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Die Kurzgeschichte Wo ich wohne von Ilse Aichinger aus dem Jahre 1963 veroffentlicht in der gleichnamigen Prosa Anthologie handelt vom albtraumartigen Einbruch des Aussergewohnlichen in den Alltag des Einzelnen dem dieser sich hilflos ausgesetzt fuhlt Dabei bleibt unklar ob das Erzahlte als reales Geschehen intendiert ist oder als rein subjektiver Erlebnisinhalt Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Formale Merkmale 3 Zur Interpretation 4 Literatur 5 Einzelnachweise 6 WeblinksInhalt BearbeitenZeitlich ordnet sich der Text in die Nachkriegsliteratur ein der Lift ist seit dem Krieg nicht in Betrieb Erzahlt wird die Geschichte von einem anonymen Ich dessen Geschlecht unklar bleibt Dieser Erzahler ist damit konfrontiert dass seine komplette Wohnung aus dem vierten Stock sukzessive bis in den Keller verlagert wird wobei allerdings in einer Art Zeitraffung erzahlerisch mehrere Zwischenstufen ubersprungen werden so dass das Geschehen durch den den Text gliedernden Parallelismus lakonisch zusammengefasst wird Ich wohne seit gestern einen Stock tiefer Ich wohne jetzt im Keller Mit dem resignativen Schlusssatz Jetzt ist es zu spat bestatigt das Ich die Unausweichlichkeit des befremdenden Geschehens ein Topos in der Literaturwissenschaft noch der 60er Jahre und die eigene Handlungsunfahigkeit Der Erzahler fugt sich in sein Schicksal und sieht sich antizipierend bald schon unterirdisch im Kanal Ausser der Handlungsunfahigkeit Ich wollte dann die Stiegen hinaufgehen um mich zu uberzeugen wer nun neben den Leuten wohnte die bisher neben mir gewohnt hatten fuhlte mich aber plotzlich so schwach dass ich zu Bett gehen musste und dem Sich ausgeliefert Fuhlen ist noch die soziale Beziehungslosigkeit ein Charakteristikum der Situation des Ich Deswegen findet eine Klarung resp Aufklarung der Vorgange nicht statt Potentielle Zeugen fur die Authentizitat des Geschehens werden zwar genannt ein Student der zur Untermiete bei dem Erzahler wohnt Er hat keine Ahnung von dem was geschehen ist die Aufraumefrau der Hausbesorger die Kohlenmanner aber sie kommen nicht zu Wort und ihr Handeln ist unauffallig so als sei nichts geschehen Sie grussen den Erzahler zwar freundlich wenn sie diesem zufallig begegnen scheinen aber die dem Erzahler merkwurdigen Umstande normal zu finden Den Leser irritiert das Er muss sich fragen ob der Erzahler verruckt ist oder ob die anderen Leute verruckt sind 1 Wenn das Geschehen real ist sollten sich doch die Leute daruber verwundern Wenn sie das aber zumindest vordergrundig nicht tun liegt das entweder daran dass sie nichts merken oder dass es ihnen gleichgultig ist was mit dem Mitmenschen und letztlich auch mit ihnen selbst geschieht Formale Merkmale BearbeitenDer offene Anfang und der offene Schluss sowie das Thema Einbruch des Unerwarteten in den Alltag zeichnen diesen Text als Kurzgeschichte aus Haufige z T leitmotivartige Wiederholungen und Verdoppelungen Anapher Gemination Parallelismus Reduplikation sowie der Aufbau in zwei durch gemeinsame Motive miteinander verbundene symmetrisch gestaltete Teile 2 haben offenbar die Aufgabe das Erleben festzuhalten und der Irritation Haltgebendes entgegenzusetzen In der haufigen Verwendung des Konjunktivs II als Irrealis Ausdruck einer Vermutung oder eines unerfullbaren Wunsches materialisiert sich die Fragwurdigkeit des Wirklichkeitsgehaltes des Erlebten und die Unsicherheit des Erzahlers uber das gegenwartige und kunftige Geschehen Hohepunkt der linear aufgebauten Erzahlung ist zugleich der Tiefpunkt in der Vertikaltopik Das Individuum verschwindet unaufhaltsam in der Versenkung namlich im Keller und rechnet nicht mehr mit einer Rettung Andere Gegensatzpaare die dieser Vertikaltopik oben versus unten analog konstruiert sind Konstanz versus Veranderung Wohnungsinhalt unverandert versus Wohnung auf anderer Ebene ganz beruhigt versus Unruhe Verunsicherung Katastrophe Das Aussergewohnliche des Geschehens kontrastiert mit einer nuchternen Alltagssprache 2 die durch einen Nominalstil in der Wortwahl einen parataktischen Satzbau ja durch ein Pathos der Nuchternheit und Emotionslosigkeit gekennzeichnet ist Zur Interpretation BearbeitenIm Handbuch zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur heisst es zu Aichingers Prosa Die erzahlte Wirklichkeit ist reduziert auf Situationen und Vorgange die existentielle Wahrheiten enthalten 3 Welche sind nun diese Wahrheiten wofur steht nun diese Parabel Ein moglicher Ansatz ware dieser Ein einsames Individuum sieht sich hilflos einem merkwurdigen Geschehen ausgeliefert hilflos weil es nicht versteht und keine Kommunikationsmoglichkeit zum Erkenntniserwerb sieht aber auch hilflos weil es das Geschehen als unveranderlich erlebt Dies ist die Erfahrung des anonymen Individuums in der modernen Massengesellschaft die durch zunehmend fehlende Bindungen und entgleitende Sinnbezuge gekennzeichnet ist Die Erzahlung wirft insofern ein Schlaglicht auf die Kehrseite des Wirtschaftswunders Dieses kritische Potential der Literatur der fruhen Bundesrepublik wird von der Literaturwissenschaft allerdings nicht nur positiv aufgenommen Wahrend die Wirtschaft der Bundesrepublik auf Hochtouren lauft die alten politischen und okonomischen Eliten die Geschafte der jungen Demokratie besorgen es scheinbar ohne Ende aufwarts geht geniessen die schongeistigen Intellektuellen die Chimare einer angeblich undurchschaubaren und sinnlosen ausseren Welt versenken sich in die Metaphorik des dunkel Verratselten Ausweglosen Absurden 4 Das Individuum verschwindet namenlos geschlechtslos defatistisch und beinahe spurlos Die Parabel ware damit auch eine Klage uber die Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen und uber ihre Entfremdung voneinander 2 und von dem sie umgebenden objektiven Geschehen Mehr noch als das kuriose Geschehen irritiert den Leser die vollige Passivitat des Protagonisten Implizit konnte das als Appell an Eigenverantwortung gedeutet werden Der Mensch soll sein Schicksal in die eigene Hand nehmen Wirklich spurlos verschwindet das Ich allerdings nicht Immerhin hinterlasst es eine Erzahlung Es werden auch Bucherregale erwahnt Literatur thematisiert sich hier in einer autoreflexiven Wendung selbst Sie dient offenbar der Kompensation auch als kollektives Gedachtnis wo der Einzelne im Geschichtslosen verschwindet Sinnstiftung erfolgt somit im ideellen Uberbau wo Sinn auf der materiellen Basis nicht mehr ausgemacht werden kann Inwiefern nun Literaturproduktion und konsumption eher einem Eskapismus vergleichbar dem samstaglichen Konzertbesuch des Erzahlers oder eher der Uberwindung von Entfremdung und der Herstellung von Autonomie dient darauf gibt die Erzahlung keine eindeutige Antwort aber sie wirft die Frage auf Literatur BearbeitenIlse Aichinger Wo ich wohne Erzahlungen Gedichte Dialoge Frankfurt am Main 1963 Jan Berg Hartmut Bohme Walter Fahnders e a Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart Frankfurt am Main 1981 Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945 begrundet von Hermann Kunisch hg v Dietz Rudiger Moser unter Mitwirkung von Petra Ernst Thomas Kraft und Heidi Zimmer nymphenburger in der F A Herbig Verlagsbuchhandlung Munchen 1990 Internationale Klassifikation psychischer Storungen ICD 10 Kapitel V F Ubers u hg v H Dilling e a 2 korr Aufl Bern usw 1993Einzelnachweise Bearbeiten In dem Lehrerhandbuch zu dem Lesebuch Unterwegs fur die 9 Klasse wird von einer depressiven Personlichkeit gesprochen So fragwurdig es uberhaupt ist psychiatrische Diagnosen auf literarische Figuren anzuwenden so konnte man allenfalls von einer psychosenahen Storung sprechen Die schizoide Personlichkeitsstorung ist laut Internationaler Klassifikation psychischer Storungen ICD 10 durch Merkmale wie sie der Ich Erzahler zeigt definiert z B die Tatenlosigkeit emotionale Kuhle Affektverflachung Vorliebe fur einzelgangerische Beschaftigungen ubermassige Inanspruchnahme durch Phantasie und Introspektion S 228 a b c Boussart S 13 Berg e a Sozialgeschichte S 606Weblinks BearbeitenInterpretation von Monique Boussart Memento vom 14 Dezember 2010 im Internet Archive Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Wo ich wohne amp oldid 241758430