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Kritik und Selbstkritik russisch Kritika i samokritika ist die kommunikative Praxis von Angehorigen kommunistischer Parteien und Organisationen im 20 Jahrhundert sich gegenseitig wie auch selbst zu kritisieren Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 2 Praxis der Schuldbekenntnisse und ihre Deutung 3 Praxis in China 4 Einzelnachweise 5 Literatur 6 WeblinksBegriffsgeschichte BearbeitenIn der sowjetischen Propagandasprache ist der Begriff erst seit dem 15 Parteitag der KPdSU Dezember 1927 nachweisbar Er war zunachst kein philosophischer Terminus sondern nur als Schlagwort Teil einer populistischen Kampagne in deren Verlauf Stalin die einfachen Arbeiter dazu aufforderte von unten her an vermeintlich korrupten Funktionaren Kritik zu uben Die Vorsilbe selbst bezog sich ursprunglich nicht auf den einzelnen Kritiker sondern auf das Proletariat welches sich dadurch kollektiv selbst kritisierte Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kritik und Selbstkritik zum philosophischen Prinzip des Marxismus Leninismus erhoben und auf die Dialektik Hegels zuruckgefuhrt Dabei wurden Kritik und Selbstkritik in Abgrenzung zur destruktiven Kritik die dem Klassenfeind zugewiesen wird als konstruktive fachliche politische oder wissenschaftliche Auseinandersetzung definiert In den folgenden Jahrzehnten kam es noch mehrmals zu Wellen der Selbstkritik Die in den 1980er Jahren von Michail S Gorbatschow unter dem Schlagwort Glasnost gefuhrte Kampagne stand in dieser Tradition 1 Praxis der Schuldbekenntnisse und ihre Deutung BearbeitenIn den 1930er Jahren wurde daraus an die Mitglieder der Kommunistischen Partei wie auch anderer sowjetischer Kollektive die Forderung abgeleitet sich wahrend der regelmassig stattfindenden Versammlungen gegenseitig zu kritisieren Solche Versammlungen wurden haufig protokolliert und die dort geausserten gegenseitigen Anschuldigungen konnten Sanktionen nach sich ziehen Ruckversetzung in den Status des Parteikandidaten Pflicht zur gesellschaftlichen Arbeit berufliche Nachteile Der Historiker und Schriftsteller Wolfgang Leonhard beschreibt wie sich bei Kritik und Selbstkritik die Vorwurfe von tatsachlichen Ausserungen des Kritisierten losten und seine angebliche Gesinnung auf spekulative Weise thematisierten Harmlose nebensachliche vollig unpolitische Ausspruche wurden ins Riesenhafte vergrossert und verzerrt so dass charakterliche Eigenschaften und politische Konzeptionen erkennbar schienen Danach wurden diese nie formulierten politischen Konzeptionen mit ebenfalls nie ausgefuhrten politischen Handlungen gleichgesetzt und schliesslich die grauenhaften Konsequenzen vor Augen gefuhrt Wolfgang Leonhard Die Revolution entlasst ihre Kinder Frankfurt a M Berlin Wien 1974 Orig 1955 S 184 Offentliche BeichteAutoren wie Klaus Georg Riegel Oleg Charchordin und Berthold Unfried fuhren die Selbstkritik in der einen oder anderen Form auf die christliche Beichte zuruck Fur Klaus Georg Riegel gehoren offentliche Schuldbekenntnisse Kritik und Selbstkritik zum wichtigsten Kontrollinstrumentarium uber das revolutionare und religiose Virtuosengemeinschaften Max Weber verfugen Das offentliche Gestandnis von Verfehlungen gegen die Werte und Normen der Glaubensgemeinschaft umfasst a das Bekenntnis der eigenen Schuld b die Unterwerfung unter die jeweilige Sanktionsinstanz und c die Bereitschaft die verhangten Bussleistungen zu ubernehmen Die bestandige Selbstreinigung des revolutionaren Ordens so N Bucharin 1922 dient als Lauterungsritus der auf das innere Selbst des erlosungswilligen Glaubensgenossen zielt die Gewissenserforschung selbst zu ubernehmen und bereit zu sein die begangenen Verfehlungen freiwillig den Kontrollinstanzen der Gemeinschaft mitzuteilen Es geht wie G Lukacs schon 1920 forderte um eine moralische Wandlung Es geht um die Wiedergeburt des Neuen Menschen welche die Vernichtung der vormaligen Biographie voraussetzt Dabei wird das offentliche Schuldbekenntnis als rituelles Drama der individuellen Selbstbezichtigung und der kollektiven Bestrafung der Lauterung und symbolischen Reinigung der Glaubensgemeinschaft nach institutionell festgelegten Regeln inszeniert Offentliche Schuldbekenntnisse sollen letztlich die in Virtuosengemeinschaften strukturell verankerte Unsicherheit uber das Ausmass an Glaubenstreue Hingabebereitschaft und Gehorsamspflicht ihrer Mitglieder vermindern Laut Oleg Charchordin stand dabei die gegenseitige offentliche Beschuldigung im Vordergrund nicht das individuelle Schuldbekenntnis gegenuber einer Vertrauensperson Die Praxis individueller Schuldbekenntnisse habe nur bei Kommunisten westeuropaischer Herkunft existiert was auf die unterschiedlichen Beicht und Reuepraktiken der westlichen katholischen und ostlichen griechischen bzw russisch orthodoxen Kirchen zuruckzufuhren sei 2 Berthold Unfried betrachtet die Selbstkritik ebenfalls als ein der offentlichen Beichte verwandtes Ritual und als Konzept gegenseitiger Uberwachung unter Gleichen hebt dabei aber im Gegensatz zu Charchordin die Bedeutung individueller Schuldbekenntnisse deutlich hervor Oft seien die Anklagen und Selbstbezichtigungen allerdings Inszenierungen von Seiten einer hoheren Instanz gewesen 3 Politische WillensbildungIm Gegensatz zu Unfried Riegel und Charchordin bestreitet Lorenz Erren jegliche Verwandtschaft zu christlichen Beicht Buss und Reuepraktiken und fuhrt die Entstehung der Selbstkritik auf eine spezifisch stalinistische Form der politischen Willensbildung zuruck die einen ursprunglich demokratischen Abstimmungsmechanismus in Geiselhaft genommen habe Laut Erren vermochte Stalins Mehrheitfraktion wahrend der 1920er Jahre unter Berufung auf das erst 1921 eingefuhrte Fraktionsverbot ihren Anspruch durchzusetzen bei allen innerparteilichen Abstimmungen einstimmige Zustimmung zu erhalten Abweichler die mit Nein stimmten oder sich der Stimme enthielten insbesondere die Anhanger Trotzkis wurden ausnahmslos vor die Wahl gestellt sich entweder nachtraglich doch noch dem stalinistischen Mehrheitsvotum anzuschliessen oder aus der Partei ausgeschlossen zu werden Laut Erren hatten innerhalb der stalinistischen KPdSU ahnliche Mechanismen gewirkt wie in manchen demokratischen Parteien westlicher Staaten Hier wie dort existiere ein Konformitatsdruck Fraktionszwang der es Parteifuhrern ermogliche aus ihren Anhangern einen stets monolithisch auftretenden Block zu formen 4 Laut Erren entwickelte sich die stalinistische Praxis der politischen Schuldbekenntnisse infolge dieses durch polizeiliche Repressionsmassnahmen verstarkten Konformitatsdrucks aber vollkommen unabhangig vom Begriff der Kritik und Selbstkritik oder sogar im Gegensatz zu ihm Nicht die bolschewistische Parteielite sondern erst andere Gruppen wie Schriftsteller Kunstler und deutsche Asylanten missverstanden laut Erren den Begriff der Selbstkritik als Aufforderung sich in eigener Person selbst zu kritisieren nicht nur fur politische Abweichungen sondern auch fur Sunden in der alltaglichen Lebensfuhrung Alkoholmissbrauch sexuelle Promiskuitat etc Auch die Idee einen neuen Menschen heranzuzuchten habe unter Stalin keine nennenswerte Rolle gespielt 5 Praxis in China BearbeitenDie in der Kommunistischen Partei Chinas geubte Praxis weicht von der sowjetischen erheblich ab Der Gedanke der moralischen Vervollkommnung Uberwindung des alten egoistischen kleinburgerlichen Ich scheint hier eine weitaus grossere Rolle gespielt zu haben was in Kampf und Kritiksitzungen mundete Kritik und Selbstkritik lautet auch das 27 Kapitel der Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung Einzelnachweise Bearbeiten Lorenz Erren Selbstkritik und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin 1917 1953 Munchen 2008 Oleg Charchordin The Collective and the Individual in Russia A Study of Practices Berkeley 1999 Berthold Unfried Ich bekenne katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik Campus Verlag Frankfurt am Main u a 2006 ISBN 3 593 37869 8 Siehe auch Getty John Arch The road to terror Stalin and the self destruction of the Bolsheviks 1932 1939 Yale Univ Press New Haven 1999 Lorenz Erren Selbstkritik und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin 1917 1953 Munchen 2008 Literatur BearbeitenLorenz Erren Selbstkritik und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin 1917 1953 Munchen 2008 ISBN 978 3 486 57971 0 John Arch Getty The road to terror Stalin and the self destruction of the Bolsheviks 1932 1939 Yale Univ Press New Haven 1999 Oleg Charchordin The Individual and the Collective in Russia A Study of Practices Berkeley 1999 Klaus Georg Riegel Konfessionsrituale im Marxismus Leninismus Herkunft und Zukunft Bd 7 Styria Graz u a 1985 ISBN 3 222 11601 6 Klaus Georg Riegel Rituals of Confession within Communities of virtuosi An Interpretation of the Stalinist Criticism and Self criticism in the Perspective of Max Weber s Sociology of Religion In Totalitarian Movements and Political Religions 1 2000 S 16 42 Brigitte Studer und Berthold Unfried Der stalinistische Parteikader Identitatsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreissiger Jahre Bohlau Koln 2001 ISBN 3 412 09101 4 Berthold Unfried Ich bekenne katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik Studien zur historischen Sozialwissenschaft Bd 31 Campus Verlag Frankfurt am Main u a 2006 ISBN 3 593 37869 8 Weblinks BearbeitenLorenz Erren Selbstkritik und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin In Vorschau auf GoogleBooks Abgerufen am 16 April 2011 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kritik und Selbstkritik amp oldid 234500861