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Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft lautet der Titel der veroffentlichten wesentlich erweiterten Fassung der offentlichen Antrittsvorlesung von Hans Robert Jauss an der Universitat Konstanz die er am 13 April 1967 zur Feier des 60 Geburtstages des Rektors der Universitat Gerhard Hess gehalten hat Jauss begrundete mit dieser Vorlesung die so genannte Konstanzer Schule eine Stromung in der Rezeptionsforschung und Grundlage der deutschen Rezeptionsasthetik Erstausgabe der stark erweiterten Antrittsvorlesung vom 13 April 1967 von Hans Robert Jauss Sie erschien 1967 als Nr 3 der von Gerhard Hess herausgegebenen Reihe Konstanzer Universitatsreden in Konstanz im Verlag der Druckerei und Verlagsanstalt Konstanz Universitatsverlag GmbH Inhaltsverzeichnis 1 Antrittsvorlesung und schriftliche Publikation 2 Thesen 2 1 Fazit 3 Rezeption 4 Ausgaben 5 Literatur 6 Siehe auch 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseAntrittsvorlesung und schriftliche Publikation BearbeitenJauss Vorlesung trug den Titel Was heisst und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte der auf Friedrich Schillers Antrittsvorlesung in Jena 1789 anspielt Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte Schillers Vorlesung und der Begriff der Universalgeschichte spielen eine erhebliche Rolle in Jauss Text Fur die schriftliche Publikation in der Reihe der Konstanzer Universitatsreden 1967 wurde der neue Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft gewahlt und ist wie Jauss in einer Fussnote sagt durch den Ausbau meiner Thesen erheblich erweitert worden Nach zwei Auflagen in diesem Rahmen 1967 und 1969 erschien 1970 in der edition suhrkamp ein Sammelband mit dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der neben der nochmals uberarbeiteten 2 Auflage von Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft vier weitere Texte von Jauss enthielt Literarische Tradition und gegenwartiges Bewusstsein der Modernitat erstveroffentlicht 1965 Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes erstveroffentlicht 1967 Das Ende der Kunstperiode Aspekte der literarischen Revolution bei Heine Hugo und Stendhal Originalbeitrag und Geschichte der Kunst und Historie Vorlage eines Kolloquiums 1970 Es handelt sich um revidierte Fassungen die Zusammenstellung stammt von Jauss selbst 1 Der Suhrkamp Band edition Suhrkamp Nr 418 erschien bis 1992 in zehn Auflagen 2 Jauss Text wurde in uber 20 Sprachen ubersetzt 3 Ein weiterer Abdruck erschien in Rainer Warning Hrsg Rezeptionsasthetik Theorie und Praxis Uni Taschenbucher Nr 303 Fink Munchen 1975 ISBN 3 7705 1053 4 Thesen BearbeitenJauss kritisiert den traditionellen Ansatz der Literaturgeschichte stets nur Epochen aneinanderzureihen ohne diese untereinander in Beziehung zu setzen Es sei kein Wunder dass Literaturgeschichte immer mehr in Vergessenheit gerate Dabei sei eine reine Synchronie aus zwei Grunden ohnehin illusorisch zum einen existieren in jeder Epoche stets mehrere literarische Tendenzen gleichzeitig die wiederum alle fur sich von ihrer besonderen Geschichte Special History bedingt seien Jauss greift hier auf das Geschichtsverstandnis des Historikers Siegfried Kracauer zuruck der in seiner Abhandlung Time and History aus dem genannten Grund die faktische Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen konstatiert 4 und ubertragt es auf literarische Erscheinungen zum anderen bezieht sich Jauss auf die russischen Formalisten Juri Tynjanow und Roman Jakobson indem er davon ausgeht dass jedes synchrone System seine Vergangenheit und seine Zukunft als untrennbare Strukturelemente mit enthalten muss deshalb impliziert der synchrone Schnitt durch die literarische Produktion eines historischen Zeitpunkts notwendig weitere Schnitte im Vorher und Nachher der Diachronie 5 Literarizitat bedeute doppelte Opposition auf der synchronen Ebene zwischen poetischer und praktischer Sprache literarisches Werk vs Sachbuch und auf der diachronen Ebene zum Vorgegebenen der Gattung in der literarischen Reihe Die alleinige Betrachtung der Produktions und der Darstellungsasthetik verkurze die Literatur um ihre Rezeptions und Wirkungsdimension Diese aber gehore zum asthetischen Charakter und zur gesellschaftlichen Funktion eines Werks und der Leser sei der Adressat fur den das Werk primar bestimmt sei Daraus ergeben sich zwei Implikationen erstens bedeute Lesen immer den asthetischen Vergleich mit bereits bekannten Werken zweitens verandere sich das Verstandnis der ersten Leser uber die Generationen und entscheide so uber Bedeutung und asthetischen Rang des Werks Seine rezeptionsasthetische Theorie die letztlich eine akademische Beschaftigung mit Literaturgeschichte rechtfertigen soll fundiert Jauss auf sieben Thesen These 1Die Geschichtlichkeit der Literatur beruht auf der vorherigen Erfahrung des literarischen Werks durch seine Leser Ein literarisches Werk bietet nicht jedem Leser zu jeder Zeit den gleichen Zugang Literaturgeschichte bezeichnet einen stetigen Prozess der Rezeption und Produktion Der Leser aktualisiert den Text der Kritiker reflektiert uber ihn der Autor produziert einen neuen Text Der Ereigniszusammenhang der Literatur vermittelt sich im Erwartungshorizont der literarischen Erfahrung zeitgenossischer und spaterer Leser These 2Die Literaturgeschichte muss Aufnahme und Wirkung eines Werkes in dem objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen beschreiben das sich fur jedes Werk aus dem Vorverstandnis der Gattung und den bekannten Texten ergibt Den Idealfall der Objektivierbarkeit bilden Werke die Gattungs Stil oder Formkonventionen erst evozieren und dann brechen Die spezifische Disposition des ersten Publikums ist ermittelbar und zwar anhand von drei Faktoren bekannte Normen Gattungspoetik Beziehungen zu bekannten Werken Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit Der Leser rezipiert das Werk sowohl mit seinem literarischen Erwartungshorizont als auch mit seiner eigenen Lebenserfahrung These 3Eineasthetische Distanzentsteht zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont und dem Horizontwandel im neuen Werk Sie wird am Spektrum der Publikumsreaktionen sichtbar Das Ubertreffen Widerlegen oder Einlosen der Publikumserwartungen sind Kriterien fur den asthetischen Wert eines Werkes Die asthetische Distanz bestimmt den Kunstcharakter Sie kann fur spatere Leser verschwinden wenn die neuen Techniken immer wieder eingesetzt und damit vertraut werden Manche Werke haben zum Erscheinungszeitpunkt noch kein spezifisches Publikum These 4Die Rekonstruktion des Erwartungshorizontes des Erstpublikums ermoglicht die Frage zu stellen auf die der Text eine Antwort war und damit auf die Rezeption des damaligen Publikums zu schliessen Implizit und explizit vorausgesetzte Werke konnen dabei als Hintergrund dienen Die Summe der Urteile aller Leser ergibt das Urteil der Jahrhunderte den virtuellen Sinn des Werks Auch klassische Werke waren zu ihrem Erscheinungszeitpunkt innovativ Die Erkenntnisvermittlung des Kunstwerks kann nicht nur durch gegenwartige sondern auch durch antizipierte Erfahrung neue Fragen und Anschauungsmodelle erfolgen These 5Die Bedeutung eines literarischen Werks erfordert eine Platzierung in seine literarische Reihe Das nachste Werk der Reihe kann formale oder moralische Probleme losen die das vorangehende offenliess und seinerseits neue Probleme aufgeben Jauss beschreibt den Verlauf der literarischen Evolution als immer wiederkehrende Abfolge Innovation Hohepunkt Reproduktion Automatisierung Ablosung durch neue GattungLiterarische Reihen bilden die Werke eines Autors eines Stils einer Gattung oder auch verschiedener Gattungen Die Bedeutung eines Werks setzt Innovation voraus Die eigene Erfahrung des Interpreten ist dabei notwendig Der Abstand zwischen der aktuellen und der virtuellen Bedeutung eines Werks ist variabel manchmal erst nach langer Zeit in Einklang zu bringen Gelegentlich kommt es zu Renaissancen Neurezeptionen alter Werke vor einem veranderten Rezeptionshintergrund These 6Die Vielfalt der gleichzeitigen Werke kann durch synchrone Schnitte in Strukturen gegliedert werden Homogene literarische Reihen gibt es nicht Die gleichzeitige Literatur ist aus produktionsasthetischer Perspektive heterogen aus rezeptionsasthetischer Perspektive aber einheitlich bedeutungsstiftend Konstante Faktoren Syntax sind Gattungen Stilarten rhetorische Figuren Variable Faktoren Semantik sind Themen Motive und Bilder Aufgabe der Literaturgeschichte ist es nun bedeutsame Schnittpunkte aufzufinden These 7Literaturgeschichte muss im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte gesehen werden die gesellschaftliche Relevanz der Literatur wird deutlich wenn die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt und diese verandert Jauss stellt die gesellschaftsbildende Funktion der Literatur heraus die sich zum Beispiel an moralischen Werten ablesen lasst Das literarische Werk kann den Leser vor moralische Fragen stellen deren Antworten die Gesellschaft ihm schuldig bleibt Fazit Bearbeiten Die spezifische Leistung der Literatur im gesellschaftlichen Dasein ist da zu suchen wo die Literatur nicht in der Funktion der darstellenden Kunst aufgeht Die Kluft zwischen Literatur und Geschichte bzw asthetischer und historischer Erkenntnis wird uberbruckbar wenn die Literaturgeschichte im Gang der literarischen Evolution die gesellschaftsbildende Funktion aufdeckt die der Literatur zukommt Rezeption BearbeitenJauss Text wurde als Ursprungsmanifest 6 und Programmschrift 7 der neuen Schule der Rezeptionsasthetik verstanden Er erreichte eine enorme Verbreitung und fand ein starkes Echo in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Hans Ulrich Gumbrecht bezeichnete ihn 2011 als eine n der grossen Erfolge in der Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften 8 Der amerikanische Komparatist und Germanist Robert C Holub beschrieb diesen Erfolg in der Zeitschrift The German Quarterly 1982 so Seit Hans Robert Jauss Provokation der Literaturwissenschaft 1967 hat beinahe jede kritische Denkschule und beinahe jede Disziplin der Literatur auf seinen Aufruf geantwortet 9 Freilich sei das Echo in der amerikanischen Literaturwissenschaft noch nicht angekommen Ausgaben BearbeitenJauss Hans Robert Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft Konstanzer Universitatsreden Nr 3 Universitatsverlag Konstanz Konstanz 1967 2 Auflage 1969 Jauss Hans Robert Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft In ders Literaturgeschichte als Provokation edition Suhrkamp Nr 418 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970 S 144 207 Kleinere Erganzungen gegenuber der Erstausgabe von 1967 Literatur BearbeitenRichard Murphy Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft In Rolf Gunter Renner Engelbert Habekost Hrsg Lexikon literaturtheoretischer Werke Kroners Taschenausgabe Band 425 Kroner Stuttgart 1995 ISBN 3 520 42501 7 S 220 221 Rainer Warning Hrsg Rezeptionsasthetik Theorie und Praxis Uni Taschenbucher Nr 303 Fink Munchen 1975 ISBN 3 7705 1053 4 Siehe auch BearbeitenDie Appellstruktur der TexteWeblinks BearbeitenH J Jauss Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft Kurzfassung von Jauss Thesen Auf Universitat Freiburg Abgerufen am 10 Marz 2014 PDF auch hier Einzelnachweise Bearbeiten Hans Robert Jauss Vorwort In ders Literaturgeschichte als Provokation edition Suhrkamp Nr 418 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970 S 7 10 Eintrag der 10 Auflage 1992 in der Deutschen Nationalbibliothek Hans Ulrich Gumbrecht Mein Lehrer der Mann von der SS In Die ZEIT 7 April 2011 Ottmar Ette Der Fall Jauss Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie Kadmos Berlin 2016 S 47 Jauss Hans Robert Literaturgeschichte als Provokation edition Suhrkamp Nr 418 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970 S 195 Jauss Hans Robert Literaturgeschichte als Provokation edition Suhrkamp Nr 418 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970 S 197 Hans Ulrich Gumbrecht Mein Lehrer der Mann von der SS In Die ZEIT vom 7 April 2011 Ottmar Ette Der Fall Jauss Kadmos Berlin 2016 S 47 Hans Ulrich Gumbrecht Mein Lehrer der Mann von der SS In Die ZEIT vom 7 April 2011 Robert C Holub Trends in Literary Theory The American Reception of Reception Theory In The German Quarterly Jg 55 1982 Heft 1 S 80 96 hier S 81 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft amp oldid 236499488