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Eine Assistenzgenossenschaft ist ein genossenschaftlich organisierter ambulanter Pflegedienst Seit Anfang der 1990er sind Assistenzgenossenschaften aus der Independent living Bewegung hervorgegangen Das heisst sie wurde von Menschen mit Behinderung fur Menschen mit Behinderung gegrundet um ein selbstbestimmtes Leben zu ermoglichen Assistenzgenossenschaften organisieren Personliche Assistenz fur korperbehinderte Personen die einen hohen vielschichtigen und nur begrenzt planbaren Unterstutzungsbedarf haben Im Gegensatz zu herkommlichen Pflegediensten sind die Menschen mit Behinderung nicht nur Kunden sondern lenken und kontrollieren uber die Generalversammlung der Genossenschaft die Arbeit des eigenen Pflegedienstes Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte der Assistenzgenossenschaften in Deutschland 1 1 1970er fehlende Teilhabemoglichkeiten 1 2 1980er In Bremen grundet sich die erste Kruppelgruppe 1 3 Selbstbestimmt Leben Zentren und Vernetzung uber Zeitschriften 1 4 Inspiration aus Schweden und Argumente fur die Genossenschaftsidee 1 5 Grundung der Genossenschaften 2 Aufbau und Organisation 3 Rezeption 3 1 Fachdiskurse 3 1 1 Disability Studies 3 1 2 Genossenschafts und Sozialforschung 3 2 Auszeichnungen 3 3 Recht auf Assistenz vs Arbeitnehmerrechte 4 Weblinks 5 EinzelnachweiseGeschichte der Assistenzgenossenschaften in Deutschland Bearbeiten1970er fehlende Teilhabemoglichkeiten Bearbeiten Die Geschichte der Assistenzgenossenschaften ist eng mit der Geschichte der Behindertenbewegung verwoben Seit den 70er Jahren organisierten sich behinderte Menschen forderten Partizipationsmoglichkeiten und stritten fur ihr Recht ein selbstbestimmtes Leben zu fuhren Menschen mit Korperbehinderung war bis dahin eine Beteiligung am offentlichen Leben kaum moglich Wenn sie nicht bei ihren Familien lebten waren sie in Anstalten und Heimen untergebracht die sie selbstandig nicht verlassen konnten Die verkehrstechnische und bauliche Infrastruktur verhinderte dass Menschen mit Behinderung am offentlichen Leben teilnehmen konnten Inklusion existierte so gut wie gar nicht So konnte beispielsweise einer der Mitbegrunder der Hamburger AssistenzGenossenschaft Gerlef Gleiss seine Schullaufbahn nicht beenden da er nach einem Unfall mit resultierender Querschnittslahmung als 17 Jahriger keine Schule fand die bereit war ihn zu unterrichten 1980er In Bremen grundet sich die erste Kruppelgruppe Bearbeiten Gegen diese Zustande wehrten sich Betroffene indem sie durch offentlichkeitswirksame Aktionen und Demonstrationen auf die Diskriminierung aufmerksam machten und sich wie in Bremen gegen Ende der 70er Jahre in Kruppelgruppen organisierten Es kam zudem zu Protestaktionen in Rathausern und Blockaden des OPNV um auf die mangelnden Moglichkeiten der Mobilitat behinderter Menschen aufmerksam zu machen Eine der offentlichkeitswirksamsten Aktionen war 1981 der Schlag mit der Krucke des Bremer Aktivisten Franz Christoph gegen das Schienbein des Bundesprasidenten Carstens Unter dem Motto jedem Kruppel seinen Knuppel und keine Reden keine Aussonderung keine Menschenrechtsverletzungen hatten sich behinderte Aktivisten auf der Buhne der Westfalenhalle angekettet auf welcher Carstens eine Rede halten sollte 1 Selbstbestimmt Leben Zentren und Vernetzung uber Zeitschriften Bearbeiten Ziel war es aber nicht nur neue Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen zu erstreiten sondern auch sich gegenseitig zu unterstutzen diese Rechte auch umsetzen zu konnen Die Betroffenen grundeten Mitte der Achtziger Jahre Zentren fur selbstbestimmtes Leben wie den Verein Autonom Leben e V in Hamburg oder SelbstBestimmt Leben e V in Bremen In diesen selbstorganisierten Beratungsstellen ging es neben einem politisch aktionistischen Ansatz auch um die Peer Beratung wie selbstbestimmtes Leben umgesetzt werden kann Zeitgleich vernetzten sich Menschen mit Behinderung nicht nur uber den Austausch in den lokalen Gruppen sondern auch uberregional z B durch selbstverlegte Zeitschriften Kruppelzeitung Randschau LOS und andere Dort wurden auch ganz praktische Fragen diskutiert z B wie ein Leben mit Personlicher Assistenz organisiert werden sollte oder welche Unterstutzungsangebote fur Behinderte es in anderen Landern gibt 2 Inspiration aus Schweden und Argumente fur die Genossenschaftsidee Bearbeiten Eine wichtige Inspirationsquelle fur die Idee sich Assistenz uber eine Genossenschaft selbst zu organisieren war die STIL in Schweden die bereits 1984 die Arbeit aufnahm 3 Der Mitgrunder der ersten Kruppelgruppe Deutschlands Horst Frehe argumentierte 1990 in der osterreichischen Behindertenzeitung LOS fur die Organisationsform der Genossenschaft da nur so dauerhaft gesichert sei dass die Entscheidungsmacht bei den Behinderten bliebe und die Selbstbestimmt Leben Zentren als unabhangige kritische Instanz nicht mit der Assistenzgenossenschaft verwoben wurden Zugleich grenzte sich Frehe von dem verbreiteten Modell der ambulanten Dienste ab 4 Ahnlich argumentierte Swantje Kobsell 1993 in der Randschau zur Motivation die Organisationsform der Genossenschaft zu wahlen Auf der Suche nach einer Organisationsform die die grosstmogliche Einflussnahme und Kontrolle seitens der Assistenznehmerinnen sicherstellen sollte stiessen wir auf die Organisationsform der Genossenschaft In einer Genossenschaft haben alle Genossinnen dasselbe Stimmrecht Genossin wird man frau indem ein Genossenschaftsanteil gezeichnet und gezahlt wird Indem die als Genossinnen organisierten Assistenznehmerinnen auch finanziell an der Genossenschaft beteiligt sind wenn auch nur mit einer relativ geringen Summe identifizieren sie sich noch starker damit als bei einem Verein und sind da ruber auch am Erfolg bzw Werdegang der Assistenzgenossenschaft beteiligt Daneben ist aber auch eine Beteiligung der Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen der Organisation der Genossenschaft von grosser Bedeutung Durch die Organe der Genossenschaft Generalversammlung Aufsichtsrat und Vorstand kann von den als Genossinnen organisierten Assistenznehmerinnen ein entscheidender Einfluss auf die Tatigkeit der Genossenschaft ausgeubt werden Im Statut ist festgelegt dass bestimmte Entscheidungen uber Art Ausrichtung und Durchfuhrung der Assistenzleistungen in einer Assistenznehmerlnnenversammlung beraten und dem Vorstand und Aufsichtsrat vorgeschlagen werden So ist die optimale Angebotskontrolle durch die Konsumentinnen sichergestellt 5 Grundung der Genossenschaften Bearbeiten Im deutschsprachigen Raum existieren zur Zeit 2022 drei Assistenzgenossenschaften Mit der Assistenzgenossenschaft Bremen wurde 1990 die erste Assistenzgenossenschaft in Deutschland von Aktivisten aus dem Verein SelbstBestimmt Leben e V gegrundet 1993 folgte in Hamburg die Grundung der Hamburger AssistenzGenossenschaft welche 1994 ihre Arbeit aufnahm Sie wurde von behinderten Menschen aus dem Umfeld des Selbsthilfevereins Autonom Leben e V gegrundet In Osterreich schlossen sich 2002 elf Frauen und Manner mit Behinderung zur Wiener Assistenzgenossenschaft zusammen 2006 wurde eine weitere Geschaftsstelle in St Polten eroffnet und die Wiener Assistenzgenossenschaft wurde zur WAG Assistenzgenossenschaft welche heute in Wien Niederosterreich und dem Burgenland tatig ist Aufbau und Organisation BearbeitenGenosse kann in der Regel werden wer mit den Zielen der Genossenschaft ubereinstimmt und durch den Vorstand der Genossenschaft aufgenommen wird Das heisst nicht alle Klienten einer Assistenzgenossenschaft sind zwangslaufig Mitglied der Genossenschaft Die Generalversammlung der Genossen bestimmt den Aufsichtsrat und den geschaftsfuhrenden Vorstand der Genossenschaft Assistenzgenossenschaften sind gemeinnutzig Sie dienen dem Gemeinwohl und sind steuerbegunstigt Die Mittel der Genossenschaft durfen nur fur die satzungsgemassen Zwecke verwendet werden Es mussen keine Gewerbe und Korperschaftssteuern an das Finanzamt abgefuhrt werden Gemeinnutzigkeit bedeutet auch dass die Mitglieder der Genossenschaft von den Tatigkeiten der Genossenschaft wirtschaftlich nicht profitieren Sie erhalten keine Gewinnanteile und auch keine sonstigen Zuwendungen aus Mitteln der Genossenschaft 6 Rezeption BearbeitenFachdiskurse Bearbeiten Disability Studies BearbeitenDie Grundung und der Betrieb einer Assistenzgenossenschaft wird heute ruckblickend von den Menschen aus der Behindertenbewegung bzw Wissenschaftlern die sich mit der Geschichte der Behindertenbewegung beschaftigen als Teil eines Prozesses der Institutionalisierung und Pragmatisierung 7 beschrieben und zugleich als Erfolg der Bewegung auf dem Weg zur Selbstbestimmung interpretiert 8 Der Behindertenaktivist Jurist und MdL Andreas Jurgens schrieb 1994 Zuruckblickend auf die uber 10 Jahre meines Engagements entwickelte sich so manche Idee und Vorgehensweise weswegen wir anfangs als radikal und traumerisch gebrandmarkt wurden zusehends zum breiten Konsens so dass die Traumerinnen von fruher mittlerweile zu wichtigen Gestalterinnen und Trendsettern der heutigen Behindertenpolitik geworden sind deren Ideen und Begriffe sogar die traditionellen Krafte der Behindertenhilfe Zusehens aufgreifen Sei es die Zuganglichmachung des offentlichen Nahverkehrs fur den wir mit Demonstrationen und Blockaden kampfen der Aufbau von Ambulanten Diensten und Assistenzgenossenschaften die Entwicklung von Zentren fur selbstbestimmtes Leben und das Modell der Personlichen Assistenz oder die Forderung nach Gleichstellungsgesetzen so sind dies Trends deren Forderungen langst nicht alle aus der Bewegung erfullt sind die aber entscheidend von uns engagierten Behinderten vor Ort gepragt wurden 9 Genossenschafts und Sozialforschung Bearbeiten Die Etablierung der Assistenzgenossenschaft hat nicht nur im Bereich der Behindertenbewegung und der Disability Studies fur Beachtung gesorgt Ausserhalb der Szene und regionaler Berichterstattung in Medien wurde vor allem in Fachpublikationen um die Themen Genossenschaftswesen Sozialstaatlichkeit und Pflegewissenschaften das Modell der Assistenzgenossenschaften mit Interesse verfolgt Die Literatur uber Genossenschaften fasst die Assistenzgenossenschaften dabei unter den Bereich der Sozialgenossenschaften bzw genauer Patientengenossenschaften welche z B auch im Bereich der Altenpflege existieren und hebt hervor wie das Genossenschaftsmodell die Autonomie der Patienten fordert 10 11 Des Weiteren gelange es dem Sozialwissenschaftler Timm Kunstreich zufolge durch das Genossenschaftsmodell die Rechte behinderter Menschen in besondere Form zu sichern und zu einer Normalisierung von Behinderungen beizutragen Weitere Praxisbeispiele derartiger Sozialgenossenschaften finden sich im Bereich des selbstbestimmten Lebens im Alter und in der Selbstorganisation von Behinderten Bekannte Beispiele sind die Bremer Behindertengenossenschaft sic und die Hamburger Assistenzgenossenschaft Entstanden aus der Kritik an der Anstalt in grosser wie in kleiner Form lauft ihr Grundgedanke darauf hinaus das was Behinderte fur ihr alltagliches Leben brauchen gemeinschaftlich zu organisieren und ggf kollektiv einzukaufen Diese Praxis der Normalisierung lasst sich als Praxis der Sicherung umfassender Burgerrechte verstehen geht es doch bei diesem Verstandnis von Normalisierung nicht darum den einzelnen behinderten Menschen an eine herrschende Normalitat anzupassen was vollstandig nie gelingen kann und die Stigmatisierung verstarkt sondern umgekehrt Behinderten die Moglichkeiten in die Hand zu geben ihr Leben so zu gestalten wie das alle tun 12 Auszeichnungen Bearbeiten Die Hamburger AssistenzGenossenschaft wurde im Dezember 1999 mit dem Senator Neumann Preis der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet Sie erhielt die Ehrung fur ihr Konzept der Personlichen Assistenz das behinderten Menschen ein weitgehend eigenstandiges Leben in der Gesellschaft ermoglicht 13 Recht auf Assistenz vs Arbeitnehmerrechte Bearbeiten Wie bei vielen Anbietern von Personlicher Assistenz kam es beim sogenannten Scheissstreik im Jahr 2010 auch in den Assistenzgenossenschaften zu einer offentlich gefuhrten Auseinandersetzung mit den Arbeitnehmern in der Personlichen Assistenz Assistenzgebende Hintergrund war und ist die Fragestellung wie das Recht auf Personliche Assistenz das von den Assistenzgebenden eine hohe Flexibilitat verlangt mit den Arbeitnehmerrechten vereinbar ist sowie Forderungen nach einer Anerkennung des Berufsbildes der Personlichen Assistenz Forderung nach hoheren Lohnen und mehr gewerkschaftliches Engagement fur die Beschaftigten in der Assistenz 14 Weblinks Bearbeitenonline Archiv mit Zeitschriften der Behindertenbewegung Website der AG Bremen Website der HAG Website der WAG Website mit einigen Bildern aus wichtigen Momenten der deutschen BehindertenbewegungEinzelnachweise Bearbeiten Swantje Kobsell Towards Self Determination and Equalization A Short History of the German Disability Rights Movement In Disability Studies Quarterly Band 26 Nr 2 2006 researchgate net Die Randschau Nr 1 93 1993 Ratzka Adolf 2002 11 Die Schwedische Assistenzreform von 1994 Beitrag zur Podiumsdiskussion in Wurzburg 21 November 2002 Abgerufen am 27 Mai 2022 Horst Frehe Thesen zur Assistenzgenossenschaft In LOS Nr 26 Linz 1990 S 37 uibk ac at PDF Swantje Kobsell Assistenzgenossenschaft Bremen die etwas andere Art Assistenz fur Menschen mit Beeintrachtigung zu organisieren In Die Randschau Zeitschrift fur Behindertenpolitik Nr 1 93 1993 S 8 Satzung der HAG Abgerufen am 10 Juni 2022 Swantje Kobsell 50 behindertenbewegte Jahre in Deutschland Abgerufen am 12 Mai 2022 Christian Murner Udo Sierck Der lange Weg zur Selbstbestimmung Ein historischer Abriss In Theresia Degener Elke Diehl Hrsg Handbuch Behindertenrechtskonvention Teilhabe als Menschenrecht Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe Bundeszentrale fur politische Bildung 2015 ISBN 978 3 8389 0506 8 S 34 bpb de PDF Andreas Jurgens Behinderte in die Parlamente In Die Randschau Zeitschrift fur Behindertenhilfe Nr 2 94 1994 S Beilage Selbstbestimmt leben konkret 2 Elke Schlagintweit Empowerment zwischen Markt und Staat Genossenschaften als Instrument der Patientenautonomie In M Algeier Hrsg Solidaritat Flexibilitat Selbsthilfe VS Verlag fur Sozialwissenschaften 2011 ISBN 978 3 531 17598 0 S 89 Nicole Goler von Ravensburg Michaela Rober Burgerengagement Verbraucher und Patientengenossenschaften im Gesundheitswesen In Wolfgang George Hrsg Regionales Zukunftsmanagement Band 1 Gesundheitsversorgung 2007 ISBN 978 3 89967 413 2 S 167 researchgate net PDF Timm Kunstreich Klientin Kundin Nutzerin Genossin In Die Produktivitat des Sozialen den sozialen Staat aktivieren VS Verlag fur Sozialwissenschaften 2006 ISBN 978 3 531 90442 9 S 251 Sandra Wilsdorf Der Preis des Preises In Die Tageszeitung taz 5 Mai 2000 ISSN 0931 9085 S 22 taz de abgerufen am 10 Juni 2022 Gerlef Gleiss Selbstbestimmung Personliche Assistenz und die Arbeiterrechte In Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Behinderung ohne Behinderte Perspektiven der Disability Studies 19 April 2010 zedis ev hochschule hh de Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Assistenzgenossenschaft amp oldid 236143483