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Die Kultivationshypothese auch Kultivierungsthese Kultivierungsanalyse oder selten auch Kultivierungshypothese geht auf die Vielseherforschung des Kommunikationswissenschaftlers George Gerbner zuruck Gerbner untersuchte in den 1970er Jahren die Rolle des Fernsehens bei der Vermittlung des Weltbildes der Rezipienten Seine These Gerade Vielseher also Menschen die mehrere Stunden taglich fernsehen werden durch das Fernsehen kultiviert und sehen die Welt so wie sie im Fernsehen vermittelt wird Das Fernsehen sieht er also als Sozialisation sinstanz die bei den Konsumenten verzerrte Vorstellungen von der Realitat erzeugt Gerbner hat zur Untermauerung der These die gesellschaftliche Realitat die in den Medien vermittelte Realitat und die Publikumsrealitat verglichen Dazu fuhrte er eine Inhaltsanalyse des TV Programms Cultural Indicator Analysis sowie eine Rezipientenbefragung Cultivation Analysis durch Inhaltsverzeichnis 1 Die These 2 Entwicklungsgeschichte 3 Hintergrund 4 Kritik und Weiterentwicklung 5 Literatur 6 Siehe auchDie These BearbeitenDie Kultivierungsthese postuliert dass die Weltsicht vor allem bei Vielsehern von der tatsachlichen Realitat abweicht da diese sich starker der Fernsehwelt aussetzen und diese somit starker verinnerlichen wurden Das Fernsehen stellt in der Tat die Realitat verzerrt dar Es zeigt mehr Gewalt vor allem mehr Totungsdelikte als real geschehen Im Fernsehen geht Gewalt meist von Mannern aus und wird als Mittel zur Konfliktlosung dargestellt Diese Befunde sind ubertragbar auf das wahrgenommene Realitatsbild Vielseher halten die Realitat fur viel gewalttatiger als sie tatsachlich ist Ausserdem haben sie mehr Angst vor Gewalt Diese Angst kann dann unter Umstanden dazu fuhren dass die Gewaltbereitschaft steigt da die Vielseher meinen sie mussten sich in der gewalttatigen Welt verteidigen Als Indikator von Kultivierungseffekten wie beispielsweise die im Vergleich zu den tatsachlichen Gegebenheiten bei realistischer Betrachtung zu hoch eingeschatzten Gefahren und Bedrohungen im Alltag diente so uberwiegend auch die Differenz zwischen Viel und Wenigsehern das so genannte Kultivierungsdifferential Als Begrundung fur die Macht des Fernsehens im Enkulturationsprozess sieht Gerbner zum einen den hohen Stellenwert den das Fernsehen in der westlichen Gesellschaft eingenommen hat indem es durch seine Alltagsprasenz den grossten Teil der Bevolkerung unabhangig von sozialer Schicht oder Alter rund um die Uhr erreicht Zum anderen macht er die Eigenschaften des Mediums selbst dafur verantwortlich indem er den meisten Programmangeboten ein gemeinsames uberwiegend konsonantes System von Werten Normen sowie Deutungs und Verhaltensmustern zubilligt die sie dem Rezipienten vermitteln Entwicklungsgeschichte BearbeitenDie Forschungen zur Kultivierungshypothese begannen bereits 1967 Nachdem in der Offentlichkeit die Besorgnis uber mogliche negative Wirkungen der offensichtlich deutlich brutaler gewordenen Fernsehprogramme entstanden war wurde von der zur US amerikanischen Gesundheitsbehorde gehorenden National Commission on the Causes and Prevention of Violence und dem Surgeon General s Scientific Advisory Committee on Television and Social Behavior eine Reihe sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zu Gewalt in den Medien in Auftrag gegebenen im Zuge derer auch Gerbner und sein Forschungsteam an der Annenberg School of Communication in Pennsylvania finanziert wurden Bekanntheit erlangte die Gruppe zunachst vor allem durch den von ihnen entwickelten Violence Index Durch ihn konnte der Gewaltgehalt von Fernsehprogrammen angeblich quantitativ gemessen und folglich in seiner zeitlichen Entwicklung wie auch im Kontrast zu anderen Fernsehprogrammen verglichen werden Ab 1976 wurden die inhaltsanalytischen Untersuchungen methodisch um Befragungen und die Absicht erganzt auch Aussagen uber die Wirkung des Fernsehens auf die Einstellungen der Rezipienten machen zu konnen 1980 erschien das Violence Profile zum letzten Mal In den folgenden Jahren wurde der Ansatz um das so genannte Mainstreamingkonzept modifiziert und weiterentwickelt in dem die Kultivierungseffekte uber den Gewaltbereich hinaus beispielsweise auf Geschlechter und Altersrollen ausgedehnt wurden Hintergrund BearbeitenFur seine Untersuchungen zur Kultivierungshypothese wahlte Gerbner das zweistufige Verfahren des Cultural Indicators Approach In einem ersten Schritt der Message System Analysis MSA sollte zunachst die Welt des Fernsehens moglichst vollstandig analysiert werden Nachdem sich die Analyse uber viele Jahre auf den Aspekt offener physischer Gewalt beschrankte war das hochgesteckte Ziel die gesamte Komplexitat das heisst alle wesentlichen Merkmale Strukturen Beziehungen und Wechselwirkungen des Stimulus zu erheben In der Kultivierungsanalyse als zweitem Schritt sollte der Einfluss dieser Fernsehwelt auf diejenigen untersucht werden die an ihr teilnehmen also vor allem die Vielseher Die Kultivierungseffekte wurden dann vor allem durch Fragen erhoben die sich auf die in der MSA ermittelte Fernsehwelt bezogen Gab der Befragte eine Antwort im Sinne der Fernsehwelt so wurde daraus der Einfluss der Fernsehkultur auf seine Vorstellungen geschlussfolgert Methodisch liegt also ein an das Paradigma quasi experimenteller Sozialforschung angelehntes Untersuchungsdesign zugrunde wobei dann dem Vergleich der Experimentalgruppe der Vielseher bei Gerbner Menschen mit einer taglichen Fernsehnutzung von 4 Stunden und mehr idealerweise eine Kontrollgruppe mit Nichtsehern gegenubergestellt werden musste Da diese in den Vereinigten Staaten jedoch nur in unzureichendem Ausmasse zur Verfugung stand beschrankte sich Gerbner auf die Untersuchung von Wenigsehern Menschen mit einer Fernsehnutzung von 2 Stunden und weniger Kultivierung meinte dabei ausserdem keine einfache Ursache Wirkungsbeziehung zwischen Medieninhalt und Publikumsansichten sondern bezog sich auf eher langfristige kumulative Konsequenzen die durch die wiederholte Rezeption stabiler Muster in Fernsehbotschaften zustande kommt Ein solcher kontinuierlicher dynamischer Wirkungsprozess leugnet dabei weder die jeweiligen Kontexte der Rezipienten noch intervenierende Faktoren wie etwa interpersonale Kommunikation oder direkte Erfahrung sondern geht davon aus dass solche Faktoren als intervenierende Grossen eine Rolle spielen vgl Gerbner et al 2002 197 Kritik und Weiterentwicklung BearbeitenStiessen auch die theoretischen Annahmen der Kultivierungsanalyse scheinbar kaum auf Widerspruche so sahen sich die formulierten Hypothesen bzw deren empirische Uberprufung teilweise heftiger Kritik ausgesetzt Neben der generellen Problematik einen entsprechenden Nachweis kausaler Globalbeziehungen innerhalb eines derart komplexen Wirkungszusammenhangs in der Realitat zu fuhren lag dies nicht zuletzt an der methodischen Umsetzung und vermeidbaren Defiziten bei der Operationalisierung So wurde zunachst grundsatzlich bezweifelt dass sich die Vielseher hauptsachlich den in den USA untersuchten Fernsehprogrammen aussetzen Ebenfalls strittig bleibt ob die Vielseher und noch viel eher die Wenigseher uberhaupt als homogene Gruppen anzusehen sind vgl Hawkins Pingree 1980 Offenbar ebenso ungepruft blieb Gerbners Gleichsetzung von Nutzungsintensitat und Beeinflussung der Rezipienten nach der die Zeit der Fernsehnutzung zur zentralen unabhangigen Variablen fur die Messung von Kultivierungseffekten wird das heisst Vielseher starker durch das Fernsehen beeinflusst werden als Wenigseher An der Message System Analysis im Besonderen wurde bemangelt dass die zu Grunde liegende Stichprobe der Fernsehbotschaften nicht nach Zufallskriterien sondern uber mehr oder weniger willkurlich zusammengestellte Programmausschnitte zustande kam Auch wurde der plausible Vorwurf laut das Konstrukt Gewalt ware nicht valide und dadurch unzureichend operationalisiert worden Zu guter Letzt wurde bezweifelt dass die Inhaltsanalyse uber die Erfassung einzelner Merkmale hinaus fur die Beschreibung eines so komplexen Konstruktes wie der Fernsehwelt angemessen ist Im Zusammenhang der Kultivierungsanalyse wurde vor allem der Einwand laut dass nicht das Fernsehen sondern andere Einflussgrossen wie etwa Alter oder Geschlecht als intervenierende Variablen den beobachteten Unterschied zwischen Viel und Wenigsehern zu verantworten hatten Auf die wohl grossten Zweifel stiessen jedoch die Verallgemeinerungen von den untersuchten Fernsehprogrammen auf die generelle Struktur von Fernsehinhalten Das Team um Gerbner unterstellte dass diese sich kaum voneinander unterscheiden und auch unterschiedlichen Sendungen schlussendlich dieselbe Symbolik inharent ist Begrundet wurde dies aber fast ausschliesslich durch die Annahme die Programmproduktion wurde stets denselben okonomischen Prinzipien unterliegen Allerdings fuhrten Untersuchungen anderer Ansatze auch zu Ergebnissen die die Annahmen der Kultivierungsanalyse stutzen So geht etwa die Kognitionsforschung davon aus dass Individuen bei der Urteilsbildung tendenziell relativ wenige einfach verfugbare Informationen heranziehen Gleichzeitig wird bei heuristischer nicht systematischer Informationsverarbeitung Komplexitat durch Vereinfachung reduziert Ausserdem werden Schemata die zuletzt recency effect und besonders haufig frequency effect aktiviert wurden leichter erinnert Angewendet auf die Kultivierungsanalyse setzen Vielseher so mitunter Verfugbarkeitsheuristiken ein die ihnen uber die durch das Fernsehen zur Verfugung gestellten typischen Realitatsbilder gelaufiger sind als den Wenigsehern Vielseher greifen in diesem Sinne wohl haufiger auf fernsehbezogene Kognitionen zuruck so dass sie dazu neigen diese wahrgenommenen Aspekte von Realitat bezuglich ihres Vorkommens zu uberschatzen vgl Higgins et al 1985 Winfried Schulz hat 1986 Gerbners Studie zur Kultivierungshypothese auf Deutschland ubertragen Bei seiner Analyse stellte er ebenso wie Gerbner fest dass es eine signifikante Korrelation zwischen TV Konsum sowie Angst und Depression gibt Anders als Gerbner baute Schulz aber mehrere Kontrollvariablen Intelligenz soziales Umfeld Geschlecht Alter u a in seine Untersuchung ein und fuhrte multivariate Analysen durch Diese zeigten keinerlei Korrelationen zwischen TV Konsum und Angst Depressivitat mehr Daraus ist zu folgern dass Angst und Depressivitat nicht oder zumindest nicht allein durch TV Konsum verursacht werden sondern mehrere Ursachen haben Es scheint sogar wahrscheinlich dass nicht das Fernsehen das Realitatsbild der Vielseher beeinflusst sondern umgekehrt Das von Drittfaktoren soziales Umfeld etc gepragte Realitatsbild ist uberhaupt erst der Ausloser fur den hohen Fernsehkonsum der Vielseher z B eskapistische Mediennutzung Es besteht der Verdacht dass es sich bei Gerbners Forschungsergebnissen um Artefakte handelt also um Scheinzusammenhange die allein durch die Auswertung zustande kommen vor allem da die Begriffe Viel und Wenigseher auch von Gerbner nicht stringent verwendet wurden Bei den verschiedenen Erhebungswellen der ursprunglichen Studie wurden die Zeitanforderungen fur Viel bzw Wenigseher unterschiedlich angesetzt Auch wenn es heute begrundeten Zweifel an der Validitat von Gerbners Studie gibt wurden Kultivierungseffekte durch Fernsehkonsum in mittlerweile mehr als 300 Studien nachgewiesen Es gilt heute als gesichert dass Fernsehen zur Sozialisation beitragt Zwar ist es nur ein Sozialisationsfaktor von vielen und auch nicht der wirkungsstarkste jedoch ist er besonders wirksam weil ihm nahezu die gesamte Bevolkerung ausgesetzt ist Dies ist moglicherweise auch der Grund dafur dass die messbaren Unterschiede zwischen Viel Durchschnitts und Wenigsehern eher gering sind Um die Relevanz der Kultivierungshypothese abschliessend beurteilen zu konnen ist jedoch eine Langzeit bzw Langsschnittstudie notig Nach wie vor ist auch unklar ob Vielseher wirklich eine homogene Gruppe sind wie die Theorie unterstellt und ob sie sich tatsachlich den in der Cultural Indicator Analysis untersuchten Programmen aussetzen In neueren Untersuchungen hat Gerbner weitere Aspekte der Kultivierung des Fernsehens untersucht Dass Fernsehen eine Wirkung auf die Einstellungen hat setzt er hier voraus Er entwickelte das so genannte Mainstreaming Konzept demzufolge das Fernsehen Einstellungsunterschiede in der Bevolkerung Vielseher angleicht und zu einer Konvergenz der Standpunkte fuhrt das heisst eine Vielsehergruppe 1 gleicht sich einer anderen Vielsehergruppe 2 an Es geht hier vor allem um Anpassungen von allgemeinen Wertvorstellungen und politischen Meinungen Im Gegensatz dazu bewirkt Resonance dass Medien besonders dann wirken wenn die Rezipienten sich personlich betroffen fuhlen Das heisst bei Betroffenheit der Vielsehergruppe 1 und bei einer Nicht Betroffenheit einer Vielsehergruppe 2 gleichen sich die Meinungen nicht an sie klaffen auseinander Die wissenschaftstheoretisch bedenkliche Folge dieser zwei Konzepte ist dass die Theorie nicht widerlegt werden kann Entweder die Meinungen gleichen sich an Erklarung durch Mainstreaming oder sie gehen auseinander Erklarung durch Resonance Eine Falsifikation im Sinne Poppers ist somit kaum moglich Literatur BearbeitenBonfadelli Heinz Der Einfluss des Fernsehens auf die Konstruktion der sozialen Realitat Befunde aus der Schweiz zur Kultivierungshypothese In Rundfunk und Fernsehen 1983 3 4 S 415 430 Gerbner George Gross Larry Morgan Michael Signorielli Nancy Growing Up with Television The Cultivation Perspective In Michael Morgan Hrsg George Gerbner Against the Mainstream The Selected Works of George Gerbner New York Frankfurt a M Lang 2002 S 193 213 Gerbner George Gross Larry 1976 Living with Television The violence profil In Journal of Communication 26 2 S 173 199 Hawkins Robert Pingree Suzanne Some Processes in the Cultivation Effect In Communication Research Vol 7 No 2 1980 S 193 226 Higgins Tory Bargh John Lombardi Wendy The Nature of Priming Effects on Categorization In Journal of Experimental Psychology Learning Memory and Cognition Vol 11 1985 S 59 69 Meltzer Christine E 2019 Kultivierungsforschung Nomos ISBN 978 3 8487 4839 6 Michael Schenk Medienwirkungsforschung 3 Auflage Mohr Tubingen 2007 ISBN 978 3 16 149240 2 Signorielli Nancy Morgan Michael Hrsg Cultivation Analysis New Directions in Media Effects Research London Sage Publ 1990 Siehe auch BearbeitenGemeine Welt Syndrom Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kultivationshypothese amp oldid 217449156