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In der organischen Chemie bezeichnet der anomere Effekt die Tendenz von Atomen in bestimmten Molekulstrukturen eine gewisse raumliche Position bevorzugt einzunehmen da diese energetisch gunstiger ist Fachlich genau formuliert nimmt ein Heteroatom welches an ein Kohlenstoffatom neben einem Heteroatom im Cyclohexanring substituiert ist bevorzugt die axiale Position gegenuber der sterisch weniger gehinderten aquatorialen Position ein was sterischen Betrachtungen widerspricht Anders ausgedruckt ist bei Vorliegen zweier elektronegativer Substituenten an einem Kohlenstoffatom die synclinale Anordnung zweier Bindungen gegenuber der antiperiplanaren bevorzugt Das Kohlenstoffatom an das die betreffenden Substituenten gebunden sind wird als anomerer Kohlenstoff bezeichnet Im Formelschema ist die Bildung von Molekul 2 mit synclinaler Anordnung der rot markierten Bindungen gegenuber 1 bevorzugt Antiperiplanare 1 und synclinale 2 Bindungssituation in cyclischen Halbacetalen Die entscheidenden Bindungen sind rot markiert Dieser stereoelektronische Effekt tritt auch fur jedes der gezeigten Molekule einzeln auf da sie in ihrer Sesselkonformation invertieren konnen Eine axial stehende Hydroxyfunktion wird damit in eine aquatoriale uberfuhrt und umgekehrt auch hierbei ist diejenige Konformation in der die OH Gruppe axial steht in beiden Fallen bevorzugt Der Begriff anomerer Effekt wurde 1958 von Raymond Lemieux und N J Chu eingefuhrt 1 Inhaltsverzeichnis 1 Tetrahydropyrane 2 Zucker 3 Erklarungsansatze 3 1 Dipol Dipol Wechselwirkungen 3 2 Coulomb Wechselwirkungen 3 3 Mesomerie 3 4 Negative Hyperkonjugation 3 5 Nichtklassische CH X Wasserstoffbruckenbindungen 4 Literatur 5 EinzelnachweiseTetrahydropyrane BearbeitenDer anomere Effekt wurde zuerst in Tetrahydropyranen beobachtet als man feststellte dass elektronegative Substituenten z B Alkoxygruppen oder Halogene in der 2 Position des Tetrahydropyran Rings die axiale Konformation gegenuber der aquatorialen bevorzugen 2 3 nbsp Diese axiale Konformation war unerwartet da sie aufgrund von 1 3 diaxialen Wechselwirkungen verglichen mit der aquatorialen Konformation instabiler sein sollte 4 nbsp Zum Vergleich beobachtet man in substituiertem Cyclohexan eine Bevorzugung der aquatorialen Konformation des Substituenten um 1 3 diaxiale Wechselwirkungen zu vermeiden Hier liegt kein anomerer Effekt vor 4 nbsp Zucker BearbeitenDer anomere Effekt besitzt grosse Bedeutung fur die Konformation und Reaktivitat von Zuckern 5 Der anomere Effekt fuhrt in Zuckern zu einer Stabilisierung des a Anomers 6 obwohl dieses aufgrund der sterisch ungunstigen axialen Stellung der OH Gruppe instabil sein sollte 7 Bei der Synthese von Alkylglucopyranosiden beispielsweise sind die a Anomere ebenfalls stabiler als die b Anomere 8 nbsp Dies wurde zuerst 1905 von C L Jungins entdeckt und 1955 von John T Edward und 1958 von Raymond Lemieux weiter untersucht weshalb der anomere Effekt auch Edward Lemieux Effekt genannt wird 9 Erklarungsansatze BearbeitenEs gibt mehrere Ansatze zur Erklarung des anomeren Effektes Dipol Dipol Wechselwirkungen Coulomb Wechselwirkungen Mesomerie negative Hyperkonjugation sowie nichtklassische Wasserstoffbruckenbindungen Eine Studie aus 2018 zeigt jedoch dass keine der Erklarungen allein den anomeren Effekt prazise genug begrunden kann 1 10 Vielmehr ist der anomere Effekt ein nicht triviales Zusammenspiel von mehreren korrelierten Wechselwirkungen die je nach Substrat unterschiedlich ausgepragt sind Dabei soll die negative Hyperkonjugation eine geringere Rolle spielen als bisher angenommen und intramolekulare Coulomb Wechselwirkungen eine bedeutende Rolle spielen Die negative Hyperkonjugation ist allerdings als Erklarung fur den anomeren Effekt in vielen Lehrbuchern der Organischen Chemie anerkannt 5 6 7 11 ebenso in Lehrbuchern zur Orbitaltheorie 12 13 14 15 Dipol Dipol Wechselwirkungen Bearbeiten John Edward beschrieb 1955 den anomeren Effekt als ein Resultat der Dipol Dipol Abstossung zwischen dem Dipol der C X Gruppierung wobei X ein elektronegativer Rest ist und dem Dipol der C O C Gruppierung 16 17 1 In der aquatorialen Konformation sind die beiden Dipole gleichgerichtet in einer Ebene wodurch der Dipolcharakter der antiperiplanaren Stellung insgesamt hoch ist In synclinaler Position heben sich die Dipole partiell auf was zu einer energetisch niedrigeren und dadurch stabileren Konformation fuhrt nbsp Diese Theorie wurde durch die Beobachtung unterstutzt dass das Ausmass des anomeren Effektes vom Losungsmittel abhangig ist In polaren Losungsmitteln mit grossen Dielektrizitatskonstanten ist das polarere Isomer mit dem elektronegativen Rest X in aquatorialer Position starker stabilisiert als das weniger polarere Isomer bei dem der Rest axial steht Polare Losungsmittel wirken dem anomeren Effekt also entgegen 1 Coulomb Wechselwirkungen Bearbeiten Raymond Lemieux und N J Chu schlugen 1971 vor dass der anomere Effekt ein Ergebnis von Coulomb Abstossung ist Demnach ist die Coulomb Abstossung zwischen dem elektronegativen Rest X und dem Sauerstoffatom im Ring in der axialen Konformation geringer als in der aquatorialen Konformation 1 18 nbsp Mesomerie Bearbeiten 1969 brachten C Romers und C Havinga die Argumentation auf der anomere Effekt wurde zumindest teilweise durch Mesomerie mit No bond Grenzformeln zustande kommen Diese Mesomerie ist nur in der axialen Konformation moglich 19 nbsp Negative Hyperkonjugation Bearbeiten Aus Sicht der Molekulorbitaltheorie kann der anomere Effekt als eine Form von negativer Hyperkonjugation erklart werden 18 Demnach spendet das nicht bindende 2p Orbital des Sauerstoffatoms im Ring nur dann Elektronendichte in das s Orbital der C X Bindung wenn diese antiperiplanar zum 2p Orbital des Sauerstoffes steht Statt des 2p Orbitals konnte man auch ein sp3 hybridisiertes Orbital am Sauerstoffatom als Donor ansehen Aus dieser negativen Hyperkonjugation resultiert ein Energiegewinn Steht der Rest X aquatorial so findet kein Orbitaluberlapp statt und es resultiert kein Energiegewinn 1 nbsp nbsp Diese Theorie wird durch die Beobachtung unterstutzt dass Kristallstruktur Untersuchungen zufolge die C X Bindung bei Verbindungen mit einem anomeren Effekt verlangert ist wahrend die C O Bindung verkurzt ist 1 Nichtklassische CH X Wasserstoffbruckenbindungen Bearbeiten 2009 wiesen O Takahashi K Yamasaki und M Nishio darauf hin dass der anomere Effekt durch eine nichtklassische Wasserstoffbruckenbindung zwischen dem axial standigen elektronegativen Rest X und einem synaxial standigen Wasserstoffatom begrundet werden konnte 20 nbsp Literatur BearbeitenHans Beyer Wolfgang Walter Lehrbuch der organischen Chemie S Hirzel Verlag Stuttgart 19 Auflage ISBN 3 7776 0356 2 P Collins R Ferrier Monosacharides Their Chemistry and their Roles in Natural Products Wiley West Sussex 1995 ISBN 0 471 95343 1 Einzelnachweise Bearbeiten a b c d e f g Kenneth B Wiberg William F Bailey Kyle M Lambert Zachary D Stempel The Anomeric Effect 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Kendall N Houk Robert H Grubbs Organic Chemistry 1 Auflage Wiley VCH ISBN 978 3 527 34532 8 S 141 Saul Wolfe Arvi Rauk Luis M Tel I G Csizmadia A theoretical study of the Edward Lemieux effect the anomeric effect The stereochemical requirements of adjacent electron pairs and polar bonds In Journal of the Chemical Society B Physical Organic Hrsg J Chem SOC B 1971 doi 10 1039 J29710000136 Igor V Alabugin Leah Kuhn Nikolai V Krivoshchapov Patricia Mehaffya Michael G Medvedev Anomeric effect hyperconjugation and electrostatics lessons from complexity in a classic stereoelectronic phenomenon Hrsg Chemical Society Reviews 24 August 2021 doi 10 1039 D1CS00564B Jonathan Clayden Nick Greeves Stuart Warren Organische Chemie 2 Auflage Springer Spektrum 2013 ISBN 978 3 642 34715 3 S 880 Albright Thomas A Burdett Jeremy K Whangbo Myung Hwan Orbital Interactions in Chemistry Hrsg Wiley amp Sons Ltd 2 Auflage Wiley VCH 2013 ISBN 978 0 471 08039 8 S 233 Nguyen Trong Anh Frontier Orbitals A Practical 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