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Unter Multimedikation Polymedikation Polypharmazie oder Polypharmakotherapie wird die gleichzeitige Anwendung bzw Verordnung verschiedener Arzneimittel gegen mehrere Erkrankungen verstanden Dabei wird unter Multimedikation der gleichzeitige Gebrauch mehrerer Arzneimittel bzw die gleichzeitige und kontinuierliche Gabe von funf oder mehr Wirkstoffen verstanden wobei dies aber nicht einheitlich definiert ist Nach einer systematischen Ubersicht der wissenschaftlichen Literatur wurden in den 110 ausgewerteten Publikationen nicht weniger als 138 Definitionen fur Polypharmazie gefunden 1 2017 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO Polypharmazie als den gleichzeitigen und regelmassigen Gebrauch von vier oder mehr rezeptfreien rezeptpflichtigen oder traditionellen Arzneimitteln definiert 2 Inhaltsverzeichnis 1 Haufigkeit 2 Probleme 3 Geschichte 4 Siehe auch 5 EinzelnachweiseHaufigkeit BearbeitenMultimedikation ist ein sehr haufiges Phanomen dem aber erst in jungster Zeit vermehrt Beachtung geschenkt wird Wenn auch die Multimedikation in hoherem Lebensalter 3 4 5 bedingt durch die oft vorliegende Ko bzw Multimorbiditat 6 besonders oft beobachtet werden kann liegt eine problematische Multimedikation haufig auch bei psychiatrischen Krankheitsbildern 7 und auch schon bei Kindern und Jugendlichen vor 8 Die Haufigkeit von Multimedikation nimmt weltweit zu selbst in den Schwellen und Entwicklungslandern 9 Dies liegt einerseits an der steigenden Lebenserwartung und andererseits an der steigenden Anzahl von Menschen die Zugang zu Arzneimitteln haben In den Industrielandern liegt die Pravalenz von Multimedikation zwischen 25 und 80 je nach verwendeter Definition untersuchter Region und Gesundheitsbereich Nach einer bevolkerungsbasierten Erhebung aus den Jahren 2008 2011 betrug die Rate an Multimedikation Definition 5 Medikamente in Deutschland bei erwachsenen Frauen 13 6 und bei Mannern 9 9 71 8 der eingenommenen Praparate wurden vom Arzt verordnet 27 7 kamen uber den Weg der Selbstmedikation 10 Eine besondere Problemgruppe stellen dabei altere Menschen in Pflegeheimen dar Nach einer Querschnittserhebung an osterreichischen Pflegeeinrichtungen aus dem Jahr 2013 betrug die durchschnittlich eingenommene Arzneimittelanzahl bei den Bewohnern 9 Arzneimittel wobei sich bei 72 4 mindestens ein potentiell inadaquates Arzneimittel PIM fand 11 In einer 2021 publizierten Studie wurde anhand von 328 Probanden im Alter von 60 Jahren oder alter der Zusammenhang der Anzahl verwendeter Medikamente mit Ernahrungsmustern untersucht Eine vegane Ernahrung war dabei mit der Einnahme von 58 weniger Praparaten assoziiert als bei Teilnehmern die einer omnivoren Ernahrung folgten Ein weiterer statistisch signifikanter Faktor war der BMI 12 Probleme BearbeitenMultimedikation ist mit einer Vielzahl von arzneimittelbezogenen Problemen assoziiert Hierunter zahlen unerwunschte Ereignisse wie Sturze oder Blutungen vermeidbare Untersuchungen und Behandlungen Adharenzprobleme ungeplante Krankenhausaufnahmen und Todesfalle Dabei scheint eine lineare Beziehung zwischen der Anzahl der eingenommenen Medikamente und der Haufigkeit von arzneimittelbezogenen Problemen zu bestehen 13 Paradoxerweise geht Multimedikation auch haufig mit einer Unterbehandlung engl Undertreatment einher also dem Vorenthalten wichtiger Therapien Obwohl heute zahlreiche Werkzeuge zur Optimierung der Pharmakotherapie mit dem Ziel einer Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit zur Verfugung stehen gelingt es trotzdem meist nicht bei multimorbiden Patienten nicht mehr erforderliche Medikamente abzusetzen Eine systematische Ubersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 die 25 Studien mit teilweise sehr komplexen Interventionen bei Multimedikation einschloss kam zu dem Ergebnis dass trotz einem strukturierten Vorgehens meist nur eine minimale Reduzierung der verordneten Zahl an Medikamenten erreicht werden kann von durchschnittlich 7 4 auf 7 2 Dauerverordnungen Daruber hinaus war kein messbarer Effekt auf klinisch relevante Endpunkte wie Krankenhausaufnahmen oder Letalitat nachweisbar 14 Mogliche Grunde fur dieses enttauschende Ergebnis konnten sein dass die Interventionen uberwiegend zeitlich begrenzt erfolgten z B im Rahmen einer Krankenhausbehandlung oft allein nach Aktenlage und durch Spezialisten klinische Pharmazeuten Geriater Internisten erfolgten denen die Patienten und ihre Lebensumstande zu unbekannt waren Weitere Erklarungen konnten sein dass die Patienten zu wenig informiert und an den ergriffenen Massnahmen zu wenig beteiligt wurden Der Arzneimittelbrief bemangelt dass in keiner der Studien zur Reduktion von Multimedikation Scheininterventionen erfolgten Dieser Aspekt sei besonders wichtig da bei jeder Veranderung der Medikation mit unerwunschten Reaktionen zu rechnen sei beispielsweise durch pharmakologisch begrundete Entzugssymptomen und oder eine psychologische Verunsicherung des Patienten Ein Absetzen von Arzneimitteln konne bei Patienten oder ihren Angehorigen Befurchtungen auslosen als hoffnungsloser Fall oder aus okonomischen Grunden aufgegeben zu werden 15 Arzte und Patienten tun sich also offensichtlich schwer mit dem Absetzen von Medikamenten selbst wenn genugend Evidenz fur einen Nutzen vorliegt Dies gilt nachweislich fur Antihypertensiva und Antidiabetika aber auch fur Protonenpumpenhemmer oder viele Psychopharmaka Bei vielen Arzneimitteln kommt noch als zusatzliches Hindernis hinzu dass das Absetzen schwierig sein kann z B wegen Entzugssymptomen und ein uberwachtes Ausschleichen erfordert Daher werden zunehmend spezielle Deprescribing Leitlinien entwickelt 16 Auch die Autoren von medizinischen Leitlinien sind in der Pflicht Diese sollten nicht nur Empfehlungen zur Intensivierung sondern auch zur Deintensivierung von medizinischen Massnahmen abgeben 15 Prinzipiell ist eine vertrauensvolle Kooperation zwischen Patienten und den behandelnden Arzten unabdingbar um mogliche Probleme durch Multimedikation zu vermeiden Die Hausarztpraxis ist dabei wahrscheinlich die Schlusselstelle fur das Medikationsmanagement Hausarzte verordnen gt 85 der rezeptpflichtigen Arzneimittel 13 und haben den engsten und kontinuierlichsten Kontakt zu den Patienten Allerdings gibt es fur Hausarzte eine Vielzahl von Unsicherheiten So erfolgt die Erstverordnung von Medikamenten oft ohne Rucksprache mit ihnen und durch nicht hausarztlich tatige Facharzte und Krankenhausarzte Das Absetzen einer solchen Anordnung durch den Hausarzt kann zu einer Vertrauenskrise mit den Patienten oder dessen Angehorigen fuhren Zudem bestehen oft rechtliche Unsicherheiten die dem Absetzen einer Facharztverordnung im Wege stehen konnen Die Optimierung der Verschreibungspraxis im Bereich Polypharmazie ist einer der Aspekte innerhalb der Umsetzung der UN Nachhaltigkeitsziele um neben der Gesundheitsforderung auch den Arzneimittelbedarf und damit den Umwelteintrag zu reduzieren 17 auch vor dem Hintergrund der mit der zunehmenden Alterung der Bevolkerung wahrscheinlich zu erwartenden Steigerung des Arzneimittelverbrauchs 18 Geschichte BearbeitenDer Begriff Polypharmacy taucht in der englischsprachigen Fachliteratur erstmals etwa Mitte der 1950er Jahre auf Man verstand hierunter seitenlange arztliche Rezepturen mit komplexen Wirkstoff Mixturen unter Verwendung von Korrektiven Adjuvantien und Vehikeln 19 William Osler verwendete den Begriff auch schon im fruhen 20 Jahrhundert So schrieb er Der Kampf gegen die Polypharmazie oder den Gebrauch einer grossen Anzahl von Arzneimitteln von denen wir wenig wissen aber die wir in Korpern einsetzen ohne zu verstehen wie sie funktionieren ist noch nicht zu Ende gefuhrt worden 20 21 Siehe auch BearbeitenPolypragmasieEinzelnachweise Bearbeiten N Masnoon S Shakib L Kalisch Ellett G Caughey What is polypharmacy a systematic review of definitions In BMC Geriatr Band 17 2017 S 230 239 PMID 29017448 World Health Organization WHO Medication without Harm PDF WHO 2017 abgerufen am 11 April 2018 englisch H Kersten S Ruths T B Wyller Pharmacotherapy in nursing homes In Tidsskr Nor Laegeforen Band 129 Nr 17 10 Sep 2009 S 1732 1735 PMID 19756052 K Johnell J Fastbom Multi dose drug dispensing and inappropriate drug use A nationwide register based study of over 700 000 elderly In Scand J Prim Health Care Band 26 Nr 2 2008 S 86 91 PMID 18570006 N Siegmund Schultze Polypharmakotherapie im Alter Weniger Medikamente ist oft mehr In Deutsches Arzteblatt Band 109 2012 S 418 420 H D Basler S Hesselbart G Kaluza M Schuler W Sohn Th Nikolaus Komorbiditat Multimedikation und Befinden bei alteren Patienten mit chronischen Schmerzen In Der Schmerz Vol 17 Nr 4 August 2003 S 252 260 doi 10 1007 s00482 003 0231 0 B Zhu H Ascher Svanum D E Faries C U Correll J M Kane Cost of antipsychotic polypharmacy in the treatment of schizophrenia In BMC Psychiatry Band 8 4 Apr 2008 S 19 PMID 18394168 Y Du H Knopf Self medication among children and adolescents in Germany results of the National Health Survey for Children and Adolescents KiGGS In Br J Clin Pharmacol Band 68 Nr 4 Oktober 2009 S 599 608 PMID 19843063 G D Athoiop M Y Tadele A A Bontu Polypharmacy and the contributing factors among elderly patients in shashemene referral hospital West Arsi Oromia region Ethiopia In J Bioanal Biomed Band 9 Nr 6 2017 S 277 282 englisch omicsonline org abgerufen am 5 April 2018 H Knopf D Grams Arzneimittelanwendung von Erwachsenen in Deutschland Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland DEGS1 In Bundesgesundheitsblatt Band 56 2013 S 868 877 PMID 23703508 R Alzner U Bauer S Pitzer M M Schreier J Osterbrink B Iglseder Polypharmacy potentially inappropriate medication and cognitive status in austrian nursing home residents results from the OSiA study In Wien Med Wochenschr Band 166 Nr 5 6 2016 S 161 165 PMID 26847440 Hildemar Dos Santos Josileide Gaio Aleksandra Durisic W Lawrence Beeson Alaa Alabadi The Polypharma Study Association Between Diet and Amount of Prescription Drugs Among Seniors In American Journal of Lifestyle Medicine 20 Oktober 2021 ISSN 1559 8276 S 15598276211048812 doi 10 1177 15598276211048812 a b D Mosshammer H Haumann K Morike S Joos Polypharmacy an upward trend with unpredictable effects In Dtsch Arztebl Int Band 113 Nr 38 2016 S 627 633 PMID 27743469 T Johansson M E Abuzahra S Keller E Mann B Faller C Sommerauer J Hock C Loffler A Kochling J Schuler M Flamm A Sonnichsen Impact of strategies to reduce polypharmacy on clinically relevant endpoints a systematic review and meta analysis In Br J Clin Pharmacol Band 82 Nr 2 2016 S 532 548 PMID 27059768 a b Multimedikation Warum ist eine Reduzierung von Medikamenten haufig so schwierig In Der Arzneimittelbrief W D Ludwig J Schuler 2018 abgerufen am 5 April 2018 Deprescribing Network Bruyere Research Institute Deprescribing Guidelines Abgerufen am 5 April 2018 englisch T Hillenbrand et al Verbesserung der Wasserqualitat durch verringerte Eintrage von Spurenstoffen In W L Filho Hrsg Aktuelle Ansatze zur Umsetzung der UN Nachhaltigkeitsziele Springer Verlag 2019 S 306 eingeschrankte Vorschau in der Google Buchsuche Arzneimittel in der Umwelt Umweltbundesamt 11 Oktober 2019 W B Bean Vitamania polypharmacy and witchcraft In JAMA Arch Intern Med Band 96 1955 S 137 141 PMID 14397872 College of Physicians American Society of Internal Medicine The Quotable Osler Hrsg Mark E Silverman T J Murray Charles S Bryan ACP Press 2008 ISBN 1 934465 72 0 William Osler Aequanimitas Ravenio Books 1944 google de abgerufen am 23 Dezember 2022 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Multimedikation amp oldid 238639296