www.wikidata.de-de.nina.az
W oder die Kindheitserinnerung Originaltitel W ou le souvenir d enfance ist ein Prosawerk des franzosischen Schriftstellers Georges Perec Es erschien 1975 in den zum Verlagshaus Gallimard gehorenden Editions Denoel Die deutschen Erstausgaben erschienen 1978 im Verlag Volk und Welt unter dem Titel W oder die Erinnerung an die Kindheit in der Ubersetzung von Thorgerd Schucker sowie 1982 in der Bibliothek Suhrkamp in der Ubersetzung von Eugen Helmle Inhaltsverzeichnis 1 Formaler Aufbau 2 Inhalt 2 1 Fiktion 2 2 Autobiographie 3 Varia 3 1 Die Widmung 3 2 Gaspard Winckler 4 Rezensionen 5 Ausgaben 6 Anmerkungen 7 EinzelnachweiseFormaler Aufbau BearbeitenDas Werk besteht aus zwei Teilen und innerhalb dieser Teile aus alternierenden Kapiteln die zum einen von einer Fiktion erzahlen in diesen Kapiteln ist der Text kursiv gesetzt A 1 zum anderen Erinnerungen Perecs an seine Kindheit wiedergeben Der fiktionale erste Teil erzahlt davon auf welche Weise ein Mann der den Namen Gaspard Winckler angenommen hat den Auftrag erhalt zur zu Feuerland gehorenden Insel W zu fahren Im fiktionalen zweiten Teil wird das Leben auf W beschrieben In den autobiographischen Kapiteln wird die Verlasslichkeit der Erinnerung immer wieder in Frage gestellt in denen des zweiten Teils der erste Teil endet als Perec im Alter von sechs Jahren ist werden eigene Erinnerungen aber immerhin zahlreicher Inhalt BearbeitenFiktion Bearbeiten Ein Deserteur der franzosischen Armee der mit den Identitatspapieren eines Gaspard Winckler ausgestattet ist lebt seit drei Jahren in der deutschen Kleinstadt H 1 als ihn der Brief eines gewissen Otto Apfelstahl erreicht Er wird darin aufgefordert sich am folgenden Tag an der Bar eines ortlichen Hotels einzufinden Trotz zunachst widerstrebender Gefuhle sucht er das Hotel zur angegebenen Zeit auf und mit einiger Verspatung trifft auch Otto Apfelstahl ein der ihm die Identitat jenes wahren Gaspard Winckler offenbart Gaspard Winckler war der Sohn der weltbekannte n osterreichische n Sangerin Cacilia A 2 war taubstumm und von schwachlicher Natur Obwohl kein Nachweis fur die Ursache seiner Taubstummheit erbracht werden konnte nahm man an dass sie ihren Ursprung in einem kindliche n Trauma haben musse Die Mutter beschloss eine Schiffsweltreise mit dem Jungen zu machen Sechs Personen waren an Bord als ihr Schiff vor Feuerland in einem jener plotzlichen dort fast alltaglichen Wirbelsturme unterging Funf Leichen wurden spater gefunden nicht aber die des zu dem Zeitpunkt des Untergangs zehnjahrigen Gaspard Winckler Ohne dass der falsche Gaspard Winckler die Moglichkeit einer Ablehnung oder auch nur einer Erorterung des Sinns der Unternehmung sieht akzeptiert er den Auftrag sich nach Feuerland zu begeben und den wahren Gaspard Winckler aufzuspuren Der erste Teil endet mit den Schriftzeichen Die dreizehn Kapitel des zweiten Teils sind ausschliesslich akribischen Schilderungen des Lebens auf der zu Feuerland gehorenden Insel W gewidmet W ist ein Land in dem der Sport Konig ist eine Nation von Athleten in der Sport und Leben zu einer einzigen grossartigen Anstrengung verschmelzen Der stolze Wahlspruch unter dem alles Leben auf W steht lautet FORTIUS ALTIUS CITIUS starker hoher schneller A 3 Wahrend die ersten Kapitel sich noch weitgehend mit den Sportarten und ihren Regeln den Wettkampfen und ihrer Organisation beschaftigen wird in den spateren Kapiteln das gesellschaftliche Leben auf W geschildert etwa dass die Frauen auf W in Frauenhausern gehalten werden und unter strengster Bewachung stehen um sie vor den Mannern zu schutzen und es rucken diejenigen in den Blick die nicht zu den wenigen Siegern gehoren die Schwachen und die Alten Aber auch von ihnen stellt kaum jemand die auf W geltende Ordnung in Frage Sehr wenige versuchen Selbstmord zu begehen sehr wenige werden wirklich wahnsinnig Einige horen nicht auf zu brullen aber die meisten schweigen hartnackig Mehr und mehr wird deutlich dass es der absolute Schrecken ist der auf W herrscht bis schliesslich die letzten Beschreibungen vollstandig denen der Konzentrationslager der nationalsozialistischen Diktatur gleichen Autobiographie Bearbeiten Ich wurde am Samstag dem 7 Marz 1936 gegen neun Uhr abends in einem in der Rue de l Atlas im 19 Arrondissement von Paris gelegenen Entbindungsheim geboren Ich habe keine Kindheitserinnerungen beginnt das erste der autobiographischen Kapitel denn eine andere Geschichte die Grosse hatte an meiner Stelle die Antwort gegeben der Krieg die Lager Im darauf Folgenden kann Perec sich dann doch einzelne Erinnerungen wachrufen oder manches aus Photographien aus Mitteilungen von Verwandten und Freunden rekonstruieren Aber immer bleiben Zweifel ob das was er gerade aufschreibt einmal wirkliches Geschehen war Wiederholte Male formuliert er vorsichtig mir scheint dass oder ahnlich relativierend Im Zentrum der ersten autobiographischen Kapitel stehen Georges Perecs wenige Erinnerungen an seinen Vater und seine Mutter Icek Peretz A 4 starb 1940 an den Verletzungen die er als Soldat der franzosischen Armee erlitten hatte Cyrla Peretz geborene Szulewicz wurde Anfang 1943 bei einer Razzia verhaftet ins Sammellager Drancy eingeliefert und kurze Zeit spater nach Auschwitz deportiert 2 Das Wenige das Perec uber seine Eltern wusste hat er in zwei kurzen Texten beschrieben die zum Zeitpunkt seiner Arbeit an W oder die Kindheitserinnerung selbst schon wieder funfzehn Jahre alt waren Im Buch erganzt er diese alteren Texte um Berichtigungen und Kommentare die seine zwischenzeitlich hinzugewonnenen Kenntnisse dokumentieren Eigene Erinnerung an seine Mutter hat Perec so schreibt er eine einzige sie stammt aus dem Jahr 1942 es ist die vom Tag an dem sie mich zur Gare de Lyon begleitete von wo aus ich mit einem Sammeltransport des Roten Kreuzes nach Villard de Lans fuhr Von Perecs Aufenthalt in Villard de Lans gelegen in der zunachst noch freien Zone Frankreichs wohin inzwischen einige Verwandte der vaterlichen Seite der Familie gefluchtet waren handeln die autobiographischen Kapitel im zweiten Teil des Buches Perec besuchte dort verschiedene Internate Einleitend dazu heisst es Von jetzt an sind die Erinnerungen zwar vorhanden fluchtig oder hartnackig belanglos oder druckend aber nichts fugt sie zusammen Dass es von nun an eine Kindheit auch ohne die Mutter ist spricht Perec selten aus In Wahrheit war man immer ein wenig uberrascht dass es Tanten gab und Kusinen und eine Grossmutter Dass es anders hatte sein konnen kennt das sieben oder achtjahrige Kind nur aus Lesebuchern Ich hatte meiner Mutter gern geholfen nach dem Abendessen den Kuchentisch abzuraumen So hat sich das in meinen Lesebuchern abgespielt Mehr und mehr gibt es dann Erinnerungen die mit der anderen Geschichte der Grossen zu tun haben Einmal kamen die Deutschen ins College einmal bei einem Ausflug in die Berge uberbringen die Kinder des Internats Widerstandskampfern ihre Brotbeutel Aber auch erste Leseerinnerungen Schliesslich die Befreiung ich habe kein Bild davon zuruckbehalten von den kriegerischen Ereignissen nicht und nicht einmal von den Begeisterungssturmen Mit der Ruckkehr nach Paris wo der inzwischen neunjahrige Georges Perec von seiner Tante Esther und seinem Onkel David aufgenommen und bald adoptiert wird enden die autobiographischen Aufzeichnungen Im letzten Kapitel zitiert Perec eine langere Passage aus David Roussets Buch L Univers concentrationnaire Roussets Beschreibung des Sports in den realen Straflagern gleicht in Kurzform der Wahnvorstellung die Perec zuerst mit zwolf Jahren aufgezeichnet hatte A 5 und 1969 1970 in der veroffentlichten Fassung niederschrieb Er schreibt 1974 abschliessend er habe die Grunde vergessen weshalb er W auf Feuerland angesiedelt habe und fugt dann hinzu Pinochets Faschisten haben es auf sich genommen meiner Wahnvorstellung einen letzten Nachhall zu verleihen mehrere Inseln des Feuerlands sind heute Zwangslager Varia BearbeitenDie Widmung Bearbeiten Dem Buch vorangestellt ist die Widmung Fur E Interpretationen haben diese Widmung in Zusammenhang gebracht mit Perecs 1969 erschienenem Roman La disparation Anton Voyls Fortgang dessen Text vollkommen ohne den Buchstaben e geschrieben ist Die Aussparung des Buchstabens e im Roman kann mit Perecs Biographie in Verbindung gebracht werden schreiben zum Beispiel Heiner Boehncke und Bernd Kuhne 3 Die Abwesenheit dieses Buchstabens und die ins Leere gehende Suche im Roman steht dann fur die Abwesenheit der Eltern in der Biographie des Autors Die Widmung Fur E kehre dies nun um denen deren Abwesenheit in La disparition symbolisiert worden sei sei W oder die Kindheitserinnerung mithin gewidmet Gaspard Winckler Bearbeiten Neben W oder die Kindheitserinnerung gab Perec auch Figuren in zwei weiteren Werken den Namen Gaspard Winckler Im posthum veroffentlichten Roman Le Condottiere Der Condottiere ist es der Name des Protagonisten und auch in La Vie mode d emploi Das Leben Gebrauchsanweisung ist es der Name einer Hauptfigur Rezensionen BearbeitenAuszuge aus zwei Rezensionen die 2012 anlasslich der Neuauflage des Werks in der Ubersetzung von Eugen Helmle erschienen Die Kindheitserinnerungen sind das verklausulierte Dokument einer judischen Biographie im zwanzigsten Jahrhundert und beruhren den Leser gerade aufgrund ihrer strukturellen Prekaritat Ich weiss dass das was ich sage leer ist farblos ist ein fur alle Mal das Zeichen einer Vernichtung die ein fur alle Mal ist schreibt Perec Und dennoch ist es alternativlos denn das Schreiben ist die Erinnerung an ihren Tod und die Bejahung meines Lebens Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21 August 2012 4 Gegenstand von W oder die Kindheitserinnerung sind nicht von der Familie verburgte Erinnerungen Federfuhrend ist ein traumatisiertes Bewusstsein das von den Furien des Verschwindens der Zerstorung Verlorenheit und Gewalt gejagt wird In immer neuen Anlaufen loscht und uberschreibt Perec die Bruchstucke die er zutage fordert und legt von Uberblendung zu Uberblendung Spuren zu dem was fehlt eine Kindheit Die Leerstelle im Zentrum verwandelt das Erzahlte in ein sprechendes Fehlen seiner Familiengenealogie Die einzige seiner Erinnerungen die er beglaubigen kann ist die Geschichte des Inselstaates W ein Werk des Dreizehnjahrigen In der langsamen Verwandlung des Sportparadieses in ein Konzentrationslager spiegelt der Erzahler die Zeitverhaltnisse seiner Kindheit Sibylle Cramer Suddeutsche Zeitung vom 27 August 2012 5 Ausgaben BearbeitenW ou le souvenir d enfance Erstausgabe Editions Denoel Paris 1975 W oder die Erinnerung an die Kindheit Erstausgabe DDR Ubersetzung Thorgerd Schucker Verlag Volk und Welt Berlin 1978 W oder die Kindheitserinnerung Erstausgabe BRD Ubersetzung Eugen Helmle Bibliothek Suhrkamp Frankfurt am Main 1982 W oder die Kindheitserinnerung Neuauflage der Ubersetzung von Eugen Helmle Diaphanes Zurich 2012 ISBN 978 3 03734 225 1 Anmerkungen Bearbeiten Diesen Teil nur W betitelt veroffentlichte Perec bereits einige Jahre vor der Buchveroffentlichung von September 1969 bis August 1970 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift La Quinzaine litteraire Cacilia sehr ahnlich dem Rufnamen von Perecs Mutter Im autobiographischen Kapitel VIII schreibt er Cyrla Schulevitz meine Mutter uber die ich bei den seltenen Gelegenheiten wo ich von ihr reden horte erfuhr dass man sie gewohnlich Cecile nannte wurde am 20 August 1913 in Warschau geboren Bis auf die geanderte Reihenfolge ist der Wahlspruch also identisch mit dem Motto der Olympischen Spiele Citius altius fortius Die unterschiedliche Schreibweise des Familiennamens Perec Peretz und auch fur den Familiennamen der Mutter Szulewicz Schulevitz folgt jeweils der im Werk Georges Perec geht ausfuhrlich auf die unterschiedliche Schreibweise in einer Fussnote in Kapitel VIII ein Am Anfang des Buches im ersten autobiographischen Kapitel schreibt Perec Mit dreizehn Jahren erfand erzahlte und zeichnete ich eine Geschichte Spater vergass ich sie Vor sieben Jahren erinnerte ich mich ganz plotzlich dass diese Gesichte W hiess Mit zwolf Jahren mit dreizehn Jahren es war darauf hat Perec in einem Brief an Maurice Nadeau hingewiesen die Zeit als er sich bei Francoise Dolto in Psychotherapie befand Denis Cosnard Le Paris de Georges Perec La ville mode d emploi Parigramme Paris 2022 ISBN 978 2 37395 172 1 S 39 Einzelnachweise Bearbeiten Alle wortlichen Zitate sind wenn nicht im Einzelnen anders angegeben der 2012er Ausgabe des Buches im Verlag Diaphanes s Ausgaben entnommen Der von Serge Klarsfeld herausgegebene Memorial de la deportation des Juifs de France verzeichnet fur den Konvoi am 11 Februar 1943 von Drancy nach Auschwitz unter ungefahr eintausend Namen auch die von Cyrla Perec Georges Perecs Mutter Aaron Szulewicz Cyrla Perecs Vater und Fanny Szulewicz Cyrla Perecs jungere Schwester Heiner Boehncke und Bernd Kuhne Anstiftung zur Poesie Oulipo Theorie und Praxis fur potentielle Literatur Manholt Verlag Bremen 1993 Katharina Teutsch Reisen eines Weltfluchtigen in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21 August 2012 online verfugbar bei buecher de abgerufen am 20 Februar 2023 Sibylle Cramer Die Leere in Suddeutsche Zeitung vom 27 August 2012 online verfugbar bei buecher de abgerufen am 20 Februar 2023 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title W oder die Kindheitserinnerung amp oldid 231226809