Die abtsche Weiche (auch Abt’sche Weiche) ist eine vom Schweizer Eisenbahnkonstrukteur Carl Roman Abt als „passive Weiche“ erfundene Gleiskonstruktion für Standseilbahnen, die eine selbsttätige Vorbeifahrt der Fahrzeuge an einer Ausweichstelle eingleisiger Strecken ermöglicht. Sie wird zweifach, d. h. sowohl am Anfang als auch am Ende der Ausweichstelle eingebaut. Die Ausweichstelle wird auch abtsche Ausweiche genannt.
Geschichte Bearbeiten
Die ersten abt’sche Ausweiche wurde in die Strecke der 1879 eröffneten Giessbachbahn, die dadurch zur ersten nur eingleisig gebauten Standseilbahn wurde. Für die erstmalige Anwendung der Abt’schen Weichen wurde die Bahn im August 2015 von der American Society of Mechanical Engineers als historisches Denkmal des Maschinenbaus ausgezeichnet. Entsprechende Gedenktafeln befinden sich in der Tal- und der Bergstation.
Die bei der Giessbachbahn ursprünglich angewendete Bauform der Abt’schen Weiche war noch anders als die heute übliche. Die heutige Ausführung wurde erstmals 1886 bei der Standseilbahn Lugano–Bahnhof SBB ausgeführt. Im Winter 1890/1891 wurde die Giessbachbahn auf die heute übliche Bauform umgebaut.
Funktionsprinzip Bearbeiten
Diese Weichen-Konstruktion ohne Weichenzunge und sonstige bewegliche Teile findet an den in der Streckenmitte nötigen Ausweichstellen eingleisiger Standseilbahnen Anwendung, um die Vorbeifahrt entgegenkommender Wagen selbsttätig („automatisch“) zu ermöglichen. Sie kann auch im Bogen liegen und muss nicht zwangsläufig mit einem geraden Strang oder in Form einer symmetrischen Außenbogenweiche gebaut werden. Die Abtsche Weiche ermöglicht auch eine problemlose Führung des Antriebsseils, welches mit schräg gestellten Rollen zwischen den Fahrschienen korrekt in das jeweilige Ausweichgleis geführt wird.
Jeder Radsatz eines Wagens ist mit zwei unterschiedlichen Rädern ausgerüstet. Heute sind das ein Doppelspurkranzrad – ein Rad, das auf beiden Seiten Spurkränze trägt – und ein breites Rad ohne Spurkränze (Walzenrad). Von den beiden Wagen, die gegenläufig auf der eingleisigen Strecke betrieben werden, hat einer die Doppelspurkranzräder auf der rechten und der andere auf der linken Seite. Die Wagen werden auf der gesamten Strecke nur von den Doppelspurkranzrädern geführt.
An der Ausweichstelle führen beide Schienen, die den Backenschienen bei Regelweichen entsprechen, ohne Unterbrechung nach außen und am Ende wieder zusammen, wobei die der jeweiligen Schiene zugehörigen Doppelspurkranzräder mit ihrem jeweiligen Wagen in der Ausweichstelle immer rechts bzw. links laufen. Unabhängig von der Fahrtrichtung fahren die beiden Wagen also immer auf demselben Gleis durch die Ausweichstelle. Das Zugseil jeden Wagens wird mittels schräg gestellter Stützrollen ebenfalls auf die zugehörige Seite abgelenkt. Die Schienen, die den Zungen einer Regelweiche entsprechen, sind unbeweglich; sie beginnen am Weichenanfang mit etwas Abstand zu den durchlaufenden Außenschienen. Dieser Abstand ist für die inneren Spurkränze der Doppelspurkranzräder und bei den meisten Bahnen auch für den Durchgang der Zangenbremsen als Sicherheitsbremsen der Wagen, die den Schienenkopf umgreifen, erforderlich. Eine weitere Lücke wird für die Zugseile vorgesehen. Die breiten Walzenräder überlaufen die Lücken mit kaum spürbare Stößen. Wegen der fehlenden Spurkränze kreuzen sich die Innenschienen ohne die bei Standardweichen erforderlichen Herzstücklücken.
Die bei der Giessbachbahn ursprünglich angewendete Bauform der Abt’schen Weiche und die Laufwerke der dort verkehrenden Wagen unterschieden sich vom heute Üblichen. Die Räder eines der beiden Wagen hatten außenliegende Spurkränze, die des anderen innenliegende. Von den beiden Außenschienen konnte nur eine (die bergwärts linke) lückenlos bleiben. Die Gleisanlage wurde wegen den Lücken in der rechten Schiene und den zusätzlich nötigen Radlenkern komplizierter und wartungsintensiver als die heute verwendete Bauart. Die Innenschienen zweigten mit je zwei Lücken von den Außenschienen ab und hatten zudem an jeder ihrer Kreuzungsstelle je eine weitere Lücke (zusammen vier weitere). Grund dafür war, dass die im Eisenbahnbau üblichen Räder mit einseitigem Spurkranz eingesetzt werden (die mit außenliegenden Spurkranz waren lediglich umgekehrt als üblich eingebaute Räder).
Ausfallsicherheit Bearbeiten
Weil die Abt’sche Weiche keine beweglichen Teile hat, ist sie wartungsarm und relativ ausfallsicher, was bei Bahnen mit ihren zum Teil sehr steilen Strecken einen wichtigen Sicherheitsfaktor darstellt.
Anwendung Bearbeiten
Abtsche Weichen können außer bei Standseilbahnen auch in den Ausweichstellen von Zahnradbergbahnen verwendet werden. Hierbei werden anstatt der Zugseile die Zahnstangen durch die Lücken in den Innenschienen geführt. Diese Bauart erfordert tiefliegende Zahnstangen, deren Zahnköpfe auf der gleichen Höhe wie die Schienenoberkanten liegen. Die Walzenräder laufen ebenso ruhig darüber, als wenn sich Seile in variabler Höhe in den Lücken befinden. Der zusätzliche Vorteil der Sicherheit gegen Zusammenstöße wie bei Standseilbahnen besteht bei derartigen Bahnen aufgrund der unabhängig voneinander verkehrenden Wagen allerdings nicht. Weil die Wagen auch nicht auf eigenen Rädern laufend überführt werden können, ist diese Ausführung selten geblieben. Ein Beispiel ist die Zahnradbahn Principe–Granarolo im italienischen Genua.
Bei Standseilbahnen, auf denen Regelfahrzeuge (mit klassischen Radsätzen mit Spurkränzen auf der Innenseite) befördert werden (Beispiel: Bahnstrecke Triest–Opicina), sind Abtsche Weichen nicht verwendbar.
Sonstiges Bearbeiten
Weil die Wagen in den Endhaltestellen ohne Wenden des Fahrzeugs ihre Fahrtrichtung umkehren, kommt es technisch bedingt in der Ausweichstelle wechselweise zu Links- und Rechtsverkehr. Jeder Wagen passiert die Ausweichstelle immer auf „seiner“ Seite, unabhängig davon, ob er nach oben oder unten fährt.
Literatur Bearbeiten
- R. Abt: Seilbahn Lugano: System Abt. In: Schweizerische Bauzeitung. Band 9, Nr. 6, 1887, S. 38, doi:10.5169/SEALS-14347 (Zeitgenössische Beschreibung der Abtschen Weiche in der heutigen Bauform).
Weblinks Bearbeiten
Einzelnachweise Bearbeiten
- Giessbachbahn funicular named mechanical engineering. ASME, 27. August 2015, abgerufen am 22. Dezember 2019 (englisch).
- Grand Hotel Giessbach (Hrsg.): Giessbach Standseilbahn. S. 6 (giessbach.ch [PDF]).
- 3855.01 Giessbach See Schiffstation – Giessbach Grandhotel. In: standseilbahnen.ch.
- R. Abt: Die Seilbahn am Giessbach. In: Die Eisenbahn. 1879, S. 103–104, doi:10.5169/SEALS-7731.
- R. Abt: Die Seilbahn am Giessbach. 1879, doi:10.5169/SEALS-7733 (Beilage mit Tafel III Oberbau Seilbahn am Giessbach).
- Literatur. Vorstellung Adolf Wild: Die Standseilbahn am Giessbach. In: Eisenbahn Amateur. Nr. 9, 2017, S. 427.