrenden Status dieses eine personalisierte Instanz suggerierenden Konzeptes 10 das ohne Bindung an einen realen oder fiktiven Adressaten fiktiven Leser als Empfangerinstanz im Grunde nicht unterscheidbar sei So pladiert beispielsweise A Nunning dafur zur Vermeidung von Paradoxien auf dieses Konzept zu verzichten gleichzeitig jedoch die theoretisch durchaus relevanten Funktionen auf das rein virtuelle System einer Gesamtstruktur des Textes zu ubertragen als einer im Sinne von L Althussers Strukturbegriff abwesenden Ursache 11 Gleichermassen wird in der neueren Interpretationspraxis die Frage aufgeworfen wie mit dem Konzept des impliziten Lesers das im engen Sinne Isers jenseits aller historisch vorhandenen mithin faktischen Bedeutungszuschreibungen ausschliesslich mogliche Rezeptionsweisen eines Textes idealiter als Hypothese modelliere dem Anspruch gerecht werden konne einen Text historisch adaquat zu interpretieren Kritiker verweisen dabei in diesem Zusammenhang ebenso auf Isers eigene interpretative Praxis aus Der implizite Leser in der er selber keinerlei zu bestimmten Zeitpunkten realiter oder faktisch bestehende Bedeutungszuschreibungen an literarische Texte auf dem Hintergrund seines abstrakten Modells analysiere Seine Form der historisierenden Literaturbetrachtung resultiere weitgehend aus einer sehr engen asthetischen Fokussierung auf die literarische Textgestalt und schliesse nicht vom Kontext auf den Text sondern vom Text auf den Kontext auf Grundlage seiner metahistorischen Annahme der Leser musse bloss die im Text durch die Leerstellen vorgezeichneten Umbesetzungen im Feld des Leserblickpunkts mit vollziehen und konne so die historische Situation wiedergewinnen auf die sich der Text bezog bzw auf die er antwortete Isers Modell thematisiere damit die Wirkungsgeschichte ohne konkrete Erfassungsakte zu untersuchen Sein eigener modellhafter Ansatz der Historisierung literarischer Textbedeutungen basiere im Wesentlichen auf einer blossen Amalgamierung interpretativ gewonnener Resultate aus der individuellen Textlekture und nicht weniger individuell angeeignetem Wissen uber historische Rezeptionsbedingungen 12 Literatur BearbeitenWolfgang Iser Der implizite Leser Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett Fink Munchen 1972 Wolfgang Iser Die Appellstruktur der Texte Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa Konstanzer Universitatsverlag 2 Aufl Konstanz 1971 ISBN 3 87940 003 2 Wolfgang Iser Der Akt des Lesens Theorie asthetischer Wirkung Fink UTB Munchen 1976 ISBN 978 3 7705 1390 1 Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 Einzelnachweise Bearbeiten Der Begriff wurde von W Iser in Die Appellstruktur der Texte 1970 umrissen danach in verschiedenen Einzelanalysen englischsprachiger Romane historisch ausdifferenziert und in Der Akt des Lesens 1976 als zentrales Konzept seiner Rezeptionsasthetik theoretisch detailliert begrundet Vgl Marcus Willand Lesermodelle amp Lesertheorien Historische und systematische Perspektiven Berlin 2014 Siehe Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 hier S 242 Siehe Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 hier S 237 ff Vgl auch Meinhard Winkgens Leser impliziter In Ansgar Nunning Hrsg Grundbegriffe der Literaturtheorie Metzler Verlag Stuttgart und Weimar 2004 ISBN 3 476 10347 1 S 145f und Heike Gfrereis Hrsg Leser In Heike Gfrereis Hrsg Grundbegriffe der Literaturwissenschaft Metzler Verlag Stuttgart und Weimar 1999 ISBN 978 3 476 10320 8 S 111 Vgl Meinhard Winkgens Leser impliziter In Ansgar Nunning Hrsg Grundbegriffe der Literaturtheorie Metzler Verlag Stuttgart und Weimar 2004 ISBN 3 476 10347 1 S 145 Siehe auch Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 hier S 238 f Vgl Marcus Willand Lesermodelle amp Lesertheorien Historische und systematische Perspektiven Berlin 2014 S 66 83 Vgl Meinhard Winkgens Leser impliziter In Ansgar Nunning Hrsg Grundbegriffe der Literaturtheorie Metzler Verlag Stuttgart und Weimar 2004 ISBN 3 476 10347 1 S 146 Vgl Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 hier S 237 f Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 hier S 245 f Vgl Marcus Willand Lesermodelle amp Lesertheorien Historische und systematische Perspektiven Berlin 2014 insb S 269 292 Siehe zur Kritik detailliert Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 Vgl auch Meinhard Winkgens Leser impliziter In Ansgar Nunning Hrsg Grundbegriffe der Literaturtheorie Metzler Verlag Stuttgart und Weimar 2004 ISBN 3 476 10347 1 S 146 Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode In Andrea Albrecht Lutz Danneberg Olav Kramer und Carlos Spoerhase Hrsg Theorien Methoden und Praktiken des Interpretierens De Gruyter Berlin u a 2015 S 237 270 hier S 247 und 249 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Impliziter Leser amp oldid 235274039